Das Buch dient dem Nachweis, dass die Demokratie die einzige politische Organisationsform darstellt, die dem grundlegenden menschlichen Selbstverständnis entspricht. Demokratie liefert den politischen Ausdruck für die Unausweichlichkeit von sozialer Interaktion, sie ist in der sozialen Existenzform des Menschen verwurzelt. Sie stellt das Pendant dar zu unserem menschlichen Selbstverständnis als soziale, auf Interaktion angewiesene Lebewesen, das immer neuer Stufen der authentischen Verwirklichung bedarf. So, wie jedem Menschen die gleiche Anerkennung und die Möglichkeit zu intensiver Interaktion zukommen sollten, ist die Demokratie als egalitäre und partizipative Interaktion auszurichten. Eine »Stimme« in der Demokratie zu besitzen heißt nicht nur, ein »Votum« zu haben, sondern viel umfassender ausgiebig »zu Wort zu kommen«. Die Demokratie zielt auf paritätische Begegnung, auf Interaktion unter Gleichen, auf größtmöglichen gegenseitigen Austausch. Sie ruft beständig nach neuen Formen ihrer Verwirklichung, die unter wechselnden zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen die Nähe zwischen der Politik und den Grundmechanismen der sozialen Interaktion herstellen. Jacques Derrida hatte dafür das treffende Bild von der »démocratie à venir« geprägt.Insofern bleiben zunächst die Wurzeln der Demokratie in den Prinzipien sozialer Integration zu veranschaulichen. Danach werden die idealen Formen einer solchen partizipativen Demokratie erläutert. Schließlich können die Folgen dieser partizipatorischen Demokratie an exemplarischen politischen Problemfeldern der Gegenwart veranschaulicht werden.
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Was soll das sein, eine "Neuentdeckung" der Demokratie? Emanuel Richter ("Die Wurzeln der Demokratie". Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2008. 342 S., geb., 39,90 [Euro]) stellt jene "republikanische" Gestalt der Demokratie vor, die im Gegensatz zur liberalen Theorie mehr Wert auf die Mitwirkung der Bürger ("Partizipation"), insbesondere ihre Beratung ("Deliberation") lege. Der Gegensatz wird allerdings überschärft. Denn der Verfasser lehnt die wesentlichen Elemente der liberalen Demokratie nicht ab, weder dass die Staatsgewalt vom Volk ausgeht noch dass es ein Parlament und die Gewaltenteilung gibt und die Rechtsordnung sich auf die Menschen- und Grundrechte verpflichtet. Daher empfiehlt sich eher eine integrative Demokratietheorie, die liberale mit republikanischen Elementen verbindet.
Für sein Teilthema entwickelt Richter aber eine ziemlich gründliche Theorie, vorgestellt in drei Teilen von je zwei Kapiteln. Er beginnt mit der sozialen Verankerung der Demokratie, entwirft dann eine ideale Praxis und befasst sich schließlich exemplarisch mit zeitgenössischen Herausforderungen. Im ersten Teil, "allgemeine Bedingungen sozialer Existenz", betreibt Richter, was die Frankfurter Schule, der er nahesteht, früher vehement ablehnte: politische Anthropologie. Hier besteht sie aus drei sich ergänzenden Überlegungen, einer erkenntnistheoretischen, einer sozialpsychologischen und einer kulturanthropologischen Verortung von Demokratie. Der dafür wichtige, von Hegel stammende Begriff der Anerkennung wird allerdings um die Dimension der Arbeit verkürzt und in seinem agonalen Charakter geschwächt.
Richters plausible Grundthese, die politische Organisationsform der Demokratie entspreche am ehesten dem grundlegenden menschlichen Selbstverständnis, privilegiert noch nicht den Republikanismus. Sie beantwortet nicht einmal die Frage, welcher Teil sozialer Integration jene Herrschaft von Menschen über Menschen zulasse, auf die selbst die Demokratie nicht verzichten kann. Auch wünscht man, das zugrundeliegende, letztlich teleologische Argumentationsmuster: dass ein Potential zur vollen Wirklichkeit gebracht werden soll, würde ausgesprochen. Nicht zuletzt findet soziales Lernen nicht nur in seinem affektiven, sondern auch seinem kognitiven und moralischen Anteil schon in der Familie statt. Auch andere Grenzen der Demokratie und überhaupt jeder Politik kommen zu kurz: dass der Mensch nicht nur in der Politik und um ihretwillen lebt, dass Natur- und Geisteswissenschaften samt Medizin und Technik, dass Musik, Literatur und Kunst, dass Freundschaft und Partnerschaft, dass Rechtschaffenheit, für manche auch Spiritualität Lebensziele und Lebensformen sind, die sich nicht in Demokratie auflösen lassen.
Bei der Diskussion der Grundwerte Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit fehlt der (vom Recht zu schaffende) innere Friede ebenso wie der durch Diplomatie und Völkerrecht, aber auch durch Verteidigungsbereitschaft zu gewinnende äußere Friede. Und bei der Gleichheit oder der Freiheit oder beiden vermisst man einen Blick auf die Menschenrechte und die Grundrechte.
Da der zweite Teil bei den Verfahren ansetzt, überrascht zweierlei. Zum einen wird weder das für die "Legitimation durch Verfahren" innovative Werk von Niklas Luhmann noch John Rawls' Gedanke der öffentlichen Vernunft erwähnt. Da sie dem Autor bekannt sein dürften, vermutet man hier und auch bei der andernorts selektiven Literaturauswahl strategische Gründe. Zum anderen wird nur die "Deliberation" ausführlich erörtert, andere Verfahren dagegen, so etwa die Parlamentsdebatten, auch die wissenschaftliche Politikberatung, kommen bestenfalls beiläufig zur Sprache. Ausgeblendet wird die Gefahr, dass wortgewandte Intellektuelle einen Vorsprung haben, daher bei einem starken Republikanismus die Neigung zu einer Intellektuellenaristokratie droht. Vor allem vermisst man, dass nach einiger Beratungszeit autoritative, wenn auch revisionsoffene Entscheidungen zu fällen sind.
Erfreulicherweise breitet der dritte Teil Kompetenzen des Bürgers aus, die Schwierigkeiten der politischen Urteilskraft werden freilich unterschätzt. Und da es längst eigene Studien dazu gibt, ist es nicht unfair, diese Defizite einzuklagen: Man vermisst den Rechtssinn, den Gerechtigkeitssinn und die Zivilcourage sowie die Toleranz beziehungsweise den wechselseitigen Respekt.
Die Aspekte im letzten Kapitel "Demokratie als kollektive Lebensform", die multikulturelle Gesellschaft, der Wohlfahrtsstaat (warum nicht "Sozialstaat"?) und die globale Nachhaltigkeit bleiben etwas zufällig. Für eine republikanische Demokratietheorie drängt sich doch auch das Thema der Gerechtigkeit gegen künftige Generationen auf: Wie wird der übliche Zukunftsdiskont geringer gehalten? Wie werden noch nicht geborene, aber zu erwartende Personen in die Partizipationsprozesse eingebunden?
So muss die Bilanz kritisch ausfallen: Manche Gegenpositionen werden zu plakativ dargestellt, andere verzeichnet, selbst das Register ist über ein unvermeidbares Maß hinaus höchst unvollständig.
OTFRIED HÖFFE
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Dirk Lüddecke findet Emanuel Richters Analyse der Demokratie zwiespältig. Das liegt daran, dass er an einigen Grundprämissen der Arbeit zweifelt - zum Beispiel daran, dass Demokratie für Richter nicht das Resultat eines schwierigen Prozesses sei, sondern "die Erfüllung einer kulturanthropologisch, sozialpsychologisch wie auch epistemologisch begründeten Forderung", wie der Rezensent meint. Auch stört sich Lüddecke an einigen doch romantisierenden Annahmen Richters oder außer Acht gelassenen Kausalitäten. Bevor sich der Rezensent also vom Autor Empfehlungen zur Wiederbelebung der Demokratie geben lässt, möchte er erst einmal eine "genauere Anamnese".
© Perlentaucher Medien GmbH
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