In diesem Buch geht es um die Vorstellung, die Könige Frankreichs und Englands könnten durch Berührung eine tuberkulöse Krankheit, die Skrofeln, heilen. In einem weitgespannten Überblick von der Antike bis zum 19. Jahrhundert untersucht Marc Bloch die mentalen Voraussetzungen, historischen Hintergründe und unterschiedlichen Ausprägungen des Glaubens an die Heilkraft der Könige und erschließt ihre historische - und politische - Bedeutung. Das Buch ist ein Klassiker der historischen Anthropologie geworden, ja eines der bedeutendsten Werke der modernen Geschichtswissenschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998Die frommen Könige und der Dienst an der friedlichen Wunderwaffe
Marc Blochs mirakulöses Meisterwerk / Von Ulrich Raulff
Sechs Jahre nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte ein noch junger Historiker an der Universität Straßburg ein Buch, das die meisten seiner Kollegen mit Kopfschütteln quittierten. Einige hingegen erkannten seinen Wert und lasen es mit Bewunderung. Mit den Jahren wuchs ihre Zahl, und heute gelten die "Rois thaumaturges" als herausragendes Werk der historiographischen Literatur, ebenbürtig dem "Herbst des Mittelalters" wenn nicht der "Kultur der Renaissance". Dabei ist Marc Blochs erstes bedeutendes Buch seiner Anlage nach den Epochenpanoramen Huizingas und Burckhardts ganz entgegengesetzt. Es berichtet von einer eher unbedeutend erscheinenden Geste, die den Historikern bis dahin wenig galt - eine "Anekdote", wie der Autor selbst einräumte. Dieses Detail allerdings, diese Geste verfolgen die "Wundertätigen Könige" in der langen Dauer von sechs, sieben Jahrhunderten und durch zwei europäische Nationalgeschichten hindurch. Danach ist aus einer Anekdote Geschichte geworden, große Geschichte.
Worum geht es? Im Zentrum der "Wundertätigen Könige" steht der Glaube an die wunderbare Macht der englischen und französischen Könige des Mittelalters und der Neuzeit, durch bloße Berührung ihrer Hand Kranke zu heilen, die an den Skrofeln litten. Ein Mirakel, das erheblich dazu beigetragen hat, den Glauben an die Sakralität dieser Monarchien zu fördern und zu festigen, und das sich erst an der Schwelle der politischen und gesellschaftlichen Moderne, im Säurebad der Aufklärung auflöste. Daß es sich bei diesem Phänomen tatsächlich um ein aussagekräftiges Detail einer großen Geschichte handelte, daran ließ der Verfasser keinen Zweifel. Wer die Entwicklung des Heilungswunders begriff, der hielt einen Schlüssel zur Geschichte der neuzeitlichen, christlichen Monarchie in der Hand. Ein Schlüssel, der die Tür zu den Arkana der europäischen Institutionen und den Grundlagen der Macht seit dem späteren Mittelalter öffnete. Dahinter saß der Gott der modernen Politik.
Der Autor eines Jahrhundertbuchs der wissenschaftlichen Literatur zu sein, ist kein leichtes Los. Von allen gekannt und in die Konversation gestreut, in halbrichtigen Zitaten überliefert, aber kaum je studiert zu werden, das ist hart. Am schlimmsten hat es vermutlich Ernst H. Kantorowicz getroffen, dessen "Zwei Körper des Königs" den Zitierindex der gelehrten Gemeinplätze anführen. Aber Marc Blochs "Rois thaumaturges" ist es nicht viel besser ergangen: Wer außerhalb der Kreise von Mediävisten und Mentalisten hat das bewunderte Meisterwerk von 1924 wirklich gelesen? Übersetzungen, sofern sie gelingen, vermögen dies Blatt zu wenden. Sie brechen die Hermetik der Rezeption und bescheren dem Werk Leser, mit denen der Autor nie rechnen und für die er füglich auch nicht schreiben konnte: die beste Voraussetzung für neue und überraschende Lektüre.
Doch nicht nur Bücher, auch Übersetzungen haben ihre Schicksale. Wären die "Rois thaumaturges" vor zwei Jahrzehnten ins Deutsche übertragen worden, sie wären von den einen als Pionierwerk der Historischen Anthropologie gefeiert worden (über der sich damals eben die Sonne der intellektuellen Konjunktur erhob), während die anderen das Fehlen von Wirtschaft und Gesellschaft der mittelalterlichen Welt beklagt hätten. Seither hat sich die Interessenlage gewandelt, und was die Kulturgeschichte an Ausstrahlung verloren, hat die politische Zeitgeschichte an Brisanz gewonnen. Wer jetzt ein Buch von 1924 in die Hand nimmt, das von politischem Wunderglauben und charismatischer Machtausübung handelt, wird Erwartungen an das Werk richten, die über die Kulturgeschichte im engeren Sinn hinausgehen. Den Leser am Ende des Jahrhunderts interessiert weniger das methodische Instrumentarium des Autors als dessen politisches Sensorium. Man ist nicht nur das Kind, man ist auch der Leser seiner Zeit.
Gewiß ist es noch immer reizvoll und wissenschaftsgeschichtlich aufschlußreich, sich auf die Suche nach den Bildungserlebnissen zu begeben, die den jungen Mediävisten empfänglich machten für sein eigentümliches Problem, die wunderbare Heilkraft der Kapetinger, Plantagenets und Tudors. Was brachte ihn dazu, seinen ursprünglichen Plan, das Ritual der Königsweihe zu untersuchen, um eines anscheinend kuriosen Epiphänomens willen fallenzulassen? Welche der vielen aufregenden Neuansätze im Wissen seiner Zeit, welche Ideen aus Ethnorechtshistorie und Symbolgeschichte, aus Anthropologie und Komparatistik, welche der Einsichten, die ihm Durkheims "Année Sociologique" vermittelten, schlugen die Funken, die Marc Blochs Forschungsfeuer entzündeten? War am Ende doch, wie Carlo Ginzburg vermutet, der Erste Weltkrieg der geistige Vater dieser Studie, die mit rationalem Eifer ein Mosaik des Irrationalen ausgrub? All diese Fragen verblassen heute in flackerndem Licht der Zeitgenossenschaft des Werks.
Wer sich in jenen Jahren, als diesseits des Rheins die Suche nach dem "Caesar mit der Seele Christi" einsetzte und Moeller van den Bruck den wahren Staatsmann als "Herrscher, Krieger und Priester zugleich" beschrieb, wer sich damals mit historischen Gestalten befaßte, die ähnlich wie Caesar geherrscht und wie Christus geheilt hatten, der mag etwas von der messianischen Erwartung gespürt haben, die in der Luft lag. Es scheint, als hätte der Lehrer im Seminar, der Forscher im Archiv den Schrei nach politischer Erlösung vernommen, der auf der Straße laut wurde, und ihn in einen historischen Fragenkatalog übersetzt. Besteht nicht die Kunst des Historikers darin, die eigene Zeit in Gedanken zu fassen und in Form von Fragen an die Geschichte zu richten?
Wann lassen sich die ersten Spuren des königlichen Heilungswunders dingfest machen? Bloch zufolge taucht das Phänomen zuerst im Frankreich der frühen Kapetinger auf; zwischen Robert dem Frommen, dem zweiten Kapetinger, und seinem Enkel Philipp I. nimmt es Gestalt an; etwa hundert Jahre später ist es auch in England nachweisbar. Für Bloch steht diese Erfindung des königlichen Heilvermögens seit dem elften Jahrhundert am Ende einer Reihe von Elementen, Insignien und Gesten, die seit der Salbung Pippins dem "Apparat" des sakralen Königtums eingefügt worden sind. Dazu gehören die Krönung (seit Karl dem Großen), das Szepter (erstmals bei Karl dem Kahlen) und schließlich die feierliche Weihe in Reims, die seit 1129 beziehungsweise 1131 vorgenommen wird. Das Heilungswunder wurde zum Mittel der dynastischen Politik der ersten Kapetinger, die sich - um ihrem Anspruch auf Erblichkeit der Krone gegen die alten Forderungen nach einem Wahlkönigtum durchzusetzen - vor der "dringendsten Aufgabe" sahen, sich "eine neue Legitimität zu verschaffen".
Ähnlicher Legitimationsbedarf führte, so Bloch, zur Einführung des Ritus in England: Die "Waffe des Wunders" wurde demnach erfunden von Dynastien, "in denen sich, entgegen dem alten germanischen Brauch, das Recht der Erstgeburt durchzusetzen begann". In allen großen Krisen, die die englische und die französische Monarchie in den folgenden Jahrhunderten durchmachen sollten, wurde diese Waffe wieder aufgegriffen und gegen die Feinde der Monarchie gewendet. Und natürlich spielte sie auch eine Rolle in dem Prestigestreit, der sich zwischen französischen und englischen Königen, zwischen Kapetingern und Plantagenets, entwickelte. Deutlich sah Bloch, daß es sich bei der königlichen Thaumaturgie um ein Element von Sakralisierungsstrategien handelte, die eine wesentliche Rolle bei der Konstitution des modernen Staats in Westeuropa gespielt hatte.
Blochs Datierung des Heilungswunders ist ebensowenig unwidersprochen geblieben wie seine eigentümliche Auffassung von dessen Genealogie. Jacques Le Goff, dessen vor fünfzehn Jahren verfaßtes Vorwort zu den "Wundertätigen Königen" man immer noch mit Gewinn liest, meint - gestützt auf die Forschungen Frank Barlows - Blochs Datierung des ersten Auftretens der königlichen Thaumaturgie in beiden behandelten Ländern um etwa ein Jahrhundert verschieben zu müssen: "Es kann heute als wahrscheinlich gelten, daß das königliche Ritual der Berührung der Skrofeln sowohl in Frankreich wie in England erst in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts zu einem ständigen Gebrauch geworden ist."
Was die Herkunft des Heilungswunders anbelangt, so weist Blochs Buch eine merkwürdige Doppelstrategie auf: Einerseits vermehrt es die möglichen (alttestamentarischen, christlichen und heidnischen) Ursprünge, andererseits vermeidet es jede Festlegung auf eine definitive Herleitung. Das rief bereits den Unmut von Percy Ernst Schramm hervor, der in seinem 1939 erschienenen "König von Frankreich", wie es seinerzeit opportun war, jene Komplexität unter Hinweis auf den angeblich sicheren Ursprung aus dem germanischen "Königsheil" beiseite wischte.
Dem "Götzen der Ursprünge" zu opfern war Blochs Sache nie, weder damals noch in späteren Schriften. Ihm ging es um etwas anderes: um den Zusammenhang zwischen dem Wunder und dem Glauben daran, zwischen den Legitimationsstrategien der Monarchien und der Bereitschaft ihrer Untertanen, solche Machtentfaltung gläubig hinzunehmen. Es ging ihm, wenn man so anachronistisch sagen darf, um die Frage der Anerkennungsdialektik. Oder besser, um die Voraussetzungen dafür, daß ein Wunder nicht nur inszeniert, sondern auch als eine Tatsache höherer Wirklichkeit geglaubt werden konnte.
Bloch betrachtet die vermeintlichen Heilungen und den Glauben an die Leistung der Könige schonungslos skeptisch, aber ohne jede Arroganz. So gelingt ihm die geradezu naturwissenschaftlich präzise Anatomie eines Wunders. Als Kompromißbildung von weltlichen und kirchlichen Machtansprüchen, volkstümlichen Legenden und Praktiken (die in das Königsritual Eingang fanden), veränderte das Heilungswunder immer wieder seinen Sinn und seine äußere Gestalt. Aber auch in der Geschichte gilt, das nur bleibt, was sich verändert - und dieses Wunder blieb lange.
Der Tonfall der "Wundertätigen Könige" ist kühl und passagenweise spöttisch. Was soll man davon halten, wenn Marc Bloch die ganze, unendlich komplizierte Geschichte, die er zuvor auf Hunderten von Seiten ausgebreitet hat, am Ende als schlichte, ein wenig lächerliche Fabel resümiert? "Gewisse Herrscher im kapetingischen Frankreich und im normannischen England", so beginnt er, "verfielen eines Tages auf den Gedanken - oder ihre Ratgeber taten dies für sie -, sich als Wunderheiler zu versuchen, um ihr auf wackligen Beinen stehendes Ansehen zu festigen. Selbst von der Heiligkeit überzeugt, die ihnen ihre Funktion und ihre Abstammung verliehen, hielten sie es wahrscheinlich für ganz einfach, eine solche Kraft zu beanspruchen. Man bemerkte, daß eine gefürchtete Krankheit manchmal nach der Berührung durch ihre Hände, die fast allgemein für geheiligt gehalten wurden, tatsächlich oder auch nur scheinbar verschwand. Wie hätte man hier nicht ein Verhältnis von Ursache und Wirkung erblicken sollen? Der Glaube an das Wunder wurde durch die Idee geschaffen, daß hier ein Wunder vorliegen müsse."
So ähnlich hätte die Analyse des historischen Sachverhalts auch lauten können, hätten Lawrence Sterne oder Georg Christoph Lichtenberg oder auch - da wir in Frankreich sind - Voltaire sie unternommen. In gewisser Weise trifft das sogar zu. Für jedes religiöse Phänomen gibt es nämlich, wie Bloch beiläufig bemerkt, "traditionell zwei Arten der Erklärung. Die eine kann man ,voltairisch' nennen." Sie sehe, so fährt er fort, in dem entsprechenden Phänomen die Wirkung eines bewußten Denkens und Wollens. Die andere Tradition bezeichnet Bloch als die "romantische", weil sie auf unbewußte Wirkkräfte baue und "tiefe Strömungen des kollektiven Bewußtseins" aufnehme. Seine gesamte Erforschung des königlichen Heilungswunders sucht sich beider Traditionen zu versichern, der "voltairischen" ebenso wie der "romantischen". Am Schluß freilich überwiegt die Stimme des aufklärerischen Spötters. Eine Reihe seiner Weggefährten und Schüler, von Lucien Febvre bis Jacques Le Goff, hat sich an diesem mokanten Ton gestört: Wie kann man ein Phänomen, von dem man selbst sagt, es sei "ein großes Wunder, das wahrscheinlich unter die berühmtesten, jedenfalls aber unter die dauerhaftesten Wunder der Vergangenheit zu rechnen ist", mit Fleiß entdecken und mit Leidenschaft erforschen, um es am Ende als "harmlosen kollektiven Irrtum" zu verspotten?
In Wahrheit nimmt Bloch das Heilungswunder vollkommen ernst. Das zeigt sich schon an der kritischen Erörterung aller möglichen medizinischen und psychosomatischen Erklärungen der Heilungen - sofern sie denn tatsächlich eingetreten waren. (Die Quellen behaupten es, und Bloch wird nicht müde, alle verfügbaren Zahlen vorzulegen und zu gewichten: So wird er - lange vor Pierre Chaunu und Michel Vovelle - zum ersten Historiker, der Mentalitäts- und Glaubensphänomene mit statistischen Mitteln zu erfassen sucht.) Es zeigt sich ferner in der geduldigen Nachzeichnung sowohl der liturgischen Fixierung des Ritus wie seiner Kontaminierung mit volkstümlichen Glaubensweisen und Bräuchen (die französische Legende von der Heilkraft der siebten Söhne oder der englische Gebrauch der cramp rings gegen Epilepsie). Vor allem aber erweist es sich an dem Platz, den Bloch - heimlich und von den meisten unbemerkt - der Thaumaturgie in der Geschichte des Werdens der französischen Nation zuweist.
Une certaine idée de la France, eine bestimmte Vorstellung von Frankreich hatte nicht nur der General de Gaulle, auch der Historiker Marc Bloch besaß sie. Lange Zeit hat man verkannt, daß der gefeierte Pionier der Mentalitäten- und Technikgeschichte, der Mitbegründer der "Annales" ein eminent politisch denkender und empfindender Mann war. Ebenso lange hat man übersehen, daß den "Wundertätigen Königen" eine bestimmte Auffassung von Sinn und Verlauf der französischen Nationalgeschichte zugrunde liegt. Der Anspruch ihres Autors zielte hoch: Er dachte nicht daran, eine Kulturgeschichte zu schreiben, die die politische Geschichte der Herrschaft sozusagen in den Bereich des populären Brauchtums hinein verlängerte. Statt dessen wollte er der politischen Geschichte neue Quellen des Denkens und Fühlens erschließen; Geburtshelfer wollte er sein bei einer Neugeburt der politischen Geschichte aus dem Geist der Kultur.
Zur selben Zeit, als er beschloß, die Königsweihe von Reims zum Thema einer Untersuchung zu machen, mitten im Ersten Weltkrieg also, kritzelte Marc Bloch eines Tages einen Satz in sein Notizbuch, der für ihn geradezu dogmatischen Wert besaß (und darum nicht zufällig wieder auftauchte, als er zweieinhalb Jahrzehnte später über die Ursachen der französischen Niederlage meditierte). Unter der Überschrift "Über die Geschichte Frankreichs, und warum ich nicht konservativ bin" notierte er: "Es gibt zwei Kategorien von Menschen, die nichts von der Geschichte Frankreichs verstehen: diejenigen, welche die Weihe von Reims nicht ,fühlen' - diejenigen, welche die Bewegung der Föderationen nicht ,fühlen'."
Die Weihe von Reims und das revolutionäre Bundesfest vom Juli 1790 - dies sind für Bloch die Tore, durch die man in eine rational und affektiv angemessen erfaßte Geschichte Frankreichs tritt. Es sind die sublimen Höhepunkte der beiden idealen Herrschaftsformen, die die Geschicke der französischen Nation bestimmt haben: die Gründungsfeste der Monarchie und der Republik. Indem er sie zu Voraussetzungen eines "sentimentalischen" Verstehens der Nationalgeschichte macht, reiht sich der Rationalist Bloch ein in die Tradition der Mystiker der Republik von Michelet bis Péguy.
Als Bloch dann aber darangeht, seinen Plan auszuführen, untersucht er die religion de Reims (Renan) nicht als gesamte, sondern nur in diesem einen ephemeren Detail, dem Heilungswunder, das sich an die offizielle Weihe anschloß. In diesem Ritual wandte sich der soeben von seinesgleichen, von Adel und Klerus zum neuen König Erhobene den Elendesten seiner Untertanen zu und praktizierte ihnen gegenüber die alte christliche Liebesgeste. In dieser Episode des Mirakels, das sich an das glanzvolle Zeremoniell von Reims anschloß, sieht Bloch das Volk als Akteur in die französische Nationalgeschichte eintreten. Im Heilungswunder, etabliert von den westeuropäischen Monarchien und ihren gelehrten Beratern, erkennt der Historiker das populäre Gegenstück zur "offiziellen" Weihe. Mögen die Herrscher das Mirakel erfunden und benutzt haben - ermöglicht und akzeptiert hat es durch seinen Glauben das Volk. Das Charisma der Könige ist eine "von unten", aus dem Volk, "nach oben" aufsteigende Macht. Dem populären Glauben wohnt eine historische Kraft inne. Man versteht nicht, wieso die Nation Bestand gehabt hat, wenn man nicht den Part sieht, den das Volk und sein Glaube gespielt haben.
Der König und das Volk. Ein Vater, der sich, segnend und heilend, seinen Untertanen-Kindern zuwendet: Sie bilden gleichsam die Vorzeichnung, die Präfiguration jenes Volkes, das sich beim Föderationsfest untereinander brüderlich verbündet. Dieser politische Familienroman des alten und des neuen Frankreich (mit seiner Ablösung der paternité durch die fraternité) stellt den affektiven oder "romantischen" Hintergrund der Blochschen Nationalgeschichte dar, vor dem auch die "Wundertätigen Könige" spielen. Freilich wird dieser leuchtende Fond nur höchst selten sichtbar, in der Regel dominiert die "voltairische" Sicht.
In dieser kritischen Perspektive wird die Entstehung des Heilungsritus beschrieben: als das Suchen und allmähliche Finden eines symbolischen Gemeinsamen, das allen Beteiligten verständlich und emotional einprägsam ist. Die Geste der Heilerhand besitzt diese Qualität; in ihr ist ein Symbol gefunden, das gleichwertig neben dem Richtschwert der Gerechtigkeit die caritas der guten Macht bedeutet. Ein Symbol, das indes nicht zeitlos gegeben ist, sondern in einem historischen Kräftefeld "ausgehandelt" wird. In diesen Verhandlungen erkennt der historische Psychologe "das Zusammenwirken des absichtsvoll Gewollten mit dem spontan Entstandenen".
So durchdringen sich in den "Wundertätigen Königen" immer wieder die "voltairische" und die "romantische" Auffassung der Geschichte, die Sicht des Spötters und die des Mystikers der Nation. Der Historiker und Patriot, dessen Land soeben die schwerste Krise seiner Geschichte erlebt und bestanden hat, versenkt sich in die historischen Anfänge des Patriotismus, der Frankreich zusammengehalten und das Land gerettet hat. Er begibt sich auf die Suche nach den Quellen der politischen Religion seiner Nation. Und findet einen Glauben, der Heilkraft und Gift gleichermaßen ist, Heilkraft, wenn er von den Mächten der Aufklärung - Skepsis, Spott, Kritik - im Zaum gehalten, Gift, wenn er, davon befreit, zur Hybris wird.
Marc Blochs "Wundertätige Könige" ergraben die Fundamente eines Jahrhunderts, das man als ein Jahrhundert der Ideologien bezeichnet hat, das aber in Wahrheit ein Jahrhundert des politischen Glaubens und seiner mörderischen Erlösungshoffnungen war. Auf dem Weg durch die Jahrhunderte vom hohen Mittelalter bis an die Schwelle unserer Zeit gibt sein Werk zwei Mächten eine Stimme, die die Geschichte seines Landes bestimmt, die seine politische Mystik genährt, aber auch seinen Sinn für rationale Distanz geschärft haben: die Macht des Glaubens und die der Kritik. In manchen Augenblicken scheint es deshalb, als führe in diesem Buch eines Spötters und eines Gläubigen die französische Nationalgeschichte einen idealen, inneren Dialog mit sich selbst. Das mag durchaus so sein. Denn aus allen großen historischen Werken spricht ein Autor zu uns, aus einigen wenigen aber scheint die Geschichte selbst zu sprechen.
Marc Bloch: "Die wundertätigen Könige". Mit einem Vorwort von Jacques Le Goff. Aus dem Französischen von Claudia Märtl. Verlag C. H. Beck, München 1998. 555 S., 5 Abb., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marc Blochs mirakulöses Meisterwerk / Von Ulrich Raulff
Sechs Jahre nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte ein noch junger Historiker an der Universität Straßburg ein Buch, das die meisten seiner Kollegen mit Kopfschütteln quittierten. Einige hingegen erkannten seinen Wert und lasen es mit Bewunderung. Mit den Jahren wuchs ihre Zahl, und heute gelten die "Rois thaumaturges" als herausragendes Werk der historiographischen Literatur, ebenbürtig dem "Herbst des Mittelalters" wenn nicht der "Kultur der Renaissance". Dabei ist Marc Blochs erstes bedeutendes Buch seiner Anlage nach den Epochenpanoramen Huizingas und Burckhardts ganz entgegengesetzt. Es berichtet von einer eher unbedeutend erscheinenden Geste, die den Historikern bis dahin wenig galt - eine "Anekdote", wie der Autor selbst einräumte. Dieses Detail allerdings, diese Geste verfolgen die "Wundertätigen Könige" in der langen Dauer von sechs, sieben Jahrhunderten und durch zwei europäische Nationalgeschichten hindurch. Danach ist aus einer Anekdote Geschichte geworden, große Geschichte.
Worum geht es? Im Zentrum der "Wundertätigen Könige" steht der Glaube an die wunderbare Macht der englischen und französischen Könige des Mittelalters und der Neuzeit, durch bloße Berührung ihrer Hand Kranke zu heilen, die an den Skrofeln litten. Ein Mirakel, das erheblich dazu beigetragen hat, den Glauben an die Sakralität dieser Monarchien zu fördern und zu festigen, und das sich erst an der Schwelle der politischen und gesellschaftlichen Moderne, im Säurebad der Aufklärung auflöste. Daß es sich bei diesem Phänomen tatsächlich um ein aussagekräftiges Detail einer großen Geschichte handelte, daran ließ der Verfasser keinen Zweifel. Wer die Entwicklung des Heilungswunders begriff, der hielt einen Schlüssel zur Geschichte der neuzeitlichen, christlichen Monarchie in der Hand. Ein Schlüssel, der die Tür zu den Arkana der europäischen Institutionen und den Grundlagen der Macht seit dem späteren Mittelalter öffnete. Dahinter saß der Gott der modernen Politik.
Der Autor eines Jahrhundertbuchs der wissenschaftlichen Literatur zu sein, ist kein leichtes Los. Von allen gekannt und in die Konversation gestreut, in halbrichtigen Zitaten überliefert, aber kaum je studiert zu werden, das ist hart. Am schlimmsten hat es vermutlich Ernst H. Kantorowicz getroffen, dessen "Zwei Körper des Königs" den Zitierindex der gelehrten Gemeinplätze anführen. Aber Marc Blochs "Rois thaumaturges" ist es nicht viel besser ergangen: Wer außerhalb der Kreise von Mediävisten und Mentalisten hat das bewunderte Meisterwerk von 1924 wirklich gelesen? Übersetzungen, sofern sie gelingen, vermögen dies Blatt zu wenden. Sie brechen die Hermetik der Rezeption und bescheren dem Werk Leser, mit denen der Autor nie rechnen und für die er füglich auch nicht schreiben konnte: die beste Voraussetzung für neue und überraschende Lektüre.
Doch nicht nur Bücher, auch Übersetzungen haben ihre Schicksale. Wären die "Rois thaumaturges" vor zwei Jahrzehnten ins Deutsche übertragen worden, sie wären von den einen als Pionierwerk der Historischen Anthropologie gefeiert worden (über der sich damals eben die Sonne der intellektuellen Konjunktur erhob), während die anderen das Fehlen von Wirtschaft und Gesellschaft der mittelalterlichen Welt beklagt hätten. Seither hat sich die Interessenlage gewandelt, und was die Kulturgeschichte an Ausstrahlung verloren, hat die politische Zeitgeschichte an Brisanz gewonnen. Wer jetzt ein Buch von 1924 in die Hand nimmt, das von politischem Wunderglauben und charismatischer Machtausübung handelt, wird Erwartungen an das Werk richten, die über die Kulturgeschichte im engeren Sinn hinausgehen. Den Leser am Ende des Jahrhunderts interessiert weniger das methodische Instrumentarium des Autors als dessen politisches Sensorium. Man ist nicht nur das Kind, man ist auch der Leser seiner Zeit.
Gewiß ist es noch immer reizvoll und wissenschaftsgeschichtlich aufschlußreich, sich auf die Suche nach den Bildungserlebnissen zu begeben, die den jungen Mediävisten empfänglich machten für sein eigentümliches Problem, die wunderbare Heilkraft der Kapetinger, Plantagenets und Tudors. Was brachte ihn dazu, seinen ursprünglichen Plan, das Ritual der Königsweihe zu untersuchen, um eines anscheinend kuriosen Epiphänomens willen fallenzulassen? Welche der vielen aufregenden Neuansätze im Wissen seiner Zeit, welche Ideen aus Ethnorechtshistorie und Symbolgeschichte, aus Anthropologie und Komparatistik, welche der Einsichten, die ihm Durkheims "Année Sociologique" vermittelten, schlugen die Funken, die Marc Blochs Forschungsfeuer entzündeten? War am Ende doch, wie Carlo Ginzburg vermutet, der Erste Weltkrieg der geistige Vater dieser Studie, die mit rationalem Eifer ein Mosaik des Irrationalen ausgrub? All diese Fragen verblassen heute in flackerndem Licht der Zeitgenossenschaft des Werks.
Wer sich in jenen Jahren, als diesseits des Rheins die Suche nach dem "Caesar mit der Seele Christi" einsetzte und Moeller van den Bruck den wahren Staatsmann als "Herrscher, Krieger und Priester zugleich" beschrieb, wer sich damals mit historischen Gestalten befaßte, die ähnlich wie Caesar geherrscht und wie Christus geheilt hatten, der mag etwas von der messianischen Erwartung gespürt haben, die in der Luft lag. Es scheint, als hätte der Lehrer im Seminar, der Forscher im Archiv den Schrei nach politischer Erlösung vernommen, der auf der Straße laut wurde, und ihn in einen historischen Fragenkatalog übersetzt. Besteht nicht die Kunst des Historikers darin, die eigene Zeit in Gedanken zu fassen und in Form von Fragen an die Geschichte zu richten?
Wann lassen sich die ersten Spuren des königlichen Heilungswunders dingfest machen? Bloch zufolge taucht das Phänomen zuerst im Frankreich der frühen Kapetinger auf; zwischen Robert dem Frommen, dem zweiten Kapetinger, und seinem Enkel Philipp I. nimmt es Gestalt an; etwa hundert Jahre später ist es auch in England nachweisbar. Für Bloch steht diese Erfindung des königlichen Heilvermögens seit dem elften Jahrhundert am Ende einer Reihe von Elementen, Insignien und Gesten, die seit der Salbung Pippins dem "Apparat" des sakralen Königtums eingefügt worden sind. Dazu gehören die Krönung (seit Karl dem Großen), das Szepter (erstmals bei Karl dem Kahlen) und schließlich die feierliche Weihe in Reims, die seit 1129 beziehungsweise 1131 vorgenommen wird. Das Heilungswunder wurde zum Mittel der dynastischen Politik der ersten Kapetinger, die sich - um ihrem Anspruch auf Erblichkeit der Krone gegen die alten Forderungen nach einem Wahlkönigtum durchzusetzen - vor der "dringendsten Aufgabe" sahen, sich "eine neue Legitimität zu verschaffen".
Ähnlicher Legitimationsbedarf führte, so Bloch, zur Einführung des Ritus in England: Die "Waffe des Wunders" wurde demnach erfunden von Dynastien, "in denen sich, entgegen dem alten germanischen Brauch, das Recht der Erstgeburt durchzusetzen begann". In allen großen Krisen, die die englische und die französische Monarchie in den folgenden Jahrhunderten durchmachen sollten, wurde diese Waffe wieder aufgegriffen und gegen die Feinde der Monarchie gewendet. Und natürlich spielte sie auch eine Rolle in dem Prestigestreit, der sich zwischen französischen und englischen Königen, zwischen Kapetingern und Plantagenets, entwickelte. Deutlich sah Bloch, daß es sich bei der königlichen Thaumaturgie um ein Element von Sakralisierungsstrategien handelte, die eine wesentliche Rolle bei der Konstitution des modernen Staats in Westeuropa gespielt hatte.
Blochs Datierung des Heilungswunders ist ebensowenig unwidersprochen geblieben wie seine eigentümliche Auffassung von dessen Genealogie. Jacques Le Goff, dessen vor fünfzehn Jahren verfaßtes Vorwort zu den "Wundertätigen Königen" man immer noch mit Gewinn liest, meint - gestützt auf die Forschungen Frank Barlows - Blochs Datierung des ersten Auftretens der königlichen Thaumaturgie in beiden behandelten Ländern um etwa ein Jahrhundert verschieben zu müssen: "Es kann heute als wahrscheinlich gelten, daß das königliche Ritual der Berührung der Skrofeln sowohl in Frankreich wie in England erst in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts zu einem ständigen Gebrauch geworden ist."
Was die Herkunft des Heilungswunders anbelangt, so weist Blochs Buch eine merkwürdige Doppelstrategie auf: Einerseits vermehrt es die möglichen (alttestamentarischen, christlichen und heidnischen) Ursprünge, andererseits vermeidet es jede Festlegung auf eine definitive Herleitung. Das rief bereits den Unmut von Percy Ernst Schramm hervor, der in seinem 1939 erschienenen "König von Frankreich", wie es seinerzeit opportun war, jene Komplexität unter Hinweis auf den angeblich sicheren Ursprung aus dem germanischen "Königsheil" beiseite wischte.
Dem "Götzen der Ursprünge" zu opfern war Blochs Sache nie, weder damals noch in späteren Schriften. Ihm ging es um etwas anderes: um den Zusammenhang zwischen dem Wunder und dem Glauben daran, zwischen den Legitimationsstrategien der Monarchien und der Bereitschaft ihrer Untertanen, solche Machtentfaltung gläubig hinzunehmen. Es ging ihm, wenn man so anachronistisch sagen darf, um die Frage der Anerkennungsdialektik. Oder besser, um die Voraussetzungen dafür, daß ein Wunder nicht nur inszeniert, sondern auch als eine Tatsache höherer Wirklichkeit geglaubt werden konnte.
Bloch betrachtet die vermeintlichen Heilungen und den Glauben an die Leistung der Könige schonungslos skeptisch, aber ohne jede Arroganz. So gelingt ihm die geradezu naturwissenschaftlich präzise Anatomie eines Wunders. Als Kompromißbildung von weltlichen und kirchlichen Machtansprüchen, volkstümlichen Legenden und Praktiken (die in das Königsritual Eingang fanden), veränderte das Heilungswunder immer wieder seinen Sinn und seine äußere Gestalt. Aber auch in der Geschichte gilt, das nur bleibt, was sich verändert - und dieses Wunder blieb lange.
Der Tonfall der "Wundertätigen Könige" ist kühl und passagenweise spöttisch. Was soll man davon halten, wenn Marc Bloch die ganze, unendlich komplizierte Geschichte, die er zuvor auf Hunderten von Seiten ausgebreitet hat, am Ende als schlichte, ein wenig lächerliche Fabel resümiert? "Gewisse Herrscher im kapetingischen Frankreich und im normannischen England", so beginnt er, "verfielen eines Tages auf den Gedanken - oder ihre Ratgeber taten dies für sie -, sich als Wunderheiler zu versuchen, um ihr auf wackligen Beinen stehendes Ansehen zu festigen. Selbst von der Heiligkeit überzeugt, die ihnen ihre Funktion und ihre Abstammung verliehen, hielten sie es wahrscheinlich für ganz einfach, eine solche Kraft zu beanspruchen. Man bemerkte, daß eine gefürchtete Krankheit manchmal nach der Berührung durch ihre Hände, die fast allgemein für geheiligt gehalten wurden, tatsächlich oder auch nur scheinbar verschwand. Wie hätte man hier nicht ein Verhältnis von Ursache und Wirkung erblicken sollen? Der Glaube an das Wunder wurde durch die Idee geschaffen, daß hier ein Wunder vorliegen müsse."
So ähnlich hätte die Analyse des historischen Sachverhalts auch lauten können, hätten Lawrence Sterne oder Georg Christoph Lichtenberg oder auch - da wir in Frankreich sind - Voltaire sie unternommen. In gewisser Weise trifft das sogar zu. Für jedes religiöse Phänomen gibt es nämlich, wie Bloch beiläufig bemerkt, "traditionell zwei Arten der Erklärung. Die eine kann man ,voltairisch' nennen." Sie sehe, so fährt er fort, in dem entsprechenden Phänomen die Wirkung eines bewußten Denkens und Wollens. Die andere Tradition bezeichnet Bloch als die "romantische", weil sie auf unbewußte Wirkkräfte baue und "tiefe Strömungen des kollektiven Bewußtseins" aufnehme. Seine gesamte Erforschung des königlichen Heilungswunders sucht sich beider Traditionen zu versichern, der "voltairischen" ebenso wie der "romantischen". Am Schluß freilich überwiegt die Stimme des aufklärerischen Spötters. Eine Reihe seiner Weggefährten und Schüler, von Lucien Febvre bis Jacques Le Goff, hat sich an diesem mokanten Ton gestört: Wie kann man ein Phänomen, von dem man selbst sagt, es sei "ein großes Wunder, das wahrscheinlich unter die berühmtesten, jedenfalls aber unter die dauerhaftesten Wunder der Vergangenheit zu rechnen ist", mit Fleiß entdecken und mit Leidenschaft erforschen, um es am Ende als "harmlosen kollektiven Irrtum" zu verspotten?
In Wahrheit nimmt Bloch das Heilungswunder vollkommen ernst. Das zeigt sich schon an der kritischen Erörterung aller möglichen medizinischen und psychosomatischen Erklärungen der Heilungen - sofern sie denn tatsächlich eingetreten waren. (Die Quellen behaupten es, und Bloch wird nicht müde, alle verfügbaren Zahlen vorzulegen und zu gewichten: So wird er - lange vor Pierre Chaunu und Michel Vovelle - zum ersten Historiker, der Mentalitäts- und Glaubensphänomene mit statistischen Mitteln zu erfassen sucht.) Es zeigt sich ferner in der geduldigen Nachzeichnung sowohl der liturgischen Fixierung des Ritus wie seiner Kontaminierung mit volkstümlichen Glaubensweisen und Bräuchen (die französische Legende von der Heilkraft der siebten Söhne oder der englische Gebrauch der cramp rings gegen Epilepsie). Vor allem aber erweist es sich an dem Platz, den Bloch - heimlich und von den meisten unbemerkt - der Thaumaturgie in der Geschichte des Werdens der französischen Nation zuweist.
Une certaine idée de la France, eine bestimmte Vorstellung von Frankreich hatte nicht nur der General de Gaulle, auch der Historiker Marc Bloch besaß sie. Lange Zeit hat man verkannt, daß der gefeierte Pionier der Mentalitäten- und Technikgeschichte, der Mitbegründer der "Annales" ein eminent politisch denkender und empfindender Mann war. Ebenso lange hat man übersehen, daß den "Wundertätigen Königen" eine bestimmte Auffassung von Sinn und Verlauf der französischen Nationalgeschichte zugrunde liegt. Der Anspruch ihres Autors zielte hoch: Er dachte nicht daran, eine Kulturgeschichte zu schreiben, die die politische Geschichte der Herrschaft sozusagen in den Bereich des populären Brauchtums hinein verlängerte. Statt dessen wollte er der politischen Geschichte neue Quellen des Denkens und Fühlens erschließen; Geburtshelfer wollte er sein bei einer Neugeburt der politischen Geschichte aus dem Geist der Kultur.
Zur selben Zeit, als er beschloß, die Königsweihe von Reims zum Thema einer Untersuchung zu machen, mitten im Ersten Weltkrieg also, kritzelte Marc Bloch eines Tages einen Satz in sein Notizbuch, der für ihn geradezu dogmatischen Wert besaß (und darum nicht zufällig wieder auftauchte, als er zweieinhalb Jahrzehnte später über die Ursachen der französischen Niederlage meditierte). Unter der Überschrift "Über die Geschichte Frankreichs, und warum ich nicht konservativ bin" notierte er: "Es gibt zwei Kategorien von Menschen, die nichts von der Geschichte Frankreichs verstehen: diejenigen, welche die Weihe von Reims nicht ,fühlen' - diejenigen, welche die Bewegung der Föderationen nicht ,fühlen'."
Die Weihe von Reims und das revolutionäre Bundesfest vom Juli 1790 - dies sind für Bloch die Tore, durch die man in eine rational und affektiv angemessen erfaßte Geschichte Frankreichs tritt. Es sind die sublimen Höhepunkte der beiden idealen Herrschaftsformen, die die Geschicke der französischen Nation bestimmt haben: die Gründungsfeste der Monarchie und der Republik. Indem er sie zu Voraussetzungen eines "sentimentalischen" Verstehens der Nationalgeschichte macht, reiht sich der Rationalist Bloch ein in die Tradition der Mystiker der Republik von Michelet bis Péguy.
Als Bloch dann aber darangeht, seinen Plan auszuführen, untersucht er die religion de Reims (Renan) nicht als gesamte, sondern nur in diesem einen ephemeren Detail, dem Heilungswunder, das sich an die offizielle Weihe anschloß. In diesem Ritual wandte sich der soeben von seinesgleichen, von Adel und Klerus zum neuen König Erhobene den Elendesten seiner Untertanen zu und praktizierte ihnen gegenüber die alte christliche Liebesgeste. In dieser Episode des Mirakels, das sich an das glanzvolle Zeremoniell von Reims anschloß, sieht Bloch das Volk als Akteur in die französische Nationalgeschichte eintreten. Im Heilungswunder, etabliert von den westeuropäischen Monarchien und ihren gelehrten Beratern, erkennt der Historiker das populäre Gegenstück zur "offiziellen" Weihe. Mögen die Herrscher das Mirakel erfunden und benutzt haben - ermöglicht und akzeptiert hat es durch seinen Glauben das Volk. Das Charisma der Könige ist eine "von unten", aus dem Volk, "nach oben" aufsteigende Macht. Dem populären Glauben wohnt eine historische Kraft inne. Man versteht nicht, wieso die Nation Bestand gehabt hat, wenn man nicht den Part sieht, den das Volk und sein Glaube gespielt haben.
Der König und das Volk. Ein Vater, der sich, segnend und heilend, seinen Untertanen-Kindern zuwendet: Sie bilden gleichsam die Vorzeichnung, die Präfiguration jenes Volkes, das sich beim Föderationsfest untereinander brüderlich verbündet. Dieser politische Familienroman des alten und des neuen Frankreich (mit seiner Ablösung der paternité durch die fraternité) stellt den affektiven oder "romantischen" Hintergrund der Blochschen Nationalgeschichte dar, vor dem auch die "Wundertätigen Könige" spielen. Freilich wird dieser leuchtende Fond nur höchst selten sichtbar, in der Regel dominiert die "voltairische" Sicht.
In dieser kritischen Perspektive wird die Entstehung des Heilungsritus beschrieben: als das Suchen und allmähliche Finden eines symbolischen Gemeinsamen, das allen Beteiligten verständlich und emotional einprägsam ist. Die Geste der Heilerhand besitzt diese Qualität; in ihr ist ein Symbol gefunden, das gleichwertig neben dem Richtschwert der Gerechtigkeit die caritas der guten Macht bedeutet. Ein Symbol, das indes nicht zeitlos gegeben ist, sondern in einem historischen Kräftefeld "ausgehandelt" wird. In diesen Verhandlungen erkennt der historische Psychologe "das Zusammenwirken des absichtsvoll Gewollten mit dem spontan Entstandenen".
So durchdringen sich in den "Wundertätigen Königen" immer wieder die "voltairische" und die "romantische" Auffassung der Geschichte, die Sicht des Spötters und die des Mystikers der Nation. Der Historiker und Patriot, dessen Land soeben die schwerste Krise seiner Geschichte erlebt und bestanden hat, versenkt sich in die historischen Anfänge des Patriotismus, der Frankreich zusammengehalten und das Land gerettet hat. Er begibt sich auf die Suche nach den Quellen der politischen Religion seiner Nation. Und findet einen Glauben, der Heilkraft und Gift gleichermaßen ist, Heilkraft, wenn er von den Mächten der Aufklärung - Skepsis, Spott, Kritik - im Zaum gehalten, Gift, wenn er, davon befreit, zur Hybris wird.
Marc Blochs "Wundertätige Könige" ergraben die Fundamente eines Jahrhunderts, das man als ein Jahrhundert der Ideologien bezeichnet hat, das aber in Wahrheit ein Jahrhundert des politischen Glaubens und seiner mörderischen Erlösungshoffnungen war. Auf dem Weg durch die Jahrhunderte vom hohen Mittelalter bis an die Schwelle unserer Zeit gibt sein Werk zwei Mächten eine Stimme, die die Geschichte seines Landes bestimmt, die seine politische Mystik genährt, aber auch seinen Sinn für rationale Distanz geschärft haben: die Macht des Glaubens und die der Kritik. In manchen Augenblicken scheint es deshalb, als führe in diesem Buch eines Spötters und eines Gläubigen die französische Nationalgeschichte einen idealen, inneren Dialog mit sich selbst. Das mag durchaus so sein. Denn aus allen großen historischen Werken spricht ein Autor zu uns, aus einigen wenigen aber scheint die Geschichte selbst zu sprechen.
Marc Bloch: "Die wundertätigen Könige". Mit einem Vorwort von Jacques Le Goff. Aus dem Französischen von Claudia Märtl. Verlag C. H. Beck, München 1998. 555 S., 5 Abb., geb., 78,- DM.
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