Furios erzählt Karine Tuil von Menschen, die getrieben sind von dem Wunsch nach Anerkennung, Geld und Macht - und beinah tragisch daran scheitern. Ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit, aus der Feder einer der wichtigsten französischen Autorinnen der Gegenwart, nominiert für den Prix Goncourt.
Der Aufstieg des brillanten Managers François Vély scheint unaufhaltsam. Bis seine Exfrau sich aus dem Fenster stürzt, als sie erfährt, dass er wieder heiraten will. Der Tragödie folgt die Entdeckung, dass seine neue Lebensgefährtin in eine Affäre mit einem Offizier verstrickt ist, der völlig traumatisiert aus Afghanistan heimkehrt. Außerdem wird Vély ein Mediencoup zum Verhängnis, man bezichtigt ihn des Rassismus und Sexismus. Als er persönlich und beruflich am Ende ist, ergreift ausgerechnet der Politiker Osman Diboula Partei für ihn - dabei ist Diboula bekannt als Wortführer gegen eine weiße gesellschaftliche Elite. Wenige Wochen später kommt es im Irak zu einer Begegnung aller Beteiligten, die für Vély fatale Konsequenzen hat.
Der Aufstieg des brillanten Managers François Vély scheint unaufhaltsam. Bis seine Exfrau sich aus dem Fenster stürzt, als sie erfährt, dass er wieder heiraten will. Der Tragödie folgt die Entdeckung, dass seine neue Lebensgefährtin in eine Affäre mit einem Offizier verstrickt ist, der völlig traumatisiert aus Afghanistan heimkehrt. Außerdem wird Vély ein Mediencoup zum Verhängnis, man bezichtigt ihn des Rassismus und Sexismus. Als er persönlich und beruflich am Ende ist, ergreift ausgerechnet der Politiker Osman Diboula Partei für ihn - dabei ist Diboula bekannt als Wortführer gegen eine weiße gesellschaftliche Elite. Wenige Wochen später kommt es im Irak zu einer Begegnung aller Beteiligten, die für Vély fatale Konsequenzen hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2017Alle Prosa ist Protest
Warum der Roman nur als Gesellschaftsporträt eine Gegenwart und eine Zukunft hat: Über Karine Tuil und ihr Buch "Die Zeit der Ruhelosen"
Als neulich in einem kleinen Restaurant in der Rue Mazarine in Paris die Literaturwissenschaftlerin Agathe Novak-Lechevalier das Erscheinen des Bandes feierte, den sie in Frankreich gerade über Michel Houellebecq herausgegeben hat, war zwischen den Freunden und Weggefährten des Autors auch Houellebecq selbst. Sie rief ihn zu sich nach vorne und erzählte, wie sie ihm, ohne ihn zu kennen, einen Brief geschrieben hatte und an ihn mit dem Wunsch herangetreten war, über das neunzehnte Jahrhundert zu reden. Er hatte zugesagt, sie hatten sich getroffen und tatsächlich stundenlang über das neunzehnte Jahrhundert gesprochen. Denn im neunzehnten Jahrhundert, das sagte Houellebecq an diesem Abend gerne noch mal, war der Roman in Frankreich sozusagen geboren worden. Nach der Revolution hatten die Schriftsteller zum ersten Mal begriffen, dass die Gesellschaft etwas war, das sich wandelt. Vorher, in der Tragödie und Komödie, war es um die ewigen Dinge gegangen. Balzac dagegen beschrieb die Gesellschaft so, wie sie sich unter den eigenen Augen veränderte. Und weil die Gesellschaft sich noch immer verändere, so Houellebecq, könne die Mission von Romanautoren weiter dieselbe sein.
Er selbst ist der Beweis. Mit seinen Strategien der Verunsicherung und der Analyse der Gegenwartsgesellschaft über den Umweg in die Zukunft versteht Michel Houellebecq es wie kein anderer, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch schreiben in Frankreich auch andere Autoren Gesellschaftsromane, und zwar so gute, dass man, jedenfalls für eine Weile, überhaupt keine Ich-Romane oder biographischen Berichte mehr lesen will, weil diese ein Panorama der Gesellschaft, wie wir es dringend brauchen, gar nicht bieten können. Wenn einen das instabile und fragile soziale Gefüge umtreibt, wenn man es verstehen und analysieren will, kommt es auf die Multiperspektivität genau solcher Panoramen an.
Kann Literatur noch oder überhaupt oder wieder politisch sein, wird gerne gefragt. Dabei erübrigen sich diese Fragen ja, wenn es um Gesellschaftsromane geht. Denn in der Art und Weise, wie sie die verschiedensten Stimmen zu Wort kommen lassen, wie sie einander widerstrebende Bewegungen innerhalb der Gesellschaft miteinander in Beziehung setzen und vereinfachende ideologische Botschaften bekämpfen, sind sie an sich politisch. Der Gesellschaftsroman war auf seine Weise immer politisch und hat nie aufgehört, es zu sein.
Die 44-jährige Pariser Schriftstellerin Karine Tuil entwirft jetzt ein solches politisches Panorama in ihrem Roman "Die Zeit der Ruhelosen", weshalb man ihr Buch, kurz vor den Präsidentschaftswahlen mit dem schillernden Kandidaten Macron, dem von Skandalen zerrütteten Fillon, einem von der eigenen Partei im Stich gelassenen Hamon und der Drohung, die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen könne am Ende womöglich an die Macht kommen, beinahe gierig in die Hände nimmt. Macron, Fillon, Hamon, Marine Le Pen und die Wahlen - sie kommen in "Die Zeit der Ruhelosen" nicht vor, doch gibt es Anspielungen auf real existierende Figuren in Politik und Medien, die das Ganze im Jetzt verorten.
Nur heißt das nicht, dass der Roman ausschließlich in Frankreichs politischer Klasse spielt. Karine Tuil geht mit vier fiktionalen Hauptfiguren ins Rennen, von denen drei in der Sphäre der Politik, der Medien und der Wirtschaft zu Hause sind oder gerne zu Hause wären. Es ist der 51-jährige Chef eines der größten Mobilfunkunternehmens, François Vély, zehntreichster Mann Frankreichs, der eine Weile lang Anbieter für Online-Sexdienste und Peepshows gekauft und im Internet Websites mit Pornovideos aufgebaut hatte, um dann wieder ins Telekommunikationsgeschäft einzusteigen und, in der Hoffnung auf Prestigegewinn, Teilhaber einer der größten Tageszeitungen geworden war. Es ist seine neue Freundin, die Journalistin und Schriftstellerin Marion Decker, Ende zwanzig, die an einer Reportage über traumatisierte Soldaten in Auslandseinsätzen arbeitet und ihrerseits traumatisiert ist: Als Vély seine Exfrau um ihr Einverständnis gebeten hatte, die junge neue Freundin heiraten zu dürfen, war die Frau aus dem Fenster gesprungen. Die Kinder aus erster Ehe hat das Paar seither gegen sich, insbesondere den Sohn, der als Reaktion auf den Tod der Mutter ein neues Leben als orthodoxer Jude führt.
Und es ist Osman Diboula, ein schwarzer Politiker, im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois groß geworden, der dort zunächst als Sozialarbeiter arbeitete, bis es ihm gelang, ohne den klassischen Ausbildungsweg, ohne Eliteuniversität und Diplom, aber mit unbändigem Ehrgeiz einen Posten im Beraterstab des französischen Präsidenten zu bekommen.
Dass das Spektrum auf diese Weise größer ist als das jener kleinen Gruppe Bürgerlich-Intellektueller, die in Paris zwischen Élysée-Palast und dem "Café de Flore" zu Hause sind, einer Gruppe, die einem in der französischen Literatur der Gegenwart ja immer überrepräsentiert vorkommt, ist damit von der ersten Seite an klar. Für Karine Tuil, die aus einer tunesisch-jüdischen Familie stammt und als Einwandererkind in der Banlieue aufgewachsen ist, ist diese Banlieue nicht weniger wichtig, als es die Salons der politischen Klasse im Zentrum von Paris sind. Und nicht zufällig handelt es sich bei der Banlieue im Roman um Clichy-sous-Bois, um jenen Vorort also, von dem vor zwölf Jahren die Unruhen in den Vorstädten ausgingen, als im Oktober 2005 zwei junge Menschen starben, die vor der Polizei Zuflucht in einem Transformatorenhäuschen gesucht hatten. Clichy steht seither für alle Probleme, die die soziale Situation in den französischen Banlieues betreffen.
Tuil gelingt nun ein Kunststück. Sie führt eine vierte Figur ein, einen im Auslandseinsatz in Afghanistan traumatisierten französischen Soldaten, und schafft damit den notwendigen Kitt, der in ihrem Gesellschaftsroman alles zusammenhält. Romain Roller heißt dieser Soldat, auch er war einmal ein Kind aus Clichy-sous-Bois, Teil einer Gang von vier Freunden, von denen drei zur Armee gingen, der vierte die Aufnahmeprüfung aber nicht schaffte, sich mit Rap-Texten von Mafia K'1 Fry zudröhnte und, als die anderen weg waren, zum radikalen Islamisten entwickelte. Als Roller beim Einsatz in einen Hinterhalt gerät, kommt einer der Freunde ums Leben, der andere wird verstümmelt. Er kommt nicht damit zurecht, dass er sie nicht hat schützen können. Die für ihre Reportage recherchierende Journalistin Marion Decker beginnt, sich für den Traumatisierten zu interessieren, sie verlieben sich ineinander, und François Vély wird zu Rollers Gegenspieler.
Sie habe erst einen Roman schreiben wollen, der das moralische und mentale Leid eines Soldaten in den Mittelpunkt rückt, hat Karine Tuil in Interviews gesagt. Im Sommer 2008 gerieten einige französische Soldaten im Uzbin-Tal in einen Hinterhalt der Taliban und kamen dabei ums Leben. Dieser Zwischenfall habe sie sehr beschäftigt. Die Franzosen machten gerade alle Urlaub, während in Afghanistan, im Namen des Kampfes gegen den islamischen Terrorismus, junge Männer um die zwanzig an der Front ihr Leben ließen.
Doch beschäftigte sie glücklicherweise zugleich noch so vieles andere, was sie davon abhielt, sich auf die Fallgeschichte zu beschränken. Roller ist im Roman eine starke Figur - nicht weil er im Mittelpunkt stünde, sondern weil Tuil ihn so facettenreich anlegt, dass die Verbindungen zu den anderen Figuren an keiner Stelle konstruiert wirken. Nicht einmal als klar wird, dass der ehrgeizige Politiker Osman Diboula der für die vier Freunde um Roller zuständige Sozialarbeiter in Clichy-sous-Bois gewesen war, zu dem sie während all der Jahre Kontakt hielten, denkt man beim Lesen: "So ein Zufall, dass die sich jetzt auch alle von früher kennen . . .!" Dazu ist das Netz der Figuren bei Karine Tuil viel zu elegant angelegt.
Alles hängt mit allem zusammen und steht gleichzeitig völlig unversöhnlich da. Das macht die beklemmende und immerzu dunkle Stimmung in diesem Roman aus, der alle Figuren zusammen in den Abgrund schickt. Karine Tuil leuchtet die sozialen Verhältnisse aus. Doch ist ihr Licht niemals schmeichelhaft. An keiner Stelle. Sie registriert Konfliktlinien und beschreibt, wie, sobald Konflikte an einer Stelle gelöst werden, im selben Moment an anderer Stelle welche neu aufbrechen. Eine Kaskadenbewegung - unaufhaltsam und beunruhigend.
"Wie kann man sich in einer Gesellschaft verwirklichen, die so verdorben ist durch identitäre Streitereien, durch Rassismus und Antisemitismus? Und welchen Preis muss man dafür bezahlen?", fragt sie. Um Dichotomien geht es ihr dabei nicht. Es gibt nicht die Abgehängten aus Clichy-sous-Bois auf der einen Seite und die Gewinner der bürgerlichen Klasse auf der anderen. Es gibt in den gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhängen nur Menschen, denen es nicht möglich ist, sich in einer, um es mit Houellebecq zu sagen, immer stärker ausweitenden Kampfzone nicht schuldig zu machen.
Der Gesellschaftsroman, sagt Karine Tuil, sei nicht wichtiger geworden als früher. Er sei immer schon wichtig gewesen. "Aber wir erleben gerade heftige Zeiten, die uns vor besondere moralische und eben auch schriftstellerische Herausforderungen stellen. Ich könnte heute keinen nur persönlichen oder rein fiktionalen Text schreiben. Die Fiktion hilft mir, die Realität zu begreifen, und ich arbeite zunehmend dokumentarisch, meine Stoffe nähren sich von tatsächlichen Gegebenheiten. Allerdings läuft diese Konfrontation mit der Realität nicht ohne Reibungsverluste ab."
Mario Vargas Llosa habe in "Die Wahrheit der Lügen" gesagt, dass "im Herzen jeder Fiktion ein Protest" glühe. Und genau das sei ihr neuer Roman: "Ein Protest gegen die Welt, in der wir leben und in der jede Bewegung vom Ende der Unschuld zu künden scheint."
In "Die Zeit der Ruhelosen" schreibt die Journalistin und Schriftstellerin Marion Decker am Ende weder eine Reportage noch einen neuen Roman. Sie ist mit Roller in den Bergen und hat Jorge Semprúns "Schreiben oder Leben" im Gepäck. Für Karine Tuil ist Schreiben oder Leben zum Glück keine Frage des Entweder-oder. Sie hat eins der besten und spannendsten Bücher dieses Frühjahrs geschrieben.
JULIA ENCKE
Karine Tuil: "Die Zeit der Ruhelosen". Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff. Ullstein, 512 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum der Roman nur als Gesellschaftsporträt eine Gegenwart und eine Zukunft hat: Über Karine Tuil und ihr Buch "Die Zeit der Ruhelosen"
Als neulich in einem kleinen Restaurant in der Rue Mazarine in Paris die Literaturwissenschaftlerin Agathe Novak-Lechevalier das Erscheinen des Bandes feierte, den sie in Frankreich gerade über Michel Houellebecq herausgegeben hat, war zwischen den Freunden und Weggefährten des Autors auch Houellebecq selbst. Sie rief ihn zu sich nach vorne und erzählte, wie sie ihm, ohne ihn zu kennen, einen Brief geschrieben hatte und an ihn mit dem Wunsch herangetreten war, über das neunzehnte Jahrhundert zu reden. Er hatte zugesagt, sie hatten sich getroffen und tatsächlich stundenlang über das neunzehnte Jahrhundert gesprochen. Denn im neunzehnten Jahrhundert, das sagte Houellebecq an diesem Abend gerne noch mal, war der Roman in Frankreich sozusagen geboren worden. Nach der Revolution hatten die Schriftsteller zum ersten Mal begriffen, dass die Gesellschaft etwas war, das sich wandelt. Vorher, in der Tragödie und Komödie, war es um die ewigen Dinge gegangen. Balzac dagegen beschrieb die Gesellschaft so, wie sie sich unter den eigenen Augen veränderte. Und weil die Gesellschaft sich noch immer verändere, so Houellebecq, könne die Mission von Romanautoren weiter dieselbe sein.
Er selbst ist der Beweis. Mit seinen Strategien der Verunsicherung und der Analyse der Gegenwartsgesellschaft über den Umweg in die Zukunft versteht Michel Houellebecq es wie kein anderer, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch schreiben in Frankreich auch andere Autoren Gesellschaftsromane, und zwar so gute, dass man, jedenfalls für eine Weile, überhaupt keine Ich-Romane oder biographischen Berichte mehr lesen will, weil diese ein Panorama der Gesellschaft, wie wir es dringend brauchen, gar nicht bieten können. Wenn einen das instabile und fragile soziale Gefüge umtreibt, wenn man es verstehen und analysieren will, kommt es auf die Multiperspektivität genau solcher Panoramen an.
Kann Literatur noch oder überhaupt oder wieder politisch sein, wird gerne gefragt. Dabei erübrigen sich diese Fragen ja, wenn es um Gesellschaftsromane geht. Denn in der Art und Weise, wie sie die verschiedensten Stimmen zu Wort kommen lassen, wie sie einander widerstrebende Bewegungen innerhalb der Gesellschaft miteinander in Beziehung setzen und vereinfachende ideologische Botschaften bekämpfen, sind sie an sich politisch. Der Gesellschaftsroman war auf seine Weise immer politisch und hat nie aufgehört, es zu sein.
Die 44-jährige Pariser Schriftstellerin Karine Tuil entwirft jetzt ein solches politisches Panorama in ihrem Roman "Die Zeit der Ruhelosen", weshalb man ihr Buch, kurz vor den Präsidentschaftswahlen mit dem schillernden Kandidaten Macron, dem von Skandalen zerrütteten Fillon, einem von der eigenen Partei im Stich gelassenen Hamon und der Drohung, die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen könne am Ende womöglich an die Macht kommen, beinahe gierig in die Hände nimmt. Macron, Fillon, Hamon, Marine Le Pen und die Wahlen - sie kommen in "Die Zeit der Ruhelosen" nicht vor, doch gibt es Anspielungen auf real existierende Figuren in Politik und Medien, die das Ganze im Jetzt verorten.
Nur heißt das nicht, dass der Roman ausschließlich in Frankreichs politischer Klasse spielt. Karine Tuil geht mit vier fiktionalen Hauptfiguren ins Rennen, von denen drei in der Sphäre der Politik, der Medien und der Wirtschaft zu Hause sind oder gerne zu Hause wären. Es ist der 51-jährige Chef eines der größten Mobilfunkunternehmens, François Vély, zehntreichster Mann Frankreichs, der eine Weile lang Anbieter für Online-Sexdienste und Peepshows gekauft und im Internet Websites mit Pornovideos aufgebaut hatte, um dann wieder ins Telekommunikationsgeschäft einzusteigen und, in der Hoffnung auf Prestigegewinn, Teilhaber einer der größten Tageszeitungen geworden war. Es ist seine neue Freundin, die Journalistin und Schriftstellerin Marion Decker, Ende zwanzig, die an einer Reportage über traumatisierte Soldaten in Auslandseinsätzen arbeitet und ihrerseits traumatisiert ist: Als Vély seine Exfrau um ihr Einverständnis gebeten hatte, die junge neue Freundin heiraten zu dürfen, war die Frau aus dem Fenster gesprungen. Die Kinder aus erster Ehe hat das Paar seither gegen sich, insbesondere den Sohn, der als Reaktion auf den Tod der Mutter ein neues Leben als orthodoxer Jude führt.
Und es ist Osman Diboula, ein schwarzer Politiker, im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois groß geworden, der dort zunächst als Sozialarbeiter arbeitete, bis es ihm gelang, ohne den klassischen Ausbildungsweg, ohne Eliteuniversität und Diplom, aber mit unbändigem Ehrgeiz einen Posten im Beraterstab des französischen Präsidenten zu bekommen.
Dass das Spektrum auf diese Weise größer ist als das jener kleinen Gruppe Bürgerlich-Intellektueller, die in Paris zwischen Élysée-Palast und dem "Café de Flore" zu Hause sind, einer Gruppe, die einem in der französischen Literatur der Gegenwart ja immer überrepräsentiert vorkommt, ist damit von der ersten Seite an klar. Für Karine Tuil, die aus einer tunesisch-jüdischen Familie stammt und als Einwandererkind in der Banlieue aufgewachsen ist, ist diese Banlieue nicht weniger wichtig, als es die Salons der politischen Klasse im Zentrum von Paris sind. Und nicht zufällig handelt es sich bei der Banlieue im Roman um Clichy-sous-Bois, um jenen Vorort also, von dem vor zwölf Jahren die Unruhen in den Vorstädten ausgingen, als im Oktober 2005 zwei junge Menschen starben, die vor der Polizei Zuflucht in einem Transformatorenhäuschen gesucht hatten. Clichy steht seither für alle Probleme, die die soziale Situation in den französischen Banlieues betreffen.
Tuil gelingt nun ein Kunststück. Sie führt eine vierte Figur ein, einen im Auslandseinsatz in Afghanistan traumatisierten französischen Soldaten, und schafft damit den notwendigen Kitt, der in ihrem Gesellschaftsroman alles zusammenhält. Romain Roller heißt dieser Soldat, auch er war einmal ein Kind aus Clichy-sous-Bois, Teil einer Gang von vier Freunden, von denen drei zur Armee gingen, der vierte die Aufnahmeprüfung aber nicht schaffte, sich mit Rap-Texten von Mafia K'1 Fry zudröhnte und, als die anderen weg waren, zum radikalen Islamisten entwickelte. Als Roller beim Einsatz in einen Hinterhalt gerät, kommt einer der Freunde ums Leben, der andere wird verstümmelt. Er kommt nicht damit zurecht, dass er sie nicht hat schützen können. Die für ihre Reportage recherchierende Journalistin Marion Decker beginnt, sich für den Traumatisierten zu interessieren, sie verlieben sich ineinander, und François Vély wird zu Rollers Gegenspieler.
Sie habe erst einen Roman schreiben wollen, der das moralische und mentale Leid eines Soldaten in den Mittelpunkt rückt, hat Karine Tuil in Interviews gesagt. Im Sommer 2008 gerieten einige französische Soldaten im Uzbin-Tal in einen Hinterhalt der Taliban und kamen dabei ums Leben. Dieser Zwischenfall habe sie sehr beschäftigt. Die Franzosen machten gerade alle Urlaub, während in Afghanistan, im Namen des Kampfes gegen den islamischen Terrorismus, junge Männer um die zwanzig an der Front ihr Leben ließen.
Doch beschäftigte sie glücklicherweise zugleich noch so vieles andere, was sie davon abhielt, sich auf die Fallgeschichte zu beschränken. Roller ist im Roman eine starke Figur - nicht weil er im Mittelpunkt stünde, sondern weil Tuil ihn so facettenreich anlegt, dass die Verbindungen zu den anderen Figuren an keiner Stelle konstruiert wirken. Nicht einmal als klar wird, dass der ehrgeizige Politiker Osman Diboula der für die vier Freunde um Roller zuständige Sozialarbeiter in Clichy-sous-Bois gewesen war, zu dem sie während all der Jahre Kontakt hielten, denkt man beim Lesen: "So ein Zufall, dass die sich jetzt auch alle von früher kennen . . .!" Dazu ist das Netz der Figuren bei Karine Tuil viel zu elegant angelegt.
Alles hängt mit allem zusammen und steht gleichzeitig völlig unversöhnlich da. Das macht die beklemmende und immerzu dunkle Stimmung in diesem Roman aus, der alle Figuren zusammen in den Abgrund schickt. Karine Tuil leuchtet die sozialen Verhältnisse aus. Doch ist ihr Licht niemals schmeichelhaft. An keiner Stelle. Sie registriert Konfliktlinien und beschreibt, wie, sobald Konflikte an einer Stelle gelöst werden, im selben Moment an anderer Stelle welche neu aufbrechen. Eine Kaskadenbewegung - unaufhaltsam und beunruhigend.
"Wie kann man sich in einer Gesellschaft verwirklichen, die so verdorben ist durch identitäre Streitereien, durch Rassismus und Antisemitismus? Und welchen Preis muss man dafür bezahlen?", fragt sie. Um Dichotomien geht es ihr dabei nicht. Es gibt nicht die Abgehängten aus Clichy-sous-Bois auf der einen Seite und die Gewinner der bürgerlichen Klasse auf der anderen. Es gibt in den gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhängen nur Menschen, denen es nicht möglich ist, sich in einer, um es mit Houellebecq zu sagen, immer stärker ausweitenden Kampfzone nicht schuldig zu machen.
Der Gesellschaftsroman, sagt Karine Tuil, sei nicht wichtiger geworden als früher. Er sei immer schon wichtig gewesen. "Aber wir erleben gerade heftige Zeiten, die uns vor besondere moralische und eben auch schriftstellerische Herausforderungen stellen. Ich könnte heute keinen nur persönlichen oder rein fiktionalen Text schreiben. Die Fiktion hilft mir, die Realität zu begreifen, und ich arbeite zunehmend dokumentarisch, meine Stoffe nähren sich von tatsächlichen Gegebenheiten. Allerdings läuft diese Konfrontation mit der Realität nicht ohne Reibungsverluste ab."
Mario Vargas Llosa habe in "Die Wahrheit der Lügen" gesagt, dass "im Herzen jeder Fiktion ein Protest" glühe. Und genau das sei ihr neuer Roman: "Ein Protest gegen die Welt, in der wir leben und in der jede Bewegung vom Ende der Unschuld zu künden scheint."
In "Die Zeit der Ruhelosen" schreibt die Journalistin und Schriftstellerin Marion Decker am Ende weder eine Reportage noch einen neuen Roman. Sie ist mit Roller in den Bergen und hat Jorge Semprúns "Schreiben oder Leben" im Gepäck. Für Karine Tuil ist Schreiben oder Leben zum Glück keine Frage des Entweder-oder. Sie hat eins der besten und spannendsten Bücher dieses Frühjahrs geschrieben.
JULIA ENCKE
Karine Tuil: "Die Zeit der Ruhelosen". Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff. Ullstein, 512 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Sie hat eins der besten und spannendsten Bücher dieses Frühjahrs geschrieben." Julia Encke Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20170319