Schmutz, Slums, Industrie, zusammengepferchte Menschen, ständig neue Epidemien... - Kritik an der modernen Großstadt hat es seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert immer gegeben. Auf der anderen Seite stehen die neuartigen Möglichkeiten großstädtischen Lebens: reichhaltige Kulturangebote, gut ausgebaute Verkehrsnetze, eine Infrastruktur, die das Leben der Menschen entscheidend verändert hat.
Manchester, St. Petersburg, München und Barcelona sind die vier faszinierenden, ebenso typischen wie eigenwilligen Metropolen, deren wechselvolle Geschichte Clemens Zimmermann hier vergleichend ausbreitet - mit Blick auf die jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe.
Manchester, St. Petersburg, München und Barcelona sind die vier faszinierenden, ebenso typischen wie eigenwilligen Metropolen, deren wechselvolle Geschichte Clemens Zimmermann hier vergleichend ausbreitet - mit Blick auf die jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.1996Der Metropolenkomplex
Clemens Zimmermann zeichnet vier urbane Porträts
Welche Stadt des neunzehnten Jahrhunderts würde einen, gesetzt den Fall, H. G. Wells' phantastische Zeitmaschine stünde reisefertig, von der Rückkehr in die Gegenwart abhalten? Die Maschinenmetropole Manchester, das kosmopolitische Sankt Petersburg, das kunstsinnige München oder das vitale Barcelona? Gewiß wäre jeder etwas abzugewinnen. Allemal dem eleganten Petersburger Newski-Prospekt und sogar - viktorianische Neigung zum Monströsen vorausgesetzt - den rauchenden Schornsteinen Manchesters.
Am Ende würde die Wahl wohl auf Barcelona fallen. Im Vergleich schneidet die katalanische Stadt am besten ab, hält man die materialreichen Porträts des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Clemens Zimmermann nebeneinander. Nach der Weltausstellung von 1888 machte die bedeutendste Industriestadt Spaniens auch auf kulturellem Gebiet einen gewaltigen Sprung nach vorn und stieg zur europäischen Metropole auf. Ökonomische Potenz verband sich - inmitten der ästhetischen Geschlossenheit qualitätvoller modernistischer Architektur - mit einer vielfältigen Stadtkultur, die die Entstehung "guter" und "schlechter" Viertel lange zu verhindern half. Eine auffällige sozialräumliche Differenzierung wies Barcelona erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf.
Gebündelte wirtschaftliche und kulturelle Energie definieren die Metropole ebenso wie funktionelle Spezialisierung und Begegnungsdichte. "Soziale Segregation" ist Zimmermanns wichtigster Parameter bei der Beschreibung städtischer Raumstrukturen und deren Entwicklung. Der für das neunzehnte Jahrhundert dominante Typus der Industriegroßstadt soll die Komplexität der urbanen Wirklichkeit dieses Zeitalters zeigen. Zimmermanns Feinraster akzentuiert Differenzierungsprozesse innerhalb sozialer Schichten ebenso wie die Gleichzeitigkeit von Avantgarde und Traditionskunst, von Spekulation und Stadtplanung.
Für Friedrich Engels war Manchester das Urmodell der Industriestadt schlechthin. Doch beileibe nicht alle Metropolen des neunzehnten Jahrhunderts ähnelten sich. Die scharfe Segregation der englischen Coketown in ärmliche Arbeiterquartiere und wohlhabende bürgerliche Vorstädte gab es in Sankt Petersburg nicht. Kennzeichnend war hier eine soziale Differenzierung, die sich - wie in Barcelona - innerhalb eines Hauses nach Stockwerken, nicht nach Quartieren vollzog. Daß getrenntes Wohnen umgekehrt nicht zu sozialer Polarisierung führen muß, zeigt München. Die verschiedenen Schichten - Bürger, Arbeiter, unselbständige Handwerker - erfreuten sich noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs gemeinsam eines erstaunlich toleranten kulturellen Klimas.
Die Eigenheiten der vier Städte beschreibt Zimmermann vor dem Hintergrund der grundlegenden sozialen Faktoren, die den Urbanisierungsprozeß antrieben. Dabei schält sich ein idealtypisches Strukturmodell heraus. Es macht deutlich, daß die nachindustriellen global cities die Zentralitätsfunktion der Großstadt industrieller Gesellschaften übernommen und transformiert haben - von der Konzentration wirtschaftlicher Kraft bis hin zur Dynamik kulturellen Wandels. Das Zeitalter der Metropolen ist noch nicht lange abgelaufen. THOMAS MEDICUS
Clemens Zimmermann: "Die Zeit der Metropolen". Urbanisierung und Großstadtentwicklung. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1996. 192 S., br., 18,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Clemens Zimmermann zeichnet vier urbane Porträts
Welche Stadt des neunzehnten Jahrhunderts würde einen, gesetzt den Fall, H. G. Wells' phantastische Zeitmaschine stünde reisefertig, von der Rückkehr in die Gegenwart abhalten? Die Maschinenmetropole Manchester, das kosmopolitische Sankt Petersburg, das kunstsinnige München oder das vitale Barcelona? Gewiß wäre jeder etwas abzugewinnen. Allemal dem eleganten Petersburger Newski-Prospekt und sogar - viktorianische Neigung zum Monströsen vorausgesetzt - den rauchenden Schornsteinen Manchesters.
Am Ende würde die Wahl wohl auf Barcelona fallen. Im Vergleich schneidet die katalanische Stadt am besten ab, hält man die materialreichen Porträts des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Clemens Zimmermann nebeneinander. Nach der Weltausstellung von 1888 machte die bedeutendste Industriestadt Spaniens auch auf kulturellem Gebiet einen gewaltigen Sprung nach vorn und stieg zur europäischen Metropole auf. Ökonomische Potenz verband sich - inmitten der ästhetischen Geschlossenheit qualitätvoller modernistischer Architektur - mit einer vielfältigen Stadtkultur, die die Entstehung "guter" und "schlechter" Viertel lange zu verhindern half. Eine auffällige sozialräumliche Differenzierung wies Barcelona erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf.
Gebündelte wirtschaftliche und kulturelle Energie definieren die Metropole ebenso wie funktionelle Spezialisierung und Begegnungsdichte. "Soziale Segregation" ist Zimmermanns wichtigster Parameter bei der Beschreibung städtischer Raumstrukturen und deren Entwicklung. Der für das neunzehnte Jahrhundert dominante Typus der Industriegroßstadt soll die Komplexität der urbanen Wirklichkeit dieses Zeitalters zeigen. Zimmermanns Feinraster akzentuiert Differenzierungsprozesse innerhalb sozialer Schichten ebenso wie die Gleichzeitigkeit von Avantgarde und Traditionskunst, von Spekulation und Stadtplanung.
Für Friedrich Engels war Manchester das Urmodell der Industriestadt schlechthin. Doch beileibe nicht alle Metropolen des neunzehnten Jahrhunderts ähnelten sich. Die scharfe Segregation der englischen Coketown in ärmliche Arbeiterquartiere und wohlhabende bürgerliche Vorstädte gab es in Sankt Petersburg nicht. Kennzeichnend war hier eine soziale Differenzierung, die sich - wie in Barcelona - innerhalb eines Hauses nach Stockwerken, nicht nach Quartieren vollzog. Daß getrenntes Wohnen umgekehrt nicht zu sozialer Polarisierung führen muß, zeigt München. Die verschiedenen Schichten - Bürger, Arbeiter, unselbständige Handwerker - erfreuten sich noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs gemeinsam eines erstaunlich toleranten kulturellen Klimas.
Die Eigenheiten der vier Städte beschreibt Zimmermann vor dem Hintergrund der grundlegenden sozialen Faktoren, die den Urbanisierungsprozeß antrieben. Dabei schält sich ein idealtypisches Strukturmodell heraus. Es macht deutlich, daß die nachindustriellen global cities die Zentralitätsfunktion der Großstadt industrieller Gesellschaften übernommen und transformiert haben - von der Konzentration wirtschaftlicher Kraft bis hin zur Dynamik kulturellen Wandels. Das Zeitalter der Metropolen ist noch nicht lange abgelaufen. THOMAS MEDICUS
Clemens Zimmermann: "Die Zeit der Metropolen". Urbanisierung und Großstadtentwicklung. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1996. 192 S., br., 18,90 DM.
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