Berlin nach der Niederlage gegen Napoleon. Preußen liegt wirtschaftlich und politisch am Boden. Zugleich aber öffnet gerade die Niederlage den Weg zu wichtigen Reformen, und bei aller materiellen Not erlebt Berlin weiterhin eine erstaunliche kulturelle Blüte. Im Zuge der sogenann-ten Befreiungskriege gelingt schließlich doch noch der Sieg über Napoleon, der neuerlichen Machtgewinn, aber nicht die erhoffte Einheit und Freiheit bringt.
Wie schon in 'Als Poesie gut', seinem großen Essay über die Berliner Kulturepoche zwischen 1786 und 1807, wird de Bruyn der Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Preußens bedeutendster Epoche dadurch gerecht, dass er sie im Spiegel zahlreicher Einzelporträts und Geschichten reflektiert. Günter de Bruyn erzählt dabei von den berühmten Staatsmännern und Reformern der Zeit wie Hardenberg, Humboldt oder Gneisenau. Souverän und sensibel schildert er die Schicksale großer Autoren der Romantik wie Kleist, Rahel Varnhagen, Eichendorff und E. T. A. Hoffmann. Darüber hinaus aber folgt er auch den Abenteuern und politischen Irrwegen von Zeitgenossen wie Karl von François oder Turnvater Jahn.
Einer der Autoren der Epoche, denen de Bruyns größte Sympathie gilt, ist Adelbert von Chamisso, von dem der Titel des Buches stammt. »Die Zeit der schweren Not« aber - darin liegt die bittere Ironie dieses Verses aus dem Jahr 1813 - meint nicht Hunger und Elend nach der Niederlage gegen Napoleon, sondern die Not eines zum Deutschen gewordenen Franzosen, der inmitten der beginnenden Restauration und Kriegsbegeisterung seiner Zeit zum Außenseiter wird.
Wie schon in 'Als Poesie gut', seinem großen Essay über die Berliner Kulturepoche zwischen 1786 und 1807, wird de Bruyn der Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Preußens bedeutendster Epoche dadurch gerecht, dass er sie im Spiegel zahlreicher Einzelporträts und Geschichten reflektiert. Günter de Bruyn erzählt dabei von den berühmten Staatsmännern und Reformern der Zeit wie Hardenberg, Humboldt oder Gneisenau. Souverän und sensibel schildert er die Schicksale großer Autoren der Romantik wie Kleist, Rahel Varnhagen, Eichendorff und E. T. A. Hoffmann. Darüber hinaus aber folgt er auch den Abenteuern und politischen Irrwegen von Zeitgenossen wie Karl von François oder Turnvater Jahn.
Einer der Autoren der Epoche, denen de Bruyns größte Sympathie gilt, ist Adelbert von Chamisso, von dem der Titel des Buches stammt. »Die Zeit der schweren Not« aber - darin liegt die bittere Ironie dieses Verses aus dem Jahr 1813 - meint nicht Hunger und Elend nach der Niederlage gegen Napoleon, sondern die Not eines zum Deutschen gewordenen Franzosen, der inmitten der beginnenden Restauration und Kriegsbegeisterung seiner Zeit zum Außenseiter wird.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2010Vor dem Sturm
Ach, Preußen! – Günter de Bruyn setzt seine Chronik der Berliner Klassik bis 1815 fort
„Als Poesie gut“, so hieß der Titel von Günter de Bruyns schönem Band, der 2006 ganz altmodisch „Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807“ erzählte und nicht nur beim Neu-Berliner Publikum ein großer Erfolg wurde. Nun ist sein Nachfolger da, der mit einer Verszeile von Adelbert von Chamisso „Die Zeit der schweren Not“ heißt und, in charakteristisch veränderter Formulierung, „Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815“ behandelt. Aus der Kunstepoche wird das Kulturleben, das Feld erweitert sich also vom Ästhetischen, dem Spielfeld des Schönen, zur Kultur allgemein, was heißt: zu den Wissenschaften, aber auch bis ins Militärische. Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz, alle drei begabte Schriftsteller, sind Hauptfiguren.
Das gibt Gelegenheit, auch den Titel des ersten Bandes zu erklären. „Als Poesie gut“ war die Randbemerkung von König Friedrich Wilhelm III. zu einer Denkschrift Gneisenaus vom 8. August 1811, die einen „Plan zu Vorbereitung eines Volksaufstandes“ enthielt und dem der Verfasser ein Gedicht von Friedrich Matthison, einem damals sehr populären Dichter der älteren Generation, vorangestellt hatte: „Wer um Hohes kämpft, muss wagen“, hieß es da, „Leben gilt es oder Tod./ Lass die Woge donnernd branden,/ Nur bleib immer, magst du landen/ Oder scheitern, selbst Pilot!“
Diesen Appell, Führungsstärke zu zeigen, beantwortete der erznüchterne, immer vorsichtig abwartende König also mit dieser, wie de Bruyn festellt, „für seine Verhältnisse ungewöhnlich witzigen“ Anmerkung. Gneisenau erwiderte darauf, auf Poesie sei die Sicherheit der Throne gegründet, mit einem Gedanken also, den zehn Jahre zuvor schon Novalis formuliert hatte. Stellen wir uns vor, Baron Guttenberg würde sein Konzept zur Bundeswehrreform mit einem Enzensberger-Gedicht einleiten, worauf die bekannt ungerührte Kanzlerin etwas Schnippisches erwiderte, und der Verteidungsminister würde dann mit Grünbein nachsetzen. Ach, Preußen!
Es war damals alles ganz eng beieinander. Generale lasen die zeitgenössischen Dichter, die Dichter logierten in den Gutshäusern der Adeligen, die Adeligen korrespondierten und flirteten mit der jüdischen Literaturdame Rahel Levin, bei der alle Fäden zusammenliefen. Dieses verwirrend dichte Personengeflecht stellt de Bruyn mit kunstvoller Schlichtheit wie ein Chronist dar; er folgt dem Verlauf der Jahre, stellt in jedem seiner kurzen Kapitel eine Person in den Mittelpunkt, lässt dann ein nächstes folgen, in dem eine Nebenfigur des vorangehenden Abschnitts zur Hauptfigur wird. Die Chronik funktioniert als Reigen, in dem die Genies sich die Hände reichen.
Selbst einfache Sätze, wie aus einem Reiseführer, werden so reich beladen. Über das Grabmal von Scharnhorst, dem preußischen Militärreformer, der nach 1806 die Prinzipien der Französischen Revolution übernahm, erfahren wir, dessen schlafender Löwe sei von Rauch nach einem Entwurf von Schinkel gestaltet worden, während Friedrich Tieck die Reliefs an den Seiten schuf. Da, gegen Ende des Buches, weiß der Leser längst vom Aufstieg Schinkels zum führenden Baumeister Berlins, hat gehört, wie Rauch, durch Förderung des Ehepaars Caroline und Wilhelm von Humboldt, zum Lieblingsbildhauer des Königs geworden war – er durfte das Grabmal der Königin Luise erstellen –, und dass Friedrich Tieck, der Bruder des romantischen Dichters Ludwig Tieck, die kriegsbedingte Auftragsflaute mit ersten Büsten für die vom bayerischen Kronzprinzen Ludwig geplante Walhalla überbrückt hatte.
Und so immer weiter: Heinrich von Kleist hatte bei dem Reformgegner von der Marwitz in Friedersdorf die Lage debattiert, bevor dieser auf Betreiben von Staatskanzler Hardenberg zusammen mit dem Grafen Finckenstein, der der Mäzen von Ludwig Tieck war, den er auf seinen Gütern im Oderland leben ließ, in Spandau inhaftiert wurde. Ein Bruder dieses reformkritischen Marwitz, von dem de Bruyn scharfsinnige Zitate bringt, war wiederum ein Geliebter der Rahel. Das Netz, das de Bruyn nachzeichnet, hat auch eine räumliche Dimension, es zeigt sich in den Berliner Adressen – wir erfahren, wo Brentano, Arnim und E.T.A. Hoffmann logierten –, aber auch in den Landsitzen der schöngeistigen Junker, im Nennhausen von de la Motte-Fouqué, in Hardenbergs Tempelberg, dem Jahnfelde des Kleist-Freundes Pfuel, Finckensteins Madlitz und Arnims Wiepersdorf.
Das ist für sich schon unendlich reizvoll, denn ein Hauch von „Vor dem Sturm“ kommt auf, dem großen Roman Fontanes über die Zeit von 1812/13. Die vielen herrlichen Zitate und Anekdoten, die de Bruyn bringen kann, rücken die Großen ganz nahe, unwillkürlich wird man neugierig auf Verschollenes und Halbbekanntes, Arnims „Gräfin Dolores“, Ritterromane Fouqués, Denkschriften von Clausewitz oder Schleiermacher, den seine Freunde „Schleier“ nannten. Aber diese Erzählung ist mehr als nur schön, sie belehrt auch über die große Geschichte, indem sie diese fast unvermerkt am Horizont der geistvollen Geselligkeit aufscheinen lässt, die den Vordergrund des Buches bildet. Preußen ist besiegt, der ewig zaudernde König muss um den Fortbestand des Staates fürchten; er wird durch so gewaltige Kontributionen an den Sieger Napoleon erkauft, dass die Berliner Gesellschaft schlagartig verarmt. Dass daneben ein paar Hundert der besten Berliner Kunstwerke nach Paris verfrachtet werden, ist fast schon Nebensache.
Entscheidend sind die Reformen, mit denen auf Niederlage und wirtschaftliche Not reagiert wird, die kommunale Selbstverwaltung, die Militärreform mit ihren demokratischen Zügen, die Bildungsreform durch Humboldt, die Emanzipation, also rechtliche Gleichstellung der Juden durch Hardenberg. Die Dinge greifen ineinander, und vor allem der Adel fühlt sich bedroht: Er verliert gutsherrschaftliche Rechte, muss mit Abgaben bluten, der Landbesitz wird auch für Bürgerliche erwerbbar, und wer hat das Kapital dafür? Die nun gleichgestellten Juden! Sie werden unversehens zu Nachbarn der Marwitze, Finckensteins und Humboldts. Geld regiert die Welt, nicht mehr Herkommen und patriarchalische Sitte.
Hass auf Napoleon und Vorbehalte gegen die jüdischen Aufsteiger verändern das Klima, zumal die Zeiten kriegerisch bleiben. Die kosmopolitische, ständeübergreifende, Frauen und Männer einbeziehende Berliner Geselligkeit zeigt erste Züge der Pathologien des späteren 19. Jahrhunderts: Nationalismus, Antisemitismus und Kriegsverherrlichung wachsen in der preußischen Krisenzeit, die so viel Großartiges hervorbrachte, wie Unkraut neben den sonstigen Fortschritten; auch das Unkraut ist übrigens durchaus modern. So erfahren wir auch von den franzosenfeindlichen Aufrufen von Arndt, dem Turner-Wahn Jahns, der „Deutschen Tischgesellschaft“, die nur satisfaktionsfähige deutsche Männer zuließ und wo sich Arnim und andere in derben Judenspäßen ergingen. In der Freischar des Freiherrn von Lützow, deren Uniform der heutigen deutschen Fahne die Farben gab, kämpfen Dichter wie der hochbegabte Sohn des Schiller-Freundes Körner und ein schlesischer Adeliger namens Joseph von Eichendorff gegen die Franzosen.
Die Vertreter der älteren übernationalen Kultur, die am Ende noch einmal Auftritte bekommen, der französische Deutsche Chamisso, der fern vom Befreiungskrieg seinen „Schlemihl“ dichtet, der Weimarer Napoleon-Freund Goethe, dessen in Berlin aufgeführtes Sieges-Festspiel den Feind kaum benennt, der Metternich-Adlatus und Rahel-Freund Friedrich von Gentz, erscheinen da schon überholt. Rahel wird christlich und heiratet einen Herrn Varnhagen. Caroline Humboldt spottet, nun könne die Jüdin bald Gesandtenfrau und Exzellenz werden.
GUSTAV SEIBT
GÜNTER DE BRUYN: Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 430 Seiten, 24,95 Euro.
Karl Friedrich Schinkels Zeichnung (oben) entwirft nach 1813 einen Dom als Denkmal für die Befreiungskriege. Der Schriftsteller Günter de Bruyn (links ) erzählt die Kulturgeschichte Berlins von den Tagen der Niederlage Preußens bis zum Sieg gegen Napoleon. Fotos: bpk/Kupferstichkabinett, SMB, Ullstein
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Ach, Preußen! – Günter de Bruyn setzt seine Chronik der Berliner Klassik bis 1815 fort
„Als Poesie gut“, so hieß der Titel von Günter de Bruyns schönem Band, der 2006 ganz altmodisch „Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807“ erzählte und nicht nur beim Neu-Berliner Publikum ein großer Erfolg wurde. Nun ist sein Nachfolger da, der mit einer Verszeile von Adelbert von Chamisso „Die Zeit der schweren Not“ heißt und, in charakteristisch veränderter Formulierung, „Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815“ behandelt. Aus der Kunstepoche wird das Kulturleben, das Feld erweitert sich also vom Ästhetischen, dem Spielfeld des Schönen, zur Kultur allgemein, was heißt: zu den Wissenschaften, aber auch bis ins Militärische. Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz, alle drei begabte Schriftsteller, sind Hauptfiguren.
Das gibt Gelegenheit, auch den Titel des ersten Bandes zu erklären. „Als Poesie gut“ war die Randbemerkung von König Friedrich Wilhelm III. zu einer Denkschrift Gneisenaus vom 8. August 1811, die einen „Plan zu Vorbereitung eines Volksaufstandes“ enthielt und dem der Verfasser ein Gedicht von Friedrich Matthison, einem damals sehr populären Dichter der älteren Generation, vorangestellt hatte: „Wer um Hohes kämpft, muss wagen“, hieß es da, „Leben gilt es oder Tod./ Lass die Woge donnernd branden,/ Nur bleib immer, magst du landen/ Oder scheitern, selbst Pilot!“
Diesen Appell, Führungsstärke zu zeigen, beantwortete der erznüchterne, immer vorsichtig abwartende König also mit dieser, wie de Bruyn festellt, „für seine Verhältnisse ungewöhnlich witzigen“ Anmerkung. Gneisenau erwiderte darauf, auf Poesie sei die Sicherheit der Throne gegründet, mit einem Gedanken also, den zehn Jahre zuvor schon Novalis formuliert hatte. Stellen wir uns vor, Baron Guttenberg würde sein Konzept zur Bundeswehrreform mit einem Enzensberger-Gedicht einleiten, worauf die bekannt ungerührte Kanzlerin etwas Schnippisches erwiderte, und der Verteidungsminister würde dann mit Grünbein nachsetzen. Ach, Preußen!
Es war damals alles ganz eng beieinander. Generale lasen die zeitgenössischen Dichter, die Dichter logierten in den Gutshäusern der Adeligen, die Adeligen korrespondierten und flirteten mit der jüdischen Literaturdame Rahel Levin, bei der alle Fäden zusammenliefen. Dieses verwirrend dichte Personengeflecht stellt de Bruyn mit kunstvoller Schlichtheit wie ein Chronist dar; er folgt dem Verlauf der Jahre, stellt in jedem seiner kurzen Kapitel eine Person in den Mittelpunkt, lässt dann ein nächstes folgen, in dem eine Nebenfigur des vorangehenden Abschnitts zur Hauptfigur wird. Die Chronik funktioniert als Reigen, in dem die Genies sich die Hände reichen.
Selbst einfache Sätze, wie aus einem Reiseführer, werden so reich beladen. Über das Grabmal von Scharnhorst, dem preußischen Militärreformer, der nach 1806 die Prinzipien der Französischen Revolution übernahm, erfahren wir, dessen schlafender Löwe sei von Rauch nach einem Entwurf von Schinkel gestaltet worden, während Friedrich Tieck die Reliefs an den Seiten schuf. Da, gegen Ende des Buches, weiß der Leser längst vom Aufstieg Schinkels zum führenden Baumeister Berlins, hat gehört, wie Rauch, durch Förderung des Ehepaars Caroline und Wilhelm von Humboldt, zum Lieblingsbildhauer des Königs geworden war – er durfte das Grabmal der Königin Luise erstellen –, und dass Friedrich Tieck, der Bruder des romantischen Dichters Ludwig Tieck, die kriegsbedingte Auftragsflaute mit ersten Büsten für die vom bayerischen Kronzprinzen Ludwig geplante Walhalla überbrückt hatte.
Und so immer weiter: Heinrich von Kleist hatte bei dem Reformgegner von der Marwitz in Friedersdorf die Lage debattiert, bevor dieser auf Betreiben von Staatskanzler Hardenberg zusammen mit dem Grafen Finckenstein, der der Mäzen von Ludwig Tieck war, den er auf seinen Gütern im Oderland leben ließ, in Spandau inhaftiert wurde. Ein Bruder dieses reformkritischen Marwitz, von dem de Bruyn scharfsinnige Zitate bringt, war wiederum ein Geliebter der Rahel. Das Netz, das de Bruyn nachzeichnet, hat auch eine räumliche Dimension, es zeigt sich in den Berliner Adressen – wir erfahren, wo Brentano, Arnim und E.T.A. Hoffmann logierten –, aber auch in den Landsitzen der schöngeistigen Junker, im Nennhausen von de la Motte-Fouqué, in Hardenbergs Tempelberg, dem Jahnfelde des Kleist-Freundes Pfuel, Finckensteins Madlitz und Arnims Wiepersdorf.
Das ist für sich schon unendlich reizvoll, denn ein Hauch von „Vor dem Sturm“ kommt auf, dem großen Roman Fontanes über die Zeit von 1812/13. Die vielen herrlichen Zitate und Anekdoten, die de Bruyn bringen kann, rücken die Großen ganz nahe, unwillkürlich wird man neugierig auf Verschollenes und Halbbekanntes, Arnims „Gräfin Dolores“, Ritterromane Fouqués, Denkschriften von Clausewitz oder Schleiermacher, den seine Freunde „Schleier“ nannten. Aber diese Erzählung ist mehr als nur schön, sie belehrt auch über die große Geschichte, indem sie diese fast unvermerkt am Horizont der geistvollen Geselligkeit aufscheinen lässt, die den Vordergrund des Buches bildet. Preußen ist besiegt, der ewig zaudernde König muss um den Fortbestand des Staates fürchten; er wird durch so gewaltige Kontributionen an den Sieger Napoleon erkauft, dass die Berliner Gesellschaft schlagartig verarmt. Dass daneben ein paar Hundert der besten Berliner Kunstwerke nach Paris verfrachtet werden, ist fast schon Nebensache.
Entscheidend sind die Reformen, mit denen auf Niederlage und wirtschaftliche Not reagiert wird, die kommunale Selbstverwaltung, die Militärreform mit ihren demokratischen Zügen, die Bildungsreform durch Humboldt, die Emanzipation, also rechtliche Gleichstellung der Juden durch Hardenberg. Die Dinge greifen ineinander, und vor allem der Adel fühlt sich bedroht: Er verliert gutsherrschaftliche Rechte, muss mit Abgaben bluten, der Landbesitz wird auch für Bürgerliche erwerbbar, und wer hat das Kapital dafür? Die nun gleichgestellten Juden! Sie werden unversehens zu Nachbarn der Marwitze, Finckensteins und Humboldts. Geld regiert die Welt, nicht mehr Herkommen und patriarchalische Sitte.
Hass auf Napoleon und Vorbehalte gegen die jüdischen Aufsteiger verändern das Klima, zumal die Zeiten kriegerisch bleiben. Die kosmopolitische, ständeübergreifende, Frauen und Männer einbeziehende Berliner Geselligkeit zeigt erste Züge der Pathologien des späteren 19. Jahrhunderts: Nationalismus, Antisemitismus und Kriegsverherrlichung wachsen in der preußischen Krisenzeit, die so viel Großartiges hervorbrachte, wie Unkraut neben den sonstigen Fortschritten; auch das Unkraut ist übrigens durchaus modern. So erfahren wir auch von den franzosenfeindlichen Aufrufen von Arndt, dem Turner-Wahn Jahns, der „Deutschen Tischgesellschaft“, die nur satisfaktionsfähige deutsche Männer zuließ und wo sich Arnim und andere in derben Judenspäßen ergingen. In der Freischar des Freiherrn von Lützow, deren Uniform der heutigen deutschen Fahne die Farben gab, kämpfen Dichter wie der hochbegabte Sohn des Schiller-Freundes Körner und ein schlesischer Adeliger namens Joseph von Eichendorff gegen die Franzosen.
Die Vertreter der älteren übernationalen Kultur, die am Ende noch einmal Auftritte bekommen, der französische Deutsche Chamisso, der fern vom Befreiungskrieg seinen „Schlemihl“ dichtet, der Weimarer Napoleon-Freund Goethe, dessen in Berlin aufgeführtes Sieges-Festspiel den Feind kaum benennt, der Metternich-Adlatus und Rahel-Freund Friedrich von Gentz, erscheinen da schon überholt. Rahel wird christlich und heiratet einen Herrn Varnhagen. Caroline Humboldt spottet, nun könne die Jüdin bald Gesandtenfrau und Exzellenz werden.
GUSTAV SEIBT
GÜNTER DE BRUYN: Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 430 Seiten, 24,95 Euro.
Karl Friedrich Schinkels Zeichnung (oben) entwirft nach 1813 einen Dom als Denkmal für die Befreiungskriege. Der Schriftsteller Günter de Bruyn (links ) erzählt die Kulturgeschichte Berlins von den Tagen der Niederlage Preußens bis zum Sieg gegen Napoleon. Fotos: bpk/Kupferstichkabinett, SMB, Ullstein
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Günter de Bruyns Porträtsammlung im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts hat Harry Nutt gefesselt, denn sie geht über ein Epochenbild des Kulturlebens hinaus, wie er anerkennend bemerkt. Der Autor lässt in diesem Band, dem ein Buch aus dem Berliner Kulturleben des 18. Jahrhunderts vorausging, in lockerer Folge bekannte und unbekannte Figuren aus Kunst, Literatur, Militär und Wissenschaft auftreten, die insgesamt ein "luftiges Zeitmosaik", durchzogen von ernsten Tönen, bieten, so der Rezensent. Vor allem könne man hier studieren, wie sich nach einer verheerenden Kriegsniederlage eine nationalstaatliche Haltung ausbildet, eine - wenn auch im Einzelnen höchst widersprüchliche - Art "innere Reichsgründung", die sich erst später materialisierte. Man sollte das Buch am besten zweimal lesen, empfiehlt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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