Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Vater Damien Modeste sich ganz in den Dienst seines geliebten Stammes der Ojibwe im abgelegenen Reservat Little No Horse gestellt. Nun da sein Leben zu Ende geht, muss er fürchten, dass das große Geheimnis seines Lebens doch noch ans Licht kommen könnte: er ist in Wahrheit eine Frau. In ihrem bislang nichts ins Deutsche übertragenen Meisterwerk erkundet Louise Erdrich das Wesen der Zeit und den Geist einer Frau, die sich gezwungen fühlte, sich selbst zu verleugnen, um ihrem Glauben dienen zu können. Ein Buch mit Herz, großartig erzählt. »Lustig und elegisch, absurd und tragisch.« New York Times
buecher-magazin.deFather Damien Modeste ist über 100 Jahre alt, als er erkennen muss, dass sein Leben zu Ende geht – und damit auch sein Geheimnis ans Licht kommen wird: Er ist eigentlich eine Frau. Dann bekommt er Besuch von einem Vertreter des Vatikans, der überprüfen will, ob die verstorbene Schwester Leopolda des Heiligenstandes würdig ist. Also beginnt er, von seinem Leben und seiner Arbeit im Ojibwe-Reservat Little No Horse zu erzählen, in dem auch Schwester Leopolda gewirkt hat. Schon in dieser Ausgangssituation ist die Verbindung aus Katholizismus und dem Glauben der Natives angelegt. Für Damien ist der Glaube Verzweiflung und Hoffnung und er bringt ihm mindestens drei Leben: als Nonne, als Geliebte eines Farmers und schließlich als Father Damien. Leider ist Pauline Puyat, die spätere Schwester Leopolda, im Vergleich zu allen anderen Figuren blass und eindimensional – die Verrückte, die sich als Heilige maskiert, ist ein zu einfacher Griff. Insgesamt aber ist der Roman voller Lebensgeschichten, die gleichsam alltäglich wie magisch sind. Die Autorin vereint Leiden, blutige Prüfungen und Wunder, Mystizismus, Spiritualität und feministische Gedanken, durch die sie tief in die Welt der Ojibwe eintaucht.
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2019Grünliches Entsetzen
Das Grauen unter der Oberfläche des großen amerikanischen Traums prangert Louise Erdrich
in ihrem Roman nicht an, sie setzt es eher voraus. So auch in „Die Wunder von Little No Horse“
VON FELIX STEPHAN
Man macht sicher nichts falsch, wenn man von den Romanen der amerikanischen Schriftstellerin Louise Erdrich behauptet, sie handelten von amerikanischen Ureinwohnern. Die Bücher sind überwiegend in einem fiktionalen Reservat in North Dakota namens Ozhibi’iganan angesiedelt. Dort leben unter erbarmungswürdigen Bedingungen die Ojibwe, und einige von ihnen tauchen in Erdrichs Romanen und Erzählungen seit bald fünf Jahrzehnten immer wieder auf. Andererseits ist das Besondere an Louise Erdrichs Prosa gerade, dass sie zwar von Native Americans erzählt, auf eine sehr cartesianische Weise aber den ganzen Menschen zum Thema haben.
In den USA ist Erdrich mit allen wichtigen Preisen ausgezeichnet worden, doch obwohl fast alles von ihr übersetzt ist, ist Erdrich in Deutschland wenig bekannt. Was vielleicht damit zu tun hat, dass sie nicht in New York oder Los Angeles lebt, sondern in Minneapolis einen Buchladen betreibt, in den sich Journalisten selten verirren. Ganz in der Nähe wurde sie 1954 als Tochter eines deutschen Auswanderers und einer französisch-indianischen Mutter geboren, wuchs selbst in einem Reservat auf und studierte Literatur am renommierten Dartmouth College, im ersten Jahrgang, in dem es Frauen aufnahm.
Erdrich kennt also die Welt auf beiden Seiten der Reservatsgrenze aus eigener Anschauung, und dieses Doppelstudium macht auch ihre Romane aus. Die Naturreligion der Ojibwe kollidiert darin mit dem Christentum der europäischen Auswanderer, mit ihrem Individualismus, ihrer Psyche, ihrem Rationalismus. An der Grenze zum Reservat verlieren die Grundelemente der abendländischen Kultur ihre Selbstverständlichkeit, und von dieser Selbstauflösung handelt Erdrichs Prosa.
Mit fast zwanzigjähriger Verspätung erscheint jetzt Erdrichs Roman „Die Wunder von Little No Horse“ auf Deutsch, in dem Erdrich diese Kollision am Beispiel des katholischen Pfarrers Damien Modeste erzählt. Im Jahr 1912 bezieht Modeste ein kleines Zimmer in einer abgeschiedenen Gemeinde im Ozhibi’iganan-Reservat und findet dort vor allem Lehm, Wälder und ein paar Dutzend Ojibwe vor, für deren Seelenheil er fortan zuständig ist. Es gibt keine Elektrizität, keine Straßen, keine gemauerten Gebäude, nur Zelte, Holzverschläge und Schnee. Damien nimmt Kontakt auf zu den Einheimischen, lernt ihre Sprache, leistet Beistand, baut im Laufe der Jahrzehnte eine passable Gemeinde auf und ist ansonsten damit beschäftigt, sein Geheimnis zu hüten. Father Damien ist in Wirklichkeit eine Frau, die deutsche Nonne Agnes DeWitt, die am Anfang des Romans keinen anderen Ausweg sieht, als sich die Soutane überzustreifen, und sich an diesem verlassenen Ende der Welt als Priester auszugeben.
Falls einem diese Geschichte unglaubwürdig vorkommen sollte, empfiehlt Louise Erdrich in den Nachbemerkungen Diane Wood Middlebrooks Buch über den amerikanischen Jazz-Musiker Billy Tipton. Auch Tipton hatte sich sein Leben lang als Mann ausgegeben, war sogar mehrmals verheiratet, ohne dass sein Geheimnis gelüftet wurde.
Oft ist Erdrich vorgeworfen worden, dass ihre Sprache zu gütig und versöhnlich sei angesichts ihres Grundthemas, dem Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern. Und auch in diesem Roman erzählt sie die Geschichte der katholischen Missionierung nicht als aggressive Deformierung einer ursprünglichen Kultur. Der Katholizismus, der sich hier nach North Dakota verirrt, ist nicht dogmatisch, sondern selbst prekär. Der Reservatspriester ist eine tiefgläubige Frau, die in Sünde lebt. Und je länger Father Damien Modeste in dem Reservat arbeitet, desto stärker ergreifen die heidnischen Geister auch Besitz von ihm.
Einmal erscheint ihm ein sprechender Hund, mit dem er über seinen eigenen Tod verhandelt, ein andermal ist er plötzlich von Schlangen umringt, als er Schumanns „Kinderscenen“ auf dem Klavier spielt: „Es waren mindestens hundert. Nein, mehr. Wieder regte sich eine, rasch wie eine Peitsche. Eine andere sickerte vorwärts, und Agnes legte die Hände wieder auf die Tasten. Eine dritte erhob sich zu einem Fragezeichen, auf das Agnes mit einer sanften Barkarole antwortete, eine passende Wahl für Schlangen, wie sie fand.“
Jede neue Liebe, jede freundliche Lichtspiegelung findet bei Erdrich auf einem Massengrab statt, was diese Bücher allesamt eher voraussetzen als ausformulieren. Auch in „Little No Horse“ kommt es vor, dass eine Frau nach dem Tod ihres Mannes „in den Wald“ geht und Louise Erdrich das so schildert, als schließe sie sich dort Robin Hood an, und einem erst im Laufe der Erzählung aufgeht, dass diese Frau zu arm ist, um irgendwo anders zu leben als in einem selbst gebauten Holzverschlag. Dass eine Figur der letzte Vertreter ihres Klans ist, erfährt man bisweilen in einem Nebensatz. Und immer wieder tauchen Kinder in der Geschichte auf, von denen die Autorin taktvoll verschweigt, dass sie aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sind, als sei dem Leser dieses Detail nicht zuzumuten.
Dass sie den Massenmord an den amerikanischen Ureinwohnern nicht wie einen völkerrechtlichen Anwendungsfall diskutiert, liegt daran, dass sie ihn nicht als sühnefähiges Verbrechen versteht, das sich erzählerisch konkretisieren ließe. Sie behandelt das Ausmaß dieser Auslöschung eher als fundamentales Menschheitsrätsel, um das sich all ihre Texte drehen. Wie kommt es, dass angesichts der Millionen Toten nicht alle längst verrückt geworden sind? Wie verhält sich diese Tatsache zum Katholizismus, zum Puritanismus, zum amerikanischen Selbstbild als Nation des Aufbruchs und der Chancengleichheit?
Bevor sie angefangen hat, über die Ojibwe zu schreiben, hat Erdrich ihre Sprache gelernt, und auch darin liegt eine Qualität ihrer Prosa: Sie verbaut in ihrem Romanen die anekdotischen Formen, die mündlich weitergegebenen Geschichten, die mythische Naturphilosophie der Ojibwe. Jahrhundertelang ist das die einzige Sprache gewesen, in der North Dakota formuliert wurde, und Erdrichs Romane bringen zum Klingen, was davon noch übrig ist. Die Natur wird in dieser Sprache selbst zum Akteur, die Adjektive verlieren ihre lexikalische Bedeutung: „der teerige Dunst des Todes“, „die geräumige Süße ihrer frühen Begierde“, „das grünliche Entsetzen“.
Das Buch wird in zwei Zeitebenen erzählt. Einmal chronologisch und einmal im Rückblick aus dem Jahr 1996, als ein junger Geistlicher aus der nächsten Stadt die Reservatskirche aufsucht, um Berichten nachzugehen, eine Nonne habe dort Wunder vollbracht und müsse heilig gesprochen werden. Der junge Dogmatiker nimmt mit bürokratischem Ernst die Ermittlungen auf, unterhält sich einige Abende mit dem mittlerweile über hundertjährigen Father Damien Modeste und stürzt umgehend in eine Glaubenskrise. Als er Father Damien fragt, ob er das ernst meine, dass die Bekehrung zum Katholizismus nicht zwangsläufig Erlösung bedeute, wirkt Father Damien überrascht, dass man ihn das überhaupt fragte: „Oh nein, ich glaube, da haben wir uns geirrt“.
Louise Erdrich:
Die Wunder von Little No Horse.
Roman. Aus dem Englischen
von Gesine Schröder.
Aufbau Verlag, Berlin 2019.
509 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Das Grauen unter der Oberfläche des großen amerikanischen Traums prangert Louise Erdrich
in ihrem Roman nicht an, sie setzt es eher voraus. So auch in „Die Wunder von Little No Horse“
VON FELIX STEPHAN
Man macht sicher nichts falsch, wenn man von den Romanen der amerikanischen Schriftstellerin Louise Erdrich behauptet, sie handelten von amerikanischen Ureinwohnern. Die Bücher sind überwiegend in einem fiktionalen Reservat in North Dakota namens Ozhibi’iganan angesiedelt. Dort leben unter erbarmungswürdigen Bedingungen die Ojibwe, und einige von ihnen tauchen in Erdrichs Romanen und Erzählungen seit bald fünf Jahrzehnten immer wieder auf. Andererseits ist das Besondere an Louise Erdrichs Prosa gerade, dass sie zwar von Native Americans erzählt, auf eine sehr cartesianische Weise aber den ganzen Menschen zum Thema haben.
In den USA ist Erdrich mit allen wichtigen Preisen ausgezeichnet worden, doch obwohl fast alles von ihr übersetzt ist, ist Erdrich in Deutschland wenig bekannt. Was vielleicht damit zu tun hat, dass sie nicht in New York oder Los Angeles lebt, sondern in Minneapolis einen Buchladen betreibt, in den sich Journalisten selten verirren. Ganz in der Nähe wurde sie 1954 als Tochter eines deutschen Auswanderers und einer französisch-indianischen Mutter geboren, wuchs selbst in einem Reservat auf und studierte Literatur am renommierten Dartmouth College, im ersten Jahrgang, in dem es Frauen aufnahm.
Erdrich kennt also die Welt auf beiden Seiten der Reservatsgrenze aus eigener Anschauung, und dieses Doppelstudium macht auch ihre Romane aus. Die Naturreligion der Ojibwe kollidiert darin mit dem Christentum der europäischen Auswanderer, mit ihrem Individualismus, ihrer Psyche, ihrem Rationalismus. An der Grenze zum Reservat verlieren die Grundelemente der abendländischen Kultur ihre Selbstverständlichkeit, und von dieser Selbstauflösung handelt Erdrichs Prosa.
Mit fast zwanzigjähriger Verspätung erscheint jetzt Erdrichs Roman „Die Wunder von Little No Horse“ auf Deutsch, in dem Erdrich diese Kollision am Beispiel des katholischen Pfarrers Damien Modeste erzählt. Im Jahr 1912 bezieht Modeste ein kleines Zimmer in einer abgeschiedenen Gemeinde im Ozhibi’iganan-Reservat und findet dort vor allem Lehm, Wälder und ein paar Dutzend Ojibwe vor, für deren Seelenheil er fortan zuständig ist. Es gibt keine Elektrizität, keine Straßen, keine gemauerten Gebäude, nur Zelte, Holzverschläge und Schnee. Damien nimmt Kontakt auf zu den Einheimischen, lernt ihre Sprache, leistet Beistand, baut im Laufe der Jahrzehnte eine passable Gemeinde auf und ist ansonsten damit beschäftigt, sein Geheimnis zu hüten. Father Damien ist in Wirklichkeit eine Frau, die deutsche Nonne Agnes DeWitt, die am Anfang des Romans keinen anderen Ausweg sieht, als sich die Soutane überzustreifen, und sich an diesem verlassenen Ende der Welt als Priester auszugeben.
Falls einem diese Geschichte unglaubwürdig vorkommen sollte, empfiehlt Louise Erdrich in den Nachbemerkungen Diane Wood Middlebrooks Buch über den amerikanischen Jazz-Musiker Billy Tipton. Auch Tipton hatte sich sein Leben lang als Mann ausgegeben, war sogar mehrmals verheiratet, ohne dass sein Geheimnis gelüftet wurde.
Oft ist Erdrich vorgeworfen worden, dass ihre Sprache zu gütig und versöhnlich sei angesichts ihres Grundthemas, dem Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern. Und auch in diesem Roman erzählt sie die Geschichte der katholischen Missionierung nicht als aggressive Deformierung einer ursprünglichen Kultur. Der Katholizismus, der sich hier nach North Dakota verirrt, ist nicht dogmatisch, sondern selbst prekär. Der Reservatspriester ist eine tiefgläubige Frau, die in Sünde lebt. Und je länger Father Damien Modeste in dem Reservat arbeitet, desto stärker ergreifen die heidnischen Geister auch Besitz von ihm.
Einmal erscheint ihm ein sprechender Hund, mit dem er über seinen eigenen Tod verhandelt, ein andermal ist er plötzlich von Schlangen umringt, als er Schumanns „Kinderscenen“ auf dem Klavier spielt: „Es waren mindestens hundert. Nein, mehr. Wieder regte sich eine, rasch wie eine Peitsche. Eine andere sickerte vorwärts, und Agnes legte die Hände wieder auf die Tasten. Eine dritte erhob sich zu einem Fragezeichen, auf das Agnes mit einer sanften Barkarole antwortete, eine passende Wahl für Schlangen, wie sie fand.“
Jede neue Liebe, jede freundliche Lichtspiegelung findet bei Erdrich auf einem Massengrab statt, was diese Bücher allesamt eher voraussetzen als ausformulieren. Auch in „Little No Horse“ kommt es vor, dass eine Frau nach dem Tod ihres Mannes „in den Wald“ geht und Louise Erdrich das so schildert, als schließe sie sich dort Robin Hood an, und einem erst im Laufe der Erzählung aufgeht, dass diese Frau zu arm ist, um irgendwo anders zu leben als in einem selbst gebauten Holzverschlag. Dass eine Figur der letzte Vertreter ihres Klans ist, erfährt man bisweilen in einem Nebensatz. Und immer wieder tauchen Kinder in der Geschichte auf, von denen die Autorin taktvoll verschweigt, dass sie aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sind, als sei dem Leser dieses Detail nicht zuzumuten.
Dass sie den Massenmord an den amerikanischen Ureinwohnern nicht wie einen völkerrechtlichen Anwendungsfall diskutiert, liegt daran, dass sie ihn nicht als sühnefähiges Verbrechen versteht, das sich erzählerisch konkretisieren ließe. Sie behandelt das Ausmaß dieser Auslöschung eher als fundamentales Menschheitsrätsel, um das sich all ihre Texte drehen. Wie kommt es, dass angesichts der Millionen Toten nicht alle längst verrückt geworden sind? Wie verhält sich diese Tatsache zum Katholizismus, zum Puritanismus, zum amerikanischen Selbstbild als Nation des Aufbruchs und der Chancengleichheit?
Bevor sie angefangen hat, über die Ojibwe zu schreiben, hat Erdrich ihre Sprache gelernt, und auch darin liegt eine Qualität ihrer Prosa: Sie verbaut in ihrem Romanen die anekdotischen Formen, die mündlich weitergegebenen Geschichten, die mythische Naturphilosophie der Ojibwe. Jahrhundertelang ist das die einzige Sprache gewesen, in der North Dakota formuliert wurde, und Erdrichs Romane bringen zum Klingen, was davon noch übrig ist. Die Natur wird in dieser Sprache selbst zum Akteur, die Adjektive verlieren ihre lexikalische Bedeutung: „der teerige Dunst des Todes“, „die geräumige Süße ihrer frühen Begierde“, „das grünliche Entsetzen“.
Das Buch wird in zwei Zeitebenen erzählt. Einmal chronologisch und einmal im Rückblick aus dem Jahr 1996, als ein junger Geistlicher aus der nächsten Stadt die Reservatskirche aufsucht, um Berichten nachzugehen, eine Nonne habe dort Wunder vollbracht und müsse heilig gesprochen werden. Der junge Dogmatiker nimmt mit bürokratischem Ernst die Ermittlungen auf, unterhält sich einige Abende mit dem mittlerweile über hundertjährigen Father Damien Modeste und stürzt umgehend in eine Glaubenskrise. Als er Father Damien fragt, ob er das ernst meine, dass die Bekehrung zum Katholizismus nicht zwangsläufig Erlösung bedeute, wirkt Father Damien überrascht, dass man ihn das überhaupt fragte: „Oh nein, ich glaube, da haben wir uns geirrt“.
Louise Erdrich:
Die Wunder von Little No Horse.
Roman. Aus dem Englischen
von Gesine Schröder.
Aufbau Verlag, Berlin 2019.
509 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.2019Wie die Nonne zum Priester wird
Endlich übersetzt: Louise Erdrichs phantastischer Roman "Die Wunder von Little No Horse"
Louise Erdrich hat zwei Themen, die sich durch ihr literarisches Schaffen ziehen wie zwei ineinander verkordelte rote Fäden. Beides hat mit ihrer Biographie zu tun, denn die fünfundsechzigjährige vielfach preisgekrönte Schriftstellerin, die heute in Minneapolis lebt und dort unter anderem eine Buchhandlung führt, ist die Nachfahrin sowohl deutscher Auswanderer als auch der Chippewa. Erdrichs Großvater mütterlicherseits war Häuptling der Turtle Mountain Band. Der Vater ihres Vaters wiederum war ein schwäbischer Metzger, der 1922 mit einer Handvoll Wurstrezepten auf abenteuerlichen Wegen nach North Dakota gelangte.
Diesem Ludwig setzte Erdrich 2001 in "The Master Butchers Singing Club" ein fünfhundertseitiges Denkmal, das soeben unter dem Titel "Der Club der singenden Metzger" opulent fürs deutsche Fernsehen verfilmt wurde (F.A.Z. von gestern). Außerdem erstmals auf Deutsch erschienen ist vor kurzem - mit achtzehnjähriger Verspätung - Erdrichs großer Roman "The Last Report on the Miracles at Little No Horse" in der Übersetzung von Gesine Schröder. Es ist dies die autofiktionale, vielfach gespiegelte Geschichte des imaginären Indianerreservats Little No Horse, auf das die Autorin, die selbst in einem Reservat aufwuchs, auch in anderen Büchern immer wieder zurückkommt.
Schon bald nach Beginn der Lektüre erweist sich der dem Roman vorangestellte Stammbaum als hilfreich, denn die Verstrickungen innerhalb der verzweigten Familien Kashpaw, Morrissey und Mauser sowie der diversen Nebenlinien sind so vielfältig, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Im Kern all dieser oft tragischen, bisweilen auch komischen Mikroerzählungen aber geht es um das Aufeinandertreffen fremder Kulturen und Religionen. Der Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern ist dabei der unausgesprochene traumatische Untergrund von "Die Wunder von Little No Horse".
Alles beginnt mit Agnes DeWitt, einer jungen Frau, die zunächst als Nonne in einem Kloster lebt, ehe sie in einem Farmer einen Gefährten findet, der bald darauf ums Leben kommt. In der Folge der Ereignisse nimmt die trauernde Agnes eine neue Identität an, die Identität eines Mannes. Dies geschieht zunächst ganz ohne Absicht, eher aus einem unwägbaren Moment heraus streift sie die Soutane des verstorbenen Priesters Father Damien über, der sich gerade auf dem Weg zu seiner neuen Stelle als Missionar in "Little No Horse" befand. An seiner statt reist nun also die verkleidete Agnes dort an, und die eben noch lebensmüde Frau findet ausgerechnet durch diese Wendung, die sie fortan als biographische Lüge begreifen wird, die Bestimmung ihres Daseins.
Die Erzählung, die einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten umfasst, ist nicht chronologisch gehalten, sondern springt durch die Zeitenebenen hin und her, von der Ankunft des jungen Father Damien, als der Agnes empfangen wird, bis in dessen hohes Alter. Louise Erdrich lässt Agnes/Damien dabei mal aus männlicher und mal aus weiblicher Sicht erzählen. Nicht zuletzt in diesem Wechsel liegt der Schlüssel zum poetischen Programm dieses Romans. Denn indem Father Damien sich bis an sein Lebensende auch als Frau begreift und Agnes wiederum den Mann in sich fühlt, auch wenn er/sie alles tut, um die Maskerade zu verheimlichen, sogar der großen Liebe zu einem Mann entsagt, wird er/sie mithin gezwungenermaßen im Perspektivwechsel geübt. Und es ist diese Fähigkeit, die seine seelsorgerische Arbeit im Reservat so außergewöhnlich macht. So steht der Priester dem Missionieren immer skeptischer gegenüber, während er sich wie kaum sonst ein Weißer der indianischen Kultur, Sprache und Religion immer mehr annähert. Mit seinem Blick erleben wir die tägliche Missachtung der Ureinwohner, die von den Weißen betrogen, um ihr Land gebracht und deren Kinder in Internaten zwangsuntergebracht werden. Immer häufiger stellt Damien Praktiken wie etwa Zwangstaufen auch gegenüber der kirchliche Obrigkeit in Frage, während er zugleich aber auch den kirchlichen Auftrag zur Seligsprechung einer eifernden Konvertitin ins Leere laufen lässt.
Nicht alle Erzählstränge, die der Roman auswirft, kann der Leser wieder einfangen, nicht jede Wendung wird plausibel, und doch ist man bald schon gefesselt von diesem Geflecht aus so vielen Erzählungen, das von Fremdheit handelt, ohne je Gefahr zu laufen, dies als Exotismus darzustellen oder aber moralisch zu überhöhen. Da prallen zwei Welten aufeinander, in all ihrer Pracht und Herrlichkeit und ihren Verwerfungen. Die Geschichte allerdings hat nur einen Sieger hervorgebracht. Dem setzt Louise Erdrich eine alternative Erzählung entgegen, die sich wie in einem Kaleidoskop aus unendlich vielen Momenten, Szenen und Ereignissen zusammensetzt. Die Autorin nimmt damit dasselbe für sich in Anspruch wie ihre Agnes/Damien-Figur. Sie schaut auf das eine wie auf das andere - und lässt daraus etwas Neues entstehen, das die Herkunft nicht verleugnet.
Die Bewohner des Reservats wussten freilich schon lange, welches Geheimnis ihr Missionar über Jahrzehnte mit sich herumschleppte. Als dieser sich dann im hohen Alter doch noch zum Bekenntnis entschließt und den Papst um Vergebung bittet, findet dieses Schreiben zwar einen Leser, doch nicht in Rom. Gnade aber wurde gewährt.
SANDRA KEGEL
Louise Erdrich: "Die Wunder von Little No Horse".
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 509 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Endlich übersetzt: Louise Erdrichs phantastischer Roman "Die Wunder von Little No Horse"
Louise Erdrich hat zwei Themen, die sich durch ihr literarisches Schaffen ziehen wie zwei ineinander verkordelte rote Fäden. Beides hat mit ihrer Biographie zu tun, denn die fünfundsechzigjährige vielfach preisgekrönte Schriftstellerin, die heute in Minneapolis lebt und dort unter anderem eine Buchhandlung führt, ist die Nachfahrin sowohl deutscher Auswanderer als auch der Chippewa. Erdrichs Großvater mütterlicherseits war Häuptling der Turtle Mountain Band. Der Vater ihres Vaters wiederum war ein schwäbischer Metzger, der 1922 mit einer Handvoll Wurstrezepten auf abenteuerlichen Wegen nach North Dakota gelangte.
Diesem Ludwig setzte Erdrich 2001 in "The Master Butchers Singing Club" ein fünfhundertseitiges Denkmal, das soeben unter dem Titel "Der Club der singenden Metzger" opulent fürs deutsche Fernsehen verfilmt wurde (F.A.Z. von gestern). Außerdem erstmals auf Deutsch erschienen ist vor kurzem - mit achtzehnjähriger Verspätung - Erdrichs großer Roman "The Last Report on the Miracles at Little No Horse" in der Übersetzung von Gesine Schröder. Es ist dies die autofiktionale, vielfach gespiegelte Geschichte des imaginären Indianerreservats Little No Horse, auf das die Autorin, die selbst in einem Reservat aufwuchs, auch in anderen Büchern immer wieder zurückkommt.
Schon bald nach Beginn der Lektüre erweist sich der dem Roman vorangestellte Stammbaum als hilfreich, denn die Verstrickungen innerhalb der verzweigten Familien Kashpaw, Morrissey und Mauser sowie der diversen Nebenlinien sind so vielfältig, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Im Kern all dieser oft tragischen, bisweilen auch komischen Mikroerzählungen aber geht es um das Aufeinandertreffen fremder Kulturen und Religionen. Der Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern ist dabei der unausgesprochene traumatische Untergrund von "Die Wunder von Little No Horse".
Alles beginnt mit Agnes DeWitt, einer jungen Frau, die zunächst als Nonne in einem Kloster lebt, ehe sie in einem Farmer einen Gefährten findet, der bald darauf ums Leben kommt. In der Folge der Ereignisse nimmt die trauernde Agnes eine neue Identität an, die Identität eines Mannes. Dies geschieht zunächst ganz ohne Absicht, eher aus einem unwägbaren Moment heraus streift sie die Soutane des verstorbenen Priesters Father Damien über, der sich gerade auf dem Weg zu seiner neuen Stelle als Missionar in "Little No Horse" befand. An seiner statt reist nun also die verkleidete Agnes dort an, und die eben noch lebensmüde Frau findet ausgerechnet durch diese Wendung, die sie fortan als biographische Lüge begreifen wird, die Bestimmung ihres Daseins.
Die Erzählung, die einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten umfasst, ist nicht chronologisch gehalten, sondern springt durch die Zeitenebenen hin und her, von der Ankunft des jungen Father Damien, als der Agnes empfangen wird, bis in dessen hohes Alter. Louise Erdrich lässt Agnes/Damien dabei mal aus männlicher und mal aus weiblicher Sicht erzählen. Nicht zuletzt in diesem Wechsel liegt der Schlüssel zum poetischen Programm dieses Romans. Denn indem Father Damien sich bis an sein Lebensende auch als Frau begreift und Agnes wiederum den Mann in sich fühlt, auch wenn er/sie alles tut, um die Maskerade zu verheimlichen, sogar der großen Liebe zu einem Mann entsagt, wird er/sie mithin gezwungenermaßen im Perspektivwechsel geübt. Und es ist diese Fähigkeit, die seine seelsorgerische Arbeit im Reservat so außergewöhnlich macht. So steht der Priester dem Missionieren immer skeptischer gegenüber, während er sich wie kaum sonst ein Weißer der indianischen Kultur, Sprache und Religion immer mehr annähert. Mit seinem Blick erleben wir die tägliche Missachtung der Ureinwohner, die von den Weißen betrogen, um ihr Land gebracht und deren Kinder in Internaten zwangsuntergebracht werden. Immer häufiger stellt Damien Praktiken wie etwa Zwangstaufen auch gegenüber der kirchliche Obrigkeit in Frage, während er zugleich aber auch den kirchlichen Auftrag zur Seligsprechung einer eifernden Konvertitin ins Leere laufen lässt.
Nicht alle Erzählstränge, die der Roman auswirft, kann der Leser wieder einfangen, nicht jede Wendung wird plausibel, und doch ist man bald schon gefesselt von diesem Geflecht aus so vielen Erzählungen, das von Fremdheit handelt, ohne je Gefahr zu laufen, dies als Exotismus darzustellen oder aber moralisch zu überhöhen. Da prallen zwei Welten aufeinander, in all ihrer Pracht und Herrlichkeit und ihren Verwerfungen. Die Geschichte allerdings hat nur einen Sieger hervorgebracht. Dem setzt Louise Erdrich eine alternative Erzählung entgegen, die sich wie in einem Kaleidoskop aus unendlich vielen Momenten, Szenen und Ereignissen zusammensetzt. Die Autorin nimmt damit dasselbe für sich in Anspruch wie ihre Agnes/Damien-Figur. Sie schaut auf das eine wie auf das andere - und lässt daraus etwas Neues entstehen, das die Herkunft nicht verleugnet.
Die Bewohner des Reservats wussten freilich schon lange, welches Geheimnis ihr Missionar über Jahrzehnte mit sich herumschleppte. Als dieser sich dann im hohen Alter doch noch zum Bekenntnis entschließt und den Papst um Vergebung bittet, findet dieses Schreiben zwar einen Leser, doch nicht in Rom. Gnade aber wurde gewährt.
SANDRA KEGEL
Louise Erdrich: "Die Wunder von Little No Horse".
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 509 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das Grauen unter der Oberfläche des großen amerikanischen Traums prangert Louise Erdrich in ihrem Roman nicht an, sie setzt es eher voraus.« Felix Stephan Süddeutsche Zeitung 20191126