Nishino ist der perfekte Liebhaber, der die geheimen Wünsche jeder Frau errät. Warum hat keine seiner Lieben Bestand? Es beginnt schon in der Schule. Warum ist die Welt so unendlich? fragt Nishino seine Freundin, um sie gleich mit der nächsten zu betrügen. Ein Mädchen spricht ihn auf der Straße an und will sofort Sex mit ihm. Seine Chefin hat sich geschworen, nichts mit ihm anzufangen, bis er sie aus heiterem Himmel verführt. In seinen Fünfzigern möchte er zusammen mit einer jungen Geliebten sterben, doch so weit will sie nicht mit ihm gehen. "Die zehn Lieben des Nishino" erzählt nicht nur von diesen zehn Beziehungen, sondern - poetisch und genau - vom Verhältnis zwischen Mann und Frau.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.2019Königreich des ewigen Spätsommers
Hiromi Kawakami erkundet alte Formen der Zuneigung in einem modernen Japan
Die 1958 in Tokio geborene studierte Naturwissenschaftlerin Hiromi Kawakami machte sich als Alchemistin der Liebe - ihr Klassiker "Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß" ist eine Liebesanbahnungsgeschichte zwischen einer jungen Frau zu einem ehemaligen Lehrer - und als Chronistin deren Scheiterns wie in "Am Meer ist es wärmer" einen Namen. Zwischen ebenjenen naturmagischen Polen im Geschlechterspiel zwischen Anziehung und Abstoßung oszilliert auch die nun ins Deutsche übersetzten "Zehn Lieben des Nishino", ein Roman von 2003.
Zehn Episoden verweben sich - erzählt werden sie anstatt aus der Perspektive des Galans Nishino aus Sicht seiner Geliebten - zu einem melancholisch-postmodernen Sinnesreigen und zersplitternden Glasperlenspiel der Liebe. Im Fokus steht ein vor sich selbst, dem Erwachsenwerden, der Gesellschaft und wahrer Liebe flüchtender, im Lesefluss alternder Casanova. Der gutsituierte Nishino, ein "verspielter Charmeur", ist "im Herzen" pflichtbewusst. Bruchstellen der japanischen Gesellschaft spiegeln sich im Psychogramm des Schwerenöters, gesellschaftliche Restrukturierung geht mit Neuorganisation von Intimität einher.
Kinderlosigkeit und Bindungsarmut in Zeiten von Abstiegsängsten und Infantilität statt sozialer Teilhabe prägen Nishino ebenso wie seine das eigentliche Wort führende, trennungsinitiativ werdende Geliebte. Die Episode "Gute Nacht" über den amour fou zur Kollegin Manami erzählt ätherisch vom Verharren an der Schwelle der Liebe: "Wir waren besorgt. Entrückt. Verzweifelt. Wir waren leicht. Drauf und dran, einander zu lieben." Den Wunsch nach Konservierung der Gefühle in glücksfernen spätkapitalistischen Zeiten bezeugt das Glockenspiel einer Kaufhausuhr, deren Figuren zur vollen Stunde tanzend wiederkehren.
Gewitzte Dialoge um trial and error der Liebe umfängt Trauer darüber, dass Menschen sich ändern. Grenzen zwischen Verlassenden und Verlassenen verlieren sich, wenn sich die um Nishinos Liebesüberdruss besser als er selbst wissende Manami vorauseilend von ihm trennt. Naturreligiöse und buddhistische Ideen klingen an. Die Krux verpasster Gunstbezeugung gebiert Wünsche, den Kreisläufen des Liebesleids zu entfliehen. Wassermotive spiegeln fluide Existenzen als Nomaden der Liebe.
Der hehre Traum vom endlosen Moratorium der Jugend und vom Naturgesetz ewiger Liebe wird in den Wunsch der Schriftstellerin Rei nach einem, so der Episodentitel, "Königreich des Spätsommers" gekleidet, wo es "immer Sommer ist, die Grillen niemals aufhören zu zirpen und ein weiser alter König herrscht". Kawakamis Erzählkunst fokussiert die Macht der Gefühle just an den Schaltkreisen und Scheitelpunkten der Liebe, den sie in ihrer Grammatik der Sinne ("Ich liebe dich. Ich habe dich geliebt") ebenso traumwandlerisch wie tiefenscharf durchdekliniert.
Die Episode "Der Turm, der in den Himmel wächst" (so die Übersetzung von "Tsûtenkaku", dem Namen des dem Eiffelturm als Symbol der Stadt der Liebe nachgebauten Aussichtsturms in Osaka) porträtiert die Teilzeitarbeiterin Subaru, die sich aus instabilen Amouren und Arbeitsverhältnissen hinwegträumt zum emblematischen Sehnsuchtsort ebendes Tsûtenkaku und zum darin aufbewahrten Glücksgott Biliken. Geschult an Gabriel García Márquez und J. G. Ballard, entfaltet Kawakami einen magischen Realismus, so etwa in der Episode "Weintrauben", die die im Fieberwahn imaginierte Beisetzung Nishinos in science-fiction-artige Bilder fasst. So illustriert etwa ein in drei Millionen Jahren alles überziehender Andromedanebel die Angst vor einer Erde ohne Nacht und Liebe.
Auch wenn sich Erzählstränge gelegentlich verirren - wenig überzeugt zum Beispiel Nishinos metaphorische Suche nach dem Ebenbild seiner tragisch gestorbenen Schwester in der Geliebten -, können Kawakami-Liebhaber typische Ingredienzen wiederfinden: Wie Jahreszeitenlyrik, lukullische Euphorie ("Thunfisch aus dem Herbstfang") oder Vergänglichkeitsmotive, wenn die Liebenden sich auf einem Stück Treibholz am Strand zum Rendezvous treffen. Die Episoden erinnern mitunter an "Bilder der fließenden Welt", wie die traditionellen japanischen Farbholzschnitte in ihrer Heimat genannt werden.
STEFFEN GNAM.
Hiromi Kawakami: "Die zehn Lieben des Nishino". Roman.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Carl Hanser Verlag, München 2019. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hiromi Kawakami erkundet alte Formen der Zuneigung in einem modernen Japan
Die 1958 in Tokio geborene studierte Naturwissenschaftlerin Hiromi Kawakami machte sich als Alchemistin der Liebe - ihr Klassiker "Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß" ist eine Liebesanbahnungsgeschichte zwischen einer jungen Frau zu einem ehemaligen Lehrer - und als Chronistin deren Scheiterns wie in "Am Meer ist es wärmer" einen Namen. Zwischen ebenjenen naturmagischen Polen im Geschlechterspiel zwischen Anziehung und Abstoßung oszilliert auch die nun ins Deutsche übersetzten "Zehn Lieben des Nishino", ein Roman von 2003.
Zehn Episoden verweben sich - erzählt werden sie anstatt aus der Perspektive des Galans Nishino aus Sicht seiner Geliebten - zu einem melancholisch-postmodernen Sinnesreigen und zersplitternden Glasperlenspiel der Liebe. Im Fokus steht ein vor sich selbst, dem Erwachsenwerden, der Gesellschaft und wahrer Liebe flüchtender, im Lesefluss alternder Casanova. Der gutsituierte Nishino, ein "verspielter Charmeur", ist "im Herzen" pflichtbewusst. Bruchstellen der japanischen Gesellschaft spiegeln sich im Psychogramm des Schwerenöters, gesellschaftliche Restrukturierung geht mit Neuorganisation von Intimität einher.
Kinderlosigkeit und Bindungsarmut in Zeiten von Abstiegsängsten und Infantilität statt sozialer Teilhabe prägen Nishino ebenso wie seine das eigentliche Wort führende, trennungsinitiativ werdende Geliebte. Die Episode "Gute Nacht" über den amour fou zur Kollegin Manami erzählt ätherisch vom Verharren an der Schwelle der Liebe: "Wir waren besorgt. Entrückt. Verzweifelt. Wir waren leicht. Drauf und dran, einander zu lieben." Den Wunsch nach Konservierung der Gefühle in glücksfernen spätkapitalistischen Zeiten bezeugt das Glockenspiel einer Kaufhausuhr, deren Figuren zur vollen Stunde tanzend wiederkehren.
Gewitzte Dialoge um trial and error der Liebe umfängt Trauer darüber, dass Menschen sich ändern. Grenzen zwischen Verlassenden und Verlassenen verlieren sich, wenn sich die um Nishinos Liebesüberdruss besser als er selbst wissende Manami vorauseilend von ihm trennt. Naturreligiöse und buddhistische Ideen klingen an. Die Krux verpasster Gunstbezeugung gebiert Wünsche, den Kreisläufen des Liebesleids zu entfliehen. Wassermotive spiegeln fluide Existenzen als Nomaden der Liebe.
Der hehre Traum vom endlosen Moratorium der Jugend und vom Naturgesetz ewiger Liebe wird in den Wunsch der Schriftstellerin Rei nach einem, so der Episodentitel, "Königreich des Spätsommers" gekleidet, wo es "immer Sommer ist, die Grillen niemals aufhören zu zirpen und ein weiser alter König herrscht". Kawakamis Erzählkunst fokussiert die Macht der Gefühle just an den Schaltkreisen und Scheitelpunkten der Liebe, den sie in ihrer Grammatik der Sinne ("Ich liebe dich. Ich habe dich geliebt") ebenso traumwandlerisch wie tiefenscharf durchdekliniert.
Die Episode "Der Turm, der in den Himmel wächst" (so die Übersetzung von "Tsûtenkaku", dem Namen des dem Eiffelturm als Symbol der Stadt der Liebe nachgebauten Aussichtsturms in Osaka) porträtiert die Teilzeitarbeiterin Subaru, die sich aus instabilen Amouren und Arbeitsverhältnissen hinwegträumt zum emblematischen Sehnsuchtsort ebendes Tsûtenkaku und zum darin aufbewahrten Glücksgott Biliken. Geschult an Gabriel García Márquez und J. G. Ballard, entfaltet Kawakami einen magischen Realismus, so etwa in der Episode "Weintrauben", die die im Fieberwahn imaginierte Beisetzung Nishinos in science-fiction-artige Bilder fasst. So illustriert etwa ein in drei Millionen Jahren alles überziehender Andromedanebel die Angst vor einer Erde ohne Nacht und Liebe.
Auch wenn sich Erzählstränge gelegentlich verirren - wenig überzeugt zum Beispiel Nishinos metaphorische Suche nach dem Ebenbild seiner tragisch gestorbenen Schwester in der Geliebten -, können Kawakami-Liebhaber typische Ingredienzen wiederfinden: Wie Jahreszeitenlyrik, lukullische Euphorie ("Thunfisch aus dem Herbstfang") oder Vergänglichkeitsmotive, wenn die Liebenden sich auf einem Stück Treibholz am Strand zum Rendezvous treffen. Die Episoden erinnern mitunter an "Bilder der fließenden Welt", wie die traditionellen japanischen Farbholzschnitte in ihrer Heimat genannt werden.
STEFFEN GNAM.
Hiromi Kawakami: "Die zehn Lieben des Nishino". Roman.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Carl Hanser Verlag, München 2019. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Luftig und federleicht, mit einem Hauch poetischer Melancholie. Ein schönes Buch für stille Stunden." Die Presse am Sonntag, 08.09.19
"Ein leichtfüßiger, poetisch-heiterer Roman über einen Schwerenöter, der so gerne lieben möchte, aber nicht kann. ... Hiromi Kawakami hat eine ganz eigene, zugleich karge und sehr bildreiche Sprache. Sie wahrt Diestanz zu ihren Figuren und kommt ihnen genau dadurch nahe." Roana Brogsitter, BR5, 27.02.19
"Gewitzte Dialoge um trial and error der Liebe umfängt Trauer darüber, dass Menschen sich ändern. ... Kawakami-Liebhaber können typische Ingredienzen wiederfinden: Wie Jahreszeitenlyrik, lukullische Euphorie ... oder Vergänglichkeitsmotive." Steffen Gnam, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.02.19
"Kawakamis schwebender Tonfall, der eine ganz stille Wucht entfaltet, macht diese zehn Liebesgeschichten zu einem bittersüßen Einblick in die Gefühlswelt von Frauen in Japan." Meike Schnitzler, Brigitte, 30.01.19
"Dass Verliebtsein vor allem auch Projektion und Spiegelung der eigenen Sehnsüchte, Eifersucht und Sehnsucht sein kann, beschreibt Kawakami mit Zärtlichkeit und Ironie zugleich." erl, Nürnberger Nachrichten, 02.04.19
"Ein leichtfüßiger, poetisch-heiterer Roman über einen Schwerenöter, der so gerne lieben möchte, aber nicht kann. ... Hiromi Kawakami hat eine ganz eigene, zugleich karge und sehr bildreiche Sprache. Sie wahrt Diestanz zu ihren Figuren und kommt ihnen genau dadurch nahe." Roana Brogsitter, BR5, 27.02.19
"Gewitzte Dialoge um trial and error der Liebe umfängt Trauer darüber, dass Menschen sich ändern. ... Kawakami-Liebhaber können typische Ingredienzen wiederfinden: Wie Jahreszeitenlyrik, lukullische Euphorie ... oder Vergänglichkeitsmotive." Steffen Gnam, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.02.19
"Kawakamis schwebender Tonfall, der eine ganz stille Wucht entfaltet, macht diese zehn Liebesgeschichten zu einem bittersüßen Einblick in die Gefühlswelt von Frauen in Japan." Meike Schnitzler, Brigitte, 30.01.19
"Dass Verliebtsein vor allem auch Projektion und Spiegelung der eigenen Sehnsüchte, Eifersucht und Sehnsucht sein kann, beschreibt Kawakami mit Zärtlichkeit und Ironie zugleich." erl, Nürnberger Nachrichten, 02.04.19