Unter Einbeziehung der selbst für Spezialisten nur noch schwer überschaubaren Forschungsliteratur und der Auswertung einer Vielzahl unveröffentlichter Dokumente und Nachlässe gibt der Verfasser eine umfassende Darstellung des organisierten Antisemitismus in Deutschland. Der Schwerpunkt liegt auf der Bismarck- und Kaiserzeit. Gleichzeitig werden aber auch die sich überlagernden und wandelnden Erscheinungsformen des religiös grundierten wie des säkularen Antisemitismus dieser "Gründerjahre" sowohl durch Rückgriff auf die ältere Tradition als auch in der Darstellung ihrer Kontinuität über die Weimarer Republik bis hin zum "Dritten Reich" vertiefend erklärt. In der vergleichenden Präsentation der Quellen und ihrer Deutung wie auch der Einbeziehung der Biographien führender Agitatoren des Antisemitismus und ihrer Widersacher entsteht ein alle gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Aspekte umfassendes Gesamtbild. Die differenzierende Darstellung der Fakten und Hintergründe erhellt überdies, wie sehr die aktuellen, mit Namen wie Nolte und Goldhagen verknüpften Diskussionen der Gefahr ausgesetzt sind, die komplizierten historischen und sozialen Vorgänge in monokausalen Erklärungen verschwinden zu lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2003Muster aus dem Kaiserreich
Ferrari Zumbini über die Gründerjahre des Antisemitismus
Zwischen dem, was wir heute über den Massenmord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs und über die weit ins neunzehnte Jahrhundert reichende Vorgeschichte dieses Geschehens wissen, besteht ein Mißverhältnis, das in den letzten Jahren immer größer geworden ist. Der Vertiefung ins grauenvolle Detail hier steht eine Kenntnislage dort gegenüber, die mit dem Wort lückenhaft eher euphemistisch umschrieben ist. Es fehlt zwar nicht an brauchbaren Überblicken, wohl aber an Basisarbeit: an Biographien über die Protagonisten des Antisemitismus, an einer bibliographischen Erschließung ihres Schrifttums, an einer Auswertung der antisemitischen Publizistik, an Wissen über die Netzwerke, die antisemitischen Praktiken und Strategien und so weiter. Figuren wie Eugen Dühring, Wilhelm Marr, Hermann Ahlwardt, Theodor Fritsch oder der "hessische Bauernkönig" Otto Böckel sind, trotz achtenswerter Bemühungen, nach wie vor weitgehend unbekannt, die antisemitische Presse eine einzige Terra incognita, und dies, obwohl die Quellen überreichlich sprudeln. Deutscher Antisemitismus vor 1933 scheint ein Thema zu sein, das für die deutsche Geschichtswissenschaft nur nachrangige Priorität besitzt.
Dieser Lage entspricht, daß entscheidende Impulse immer wieder von außen kommen. Die einzige größere Studie über Marr, bezeichnenderweise unübersetzt, stammt von einem israelischen Historiker, Mosche Zimmermann; die wichtigsten Arbeiten über Fritsch von einem Engländer und einem Franzosen, Reginald Phelps und Serge Tabary; die bedeutendste Gesamtdarstellung der Antisemitenparteien des Kaiserreichs von einem Amerikaner, Richard S. Levy. Und nun ist es ein Italiener, der die Deutschen lehrt, was in ihren Archiven alles zu holen ist: Massimo Ferrari Zumbini, Professor für die Geschichte der deutschen Kultur an der Universität Viterbo, hierzulande seit langem bekannt durch eindrucksvolle Studien über Nietzsche und Spengler, hat einen profunden Überblick über die "Gründerjahre" des Antisemitismus vorgelegt, die auf lange Sicht Maßstäbe in diesem Feld setzt.
Ein doppelter Schaltkreis
Mit "Gründerjahren" meint der Autor dabei nicht nur jene unmittelbar an die Reichsgründung anschließenden Jahre, wie es der übliche Sinn dieser Bezeichnung ist, sondern das Zweite Kaiserreich im ganzen. Im letzten Kapitel werden die Linien zwar noch weiter ausgezogen bis in die Weimarer Republik, doch geschieht dies nicht mit dem gleichen Anspruch und auch nicht mehr mit derselben Intensität der Recherchen. Das Buch will eine Geschichte des Antisemitismus in Deutschland zwischen 1871 und 1918 sein, und an diesem Anspruch will es gemessen werden.
Wie löst es ihn ein? Ferrari Zumbini beginnt mit einem sozialgeschichtlichen Überblick über die Juden im Kaiserreich, der besonderes Gewicht auf die Asymmetrie zwischen der jüdischen Modernisierung und der Modernisierung der Gesellschaft legt. In paradoxer Weise begünstigt durch die alten Diskriminierungen, die ihnen eine Betätigung in Landwirtschaft und Handwerk versperrten, entwickeln sich die Juden zu Vorreitern der Verbürgerlichung, einer modernen, aus den Vorgaben der Religion herausgelösten, überwiegend auf (Markt-)Wirtschaft zentrierten Gesellschaft und ziehen damit, man möchte fast sagen: unvermeidlich, die Ressentiments all derjenigen auf sich, die entweder einem langsameren Rhythmus des Wandels folgen oder ihn überhaupt ablehnen. Daraus ergibt sich der Stoff des zweiten Kapitels: die Entstehung eines "doppelten Schaltkreises", in dem sich die aus dem Protest gegen die Säkularisierung einerseits, den Manchesterkapitalismus andererseits entspringenden Energien bündeln und eine antisemitische Wendung nehmen. In den Blick kommen hier der spezifisch katholische Antisemitismus eines August Rohling, der protestantische Antisemitismus der "Kreuzzeitung" und der wirtschaftliche Antisemitismus, wie er von Otto Glagau in der vielgelesenen "Gartenlaube" propagiert wird.
Die beiden folgenden Kapitel widmen sich der Entstehung und Entwicklung des politischen Antisemitismus, der mit Namen wie Marr, Dühring, Treitschke und Böckel verbunden ist. Trotz zeitweilig beachtlicher Erfolge, vor allem in den neunziger Jahren, gelingt es den antisemitischen Parteien nicht, ihre Ziele auf parlamentarischem Weg durchzusetzen. Auf kommunaler Ebene ohnehin immer nur schwach vertreten, verzeichnen diese Parteien bei den Reichstagswahlen etwa seit der Jahrhundertwende einen kontinuierlichen Rückgang der Stimmenzahlen, der denjenigen Aufwind gibt, die, wie Theodor Fritsch, seit längerem für eine außerparlamentarische Strategie plädieren. Die Ursache dieser Schwäche - die endemische Zerstrittenheit der Antisemiten in Fragen der Religion, der Steuerpolitik, der Zusammenarbeit mit anderen Parteien - ist bekannt, wird aber von Ferrari Zumbini auf plastische Weise herausgearbeitet.
Das fünfte Kapitel - in meinen Augen das wichtigste - füllt endlich die größte Lücke, die in der Geschichte des neueren deutschen Antisemitismus bislang klaffte. Es gibt auf gut hundert Seiten einen Aufriß des Lebens und Wirkens von Theodor Fritsch (1852 bis 1933), der in vieler Hinsicht eine Schlüsselfigur, wenn nicht die Schlüsselfigur der antisemitischen Bewegung darstellt: als Herausgeber und Hauptautor zentraler Organe wie der "Antisemitischen Correspondenz", der "Deutschsozialen Blätter" und des "Hammer", als Verfasser des "Handbuchs der Judenfrage", aus dem ganze Generationen von Antisemiten ihr Pseudowissen bezogen, als Verbandspolitiker in bedeutenden Organisationen des Mittelstands und endlich als Mitbegründer des "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes". Was Ferrari Zumbini hier alles an Informationen erschließt und zu einer Gesamtschau verbindet, ist bewundernswert und lohnt allein bereits die Anschaffung des Buches.
Es folgen: ein kürzeres Kapitel über Nietzsche und die Antisemiten sowie ein etwas breit geratenes über "Die Gespenster aus dem Osten: ,Ostjuden' und ,slawische Gefahr'". Hier geht es um die Entstehung eines zweiten "Schaltkreises", der den Antisemitismus energetisch auflädt; die vermeintliche Bedrohung durch ein Judentum, das durch Slawentum und "asiatische Entartung" geprägt und dadurch doppelt gefährlich ist.
Schon im Kaiserreich, darin sieht Ferrari Zumbini sein wichtigstes Ergebnis, bilden sich damit die negativen Stereotype, die den Juden nach 1918 und mehr noch nach 1933 zum Verhängnis werden. Und nicht nur das: Sie werden von den Ostjuden auf die Juden insgesamt übertragen und finden zunehmend auch bei solchen Gruppen Resonanz, die bis dahin für antisemitische Propaganda nicht anfällig waren. Dies bedeute nicht, daß die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs "im Netz eines feinverästelten, alles durchdringenden und omnipräsenten Antisemitismus" gefangen gewesen sei. Eine derart pauschalierende Sicht sei empirisch nicht zu belegen. Wohl aber, daß hier grundlegende Muster geprägt wurden, die dann durch mehr oder weniger kontingente Ereignisse wie den Krieg und die Folgen der Niederlage, Inflation, Weltwirtschaftskrise und so weiter verstärkt wurden.
Ein so bedeutendes Buch wie dieses ehrt man am besten, indem man es kritisiert. Kritik könnte ansetzen beim Titel, den ich unangemessen theologisch finde, und sie hätte zu schließen mit der Frage, ob die im Fazit vollzogene, allzu enge Festlegung des deutschen Antisemitismus auf Antimodernismus tatsächlich das abdeckt, was im Buch entwickelt wird. Dazwischen wären die Versäumnisse zu notieren, die auch bei dieser gewaltigen Leistung noch zu verzeichnen sind. Der Einfluß Richard Wagners und Bayreuths kommt viel zu kurz, der Antisemitismus in der Literatur und den kulturellen Zeitschriften, etwa M. G. Conrads "Gesellschaft" oder dem kurzzeitig von Heinrich Mann (!) herausgegebenen "Zwanzigsten Jahrhundert", bleibt weithin unbeachtet, desgleichen die wichtige Verbindung zur Bodenreformbewegung (Ottomar Beta) oder zur völkischen Rechts- und Justizkritik (Lehmann-Hohenberg). Auch die Infiltration in die nichtantisemitische Tagespresse wäre einer gründlichen Untersuchung wert. Führende Köpfe des Antisemitismus, Erwin Bauer etwa oder Max Bewer, arbeiteten als Journalisten in gediegen-bürgerlichen Blättern, manche vermochten ihnen sogar zeitweise ihren Stempel aufzudrücken wie Friedrich Lange in der "Täglichen Rundschau".
Das kann und soll hier nicht vertieft werden. Ich begnüge mich mit dem Hinweis auf ein konzeptionelles Problem. Ferrari Zumbini organisiert sein Material so, daß es die Herausbildung eines radikalen, letztlich exterministischen Antisemitismus faßbar machen soll, der im Nationalsozialismus kulminiert. Dieser radikale Antisemitismus ist bei ihm identisch mit einer bestimmten Denkweise, die er als rassisch-biologischen Determinismus charakterisiert. Folgerichtig schildert er die Geschichte des kaiserzeitlichen Antisemitismus als Konflikt zwischen diesem und einem anderen Muster, das durch sozialkulturelle (vor allem: religiöse und politische) Begründungen und weniger mörderische Konsequenzen geprägt sei.
Unübersichtliche Motivlage
Eine solche Koppelung von Motiven und Strategien stößt aber auf erhebliche Schwierigkeiten. Ein religiöser Antisemit wie Stoecker räumte rassenanthropologischen Behauptungen ein weit größeres Gewicht ein, als es diese Einteilung zuläßt, und für einen Rassenideologen wie Fritsch zeigt Ferrari Zumbini selbst, wie stark er durch den Einfluß eines nationalreligiösen Fundamentalisten wie Lagarde geprägt ist. Ein Exponent des Nationalsozialismus wie Alfred Rosenberg begründete seine Rassenlehre keineswegs mit biologischen Argumenten, während umgekehrt der Biologie (oder besser Pseudobiologie) näherstehende Autoren wie Alfred Ploetz oder Fritz Lenz einen gemäßigten Antisemitismus vertraten. Radikalantisemitische Rassentheoretiker wie Hans F. K. Günther wiederum sahen in den Juden keine Rasse, sondern ein Volk.
Schwierigkeiten dieser Art lassen es geraten erscheinen, die Unterscheidung von gemäßigtem und radikalem Antisemitismus von den Motiven und Gründen der Antisemiten abzukoppeln. Reinhard Rürup und Thomas Nipperdey haben dieser Problemlage Rechnung getragen, als sie seinerzeit den Radikalantisemitismus durch die Forderung nach Rücknahme der Emanzipation definierten und den gemäßigten Antisemitismus durch eine Politik der sozialen und administrativen Diskriminierung, die an der Tatsache der Emanzipation nicht rüttelt. Die Frage nach den Motiven und Gründen wird damit nicht beiseite geschoben. Sie wird nur auf eine andere Ebene verlagert, wo sie dann mit Hilfe neuer, spezifischer Typen bearbeitet werden kann. Aber auch hierfür gilt: Es ist noch viel zu tun.
STEFAN BREUER
Massimo Ferrari Zumbini: "Die Wurzeln des Bösen". Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2003. 774 S., 4 Abb., geb., 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ferrari Zumbini über die Gründerjahre des Antisemitismus
Zwischen dem, was wir heute über den Massenmord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs und über die weit ins neunzehnte Jahrhundert reichende Vorgeschichte dieses Geschehens wissen, besteht ein Mißverhältnis, das in den letzten Jahren immer größer geworden ist. Der Vertiefung ins grauenvolle Detail hier steht eine Kenntnislage dort gegenüber, die mit dem Wort lückenhaft eher euphemistisch umschrieben ist. Es fehlt zwar nicht an brauchbaren Überblicken, wohl aber an Basisarbeit: an Biographien über die Protagonisten des Antisemitismus, an einer bibliographischen Erschließung ihres Schrifttums, an einer Auswertung der antisemitischen Publizistik, an Wissen über die Netzwerke, die antisemitischen Praktiken und Strategien und so weiter. Figuren wie Eugen Dühring, Wilhelm Marr, Hermann Ahlwardt, Theodor Fritsch oder der "hessische Bauernkönig" Otto Böckel sind, trotz achtenswerter Bemühungen, nach wie vor weitgehend unbekannt, die antisemitische Presse eine einzige Terra incognita, und dies, obwohl die Quellen überreichlich sprudeln. Deutscher Antisemitismus vor 1933 scheint ein Thema zu sein, das für die deutsche Geschichtswissenschaft nur nachrangige Priorität besitzt.
Dieser Lage entspricht, daß entscheidende Impulse immer wieder von außen kommen. Die einzige größere Studie über Marr, bezeichnenderweise unübersetzt, stammt von einem israelischen Historiker, Mosche Zimmermann; die wichtigsten Arbeiten über Fritsch von einem Engländer und einem Franzosen, Reginald Phelps und Serge Tabary; die bedeutendste Gesamtdarstellung der Antisemitenparteien des Kaiserreichs von einem Amerikaner, Richard S. Levy. Und nun ist es ein Italiener, der die Deutschen lehrt, was in ihren Archiven alles zu holen ist: Massimo Ferrari Zumbini, Professor für die Geschichte der deutschen Kultur an der Universität Viterbo, hierzulande seit langem bekannt durch eindrucksvolle Studien über Nietzsche und Spengler, hat einen profunden Überblick über die "Gründerjahre" des Antisemitismus vorgelegt, die auf lange Sicht Maßstäbe in diesem Feld setzt.
Ein doppelter Schaltkreis
Mit "Gründerjahren" meint der Autor dabei nicht nur jene unmittelbar an die Reichsgründung anschließenden Jahre, wie es der übliche Sinn dieser Bezeichnung ist, sondern das Zweite Kaiserreich im ganzen. Im letzten Kapitel werden die Linien zwar noch weiter ausgezogen bis in die Weimarer Republik, doch geschieht dies nicht mit dem gleichen Anspruch und auch nicht mehr mit derselben Intensität der Recherchen. Das Buch will eine Geschichte des Antisemitismus in Deutschland zwischen 1871 und 1918 sein, und an diesem Anspruch will es gemessen werden.
Wie löst es ihn ein? Ferrari Zumbini beginnt mit einem sozialgeschichtlichen Überblick über die Juden im Kaiserreich, der besonderes Gewicht auf die Asymmetrie zwischen der jüdischen Modernisierung und der Modernisierung der Gesellschaft legt. In paradoxer Weise begünstigt durch die alten Diskriminierungen, die ihnen eine Betätigung in Landwirtschaft und Handwerk versperrten, entwickeln sich die Juden zu Vorreitern der Verbürgerlichung, einer modernen, aus den Vorgaben der Religion herausgelösten, überwiegend auf (Markt-)Wirtschaft zentrierten Gesellschaft und ziehen damit, man möchte fast sagen: unvermeidlich, die Ressentiments all derjenigen auf sich, die entweder einem langsameren Rhythmus des Wandels folgen oder ihn überhaupt ablehnen. Daraus ergibt sich der Stoff des zweiten Kapitels: die Entstehung eines "doppelten Schaltkreises", in dem sich die aus dem Protest gegen die Säkularisierung einerseits, den Manchesterkapitalismus andererseits entspringenden Energien bündeln und eine antisemitische Wendung nehmen. In den Blick kommen hier der spezifisch katholische Antisemitismus eines August Rohling, der protestantische Antisemitismus der "Kreuzzeitung" und der wirtschaftliche Antisemitismus, wie er von Otto Glagau in der vielgelesenen "Gartenlaube" propagiert wird.
Die beiden folgenden Kapitel widmen sich der Entstehung und Entwicklung des politischen Antisemitismus, der mit Namen wie Marr, Dühring, Treitschke und Böckel verbunden ist. Trotz zeitweilig beachtlicher Erfolge, vor allem in den neunziger Jahren, gelingt es den antisemitischen Parteien nicht, ihre Ziele auf parlamentarischem Weg durchzusetzen. Auf kommunaler Ebene ohnehin immer nur schwach vertreten, verzeichnen diese Parteien bei den Reichstagswahlen etwa seit der Jahrhundertwende einen kontinuierlichen Rückgang der Stimmenzahlen, der denjenigen Aufwind gibt, die, wie Theodor Fritsch, seit längerem für eine außerparlamentarische Strategie plädieren. Die Ursache dieser Schwäche - die endemische Zerstrittenheit der Antisemiten in Fragen der Religion, der Steuerpolitik, der Zusammenarbeit mit anderen Parteien - ist bekannt, wird aber von Ferrari Zumbini auf plastische Weise herausgearbeitet.
Das fünfte Kapitel - in meinen Augen das wichtigste - füllt endlich die größte Lücke, die in der Geschichte des neueren deutschen Antisemitismus bislang klaffte. Es gibt auf gut hundert Seiten einen Aufriß des Lebens und Wirkens von Theodor Fritsch (1852 bis 1933), der in vieler Hinsicht eine Schlüsselfigur, wenn nicht die Schlüsselfigur der antisemitischen Bewegung darstellt: als Herausgeber und Hauptautor zentraler Organe wie der "Antisemitischen Correspondenz", der "Deutschsozialen Blätter" und des "Hammer", als Verfasser des "Handbuchs der Judenfrage", aus dem ganze Generationen von Antisemiten ihr Pseudowissen bezogen, als Verbandspolitiker in bedeutenden Organisationen des Mittelstands und endlich als Mitbegründer des "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes". Was Ferrari Zumbini hier alles an Informationen erschließt und zu einer Gesamtschau verbindet, ist bewundernswert und lohnt allein bereits die Anschaffung des Buches.
Es folgen: ein kürzeres Kapitel über Nietzsche und die Antisemiten sowie ein etwas breit geratenes über "Die Gespenster aus dem Osten: ,Ostjuden' und ,slawische Gefahr'". Hier geht es um die Entstehung eines zweiten "Schaltkreises", der den Antisemitismus energetisch auflädt; die vermeintliche Bedrohung durch ein Judentum, das durch Slawentum und "asiatische Entartung" geprägt und dadurch doppelt gefährlich ist.
Schon im Kaiserreich, darin sieht Ferrari Zumbini sein wichtigstes Ergebnis, bilden sich damit die negativen Stereotype, die den Juden nach 1918 und mehr noch nach 1933 zum Verhängnis werden. Und nicht nur das: Sie werden von den Ostjuden auf die Juden insgesamt übertragen und finden zunehmend auch bei solchen Gruppen Resonanz, die bis dahin für antisemitische Propaganda nicht anfällig waren. Dies bedeute nicht, daß die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs "im Netz eines feinverästelten, alles durchdringenden und omnipräsenten Antisemitismus" gefangen gewesen sei. Eine derart pauschalierende Sicht sei empirisch nicht zu belegen. Wohl aber, daß hier grundlegende Muster geprägt wurden, die dann durch mehr oder weniger kontingente Ereignisse wie den Krieg und die Folgen der Niederlage, Inflation, Weltwirtschaftskrise und so weiter verstärkt wurden.
Ein so bedeutendes Buch wie dieses ehrt man am besten, indem man es kritisiert. Kritik könnte ansetzen beim Titel, den ich unangemessen theologisch finde, und sie hätte zu schließen mit der Frage, ob die im Fazit vollzogene, allzu enge Festlegung des deutschen Antisemitismus auf Antimodernismus tatsächlich das abdeckt, was im Buch entwickelt wird. Dazwischen wären die Versäumnisse zu notieren, die auch bei dieser gewaltigen Leistung noch zu verzeichnen sind. Der Einfluß Richard Wagners und Bayreuths kommt viel zu kurz, der Antisemitismus in der Literatur und den kulturellen Zeitschriften, etwa M. G. Conrads "Gesellschaft" oder dem kurzzeitig von Heinrich Mann (!) herausgegebenen "Zwanzigsten Jahrhundert", bleibt weithin unbeachtet, desgleichen die wichtige Verbindung zur Bodenreformbewegung (Ottomar Beta) oder zur völkischen Rechts- und Justizkritik (Lehmann-Hohenberg). Auch die Infiltration in die nichtantisemitische Tagespresse wäre einer gründlichen Untersuchung wert. Führende Köpfe des Antisemitismus, Erwin Bauer etwa oder Max Bewer, arbeiteten als Journalisten in gediegen-bürgerlichen Blättern, manche vermochten ihnen sogar zeitweise ihren Stempel aufzudrücken wie Friedrich Lange in der "Täglichen Rundschau".
Das kann und soll hier nicht vertieft werden. Ich begnüge mich mit dem Hinweis auf ein konzeptionelles Problem. Ferrari Zumbini organisiert sein Material so, daß es die Herausbildung eines radikalen, letztlich exterministischen Antisemitismus faßbar machen soll, der im Nationalsozialismus kulminiert. Dieser radikale Antisemitismus ist bei ihm identisch mit einer bestimmten Denkweise, die er als rassisch-biologischen Determinismus charakterisiert. Folgerichtig schildert er die Geschichte des kaiserzeitlichen Antisemitismus als Konflikt zwischen diesem und einem anderen Muster, das durch sozialkulturelle (vor allem: religiöse und politische) Begründungen und weniger mörderische Konsequenzen geprägt sei.
Unübersichtliche Motivlage
Eine solche Koppelung von Motiven und Strategien stößt aber auf erhebliche Schwierigkeiten. Ein religiöser Antisemit wie Stoecker räumte rassenanthropologischen Behauptungen ein weit größeres Gewicht ein, als es diese Einteilung zuläßt, und für einen Rassenideologen wie Fritsch zeigt Ferrari Zumbini selbst, wie stark er durch den Einfluß eines nationalreligiösen Fundamentalisten wie Lagarde geprägt ist. Ein Exponent des Nationalsozialismus wie Alfred Rosenberg begründete seine Rassenlehre keineswegs mit biologischen Argumenten, während umgekehrt der Biologie (oder besser Pseudobiologie) näherstehende Autoren wie Alfred Ploetz oder Fritz Lenz einen gemäßigten Antisemitismus vertraten. Radikalantisemitische Rassentheoretiker wie Hans F. K. Günther wiederum sahen in den Juden keine Rasse, sondern ein Volk.
Schwierigkeiten dieser Art lassen es geraten erscheinen, die Unterscheidung von gemäßigtem und radikalem Antisemitismus von den Motiven und Gründen der Antisemiten abzukoppeln. Reinhard Rürup und Thomas Nipperdey haben dieser Problemlage Rechnung getragen, als sie seinerzeit den Radikalantisemitismus durch die Forderung nach Rücknahme der Emanzipation definierten und den gemäßigten Antisemitismus durch eine Politik der sozialen und administrativen Diskriminierung, die an der Tatsache der Emanzipation nicht rüttelt. Die Frage nach den Motiven und Gründen wird damit nicht beiseite geschoben. Sie wird nur auf eine andere Ebene verlagert, wo sie dann mit Hilfe neuer, spezifischer Typen bearbeitet werden kann. Aber auch hierfür gilt: Es ist noch viel zu tun.
STEFAN BREUER
Massimo Ferrari Zumbini: "Die Wurzeln des Bösen". Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2003. 774 S., 4 Abb., geb., 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Beeindruckt, aber nicht gänzlich überzeugt ist Friedrich Niewöhner von Massimo Ferrari Zumbinis Buch "Wurzeln des Bösen", mit dem Zumbini, Professor für deutsche Kultur in Viterbo, eine Geschichte der "deutschen Unku ltur" vorgelegt hat, so Niewöhner, eine Geschichte des Antisemitismus in Deutschland", wie es sie auf diesem Niveau, in dieser Zusammenstellung und auf einer solchen Quellenbasis noch nicht gegeben hat. Eine zentrale Rolle in der weiteren Antisemitismus-Forschung sagt Niewöhner dieser Studie voraus, die mit einer Untersuchung über "Die Juden im Kaiserreich" beginnt und mit Auschwitz endet. Doch zweifelt Niewöhner daran, dass sich die gesamte deutsche Geschichte "von 'Auschwitz' her' lesen lasse, wie er das Zumbini zuschreibt: Selbst die Einführung der Pickelhaube, stöhnt Niewöhner, werde zum "Zeugnis des Bösen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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