Auch nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus stand die große historiographische Synthese bislang noch aus. Mit seiner Gesamtdarstellung des "Dritten Reiches" erfüllt der britische Historiker Michael Burleigh nun dieses Desiderat. Für Burleigh ist der Nationalsozialismus ein Phänomen, das bei all seinen spezifisch deutschen Eigenschaften ohne einen breiten europäischen Kontext nicht verstanden werden kann. Gerade mit einer solchen Perspektive gelingt es ihm, die singulären Züge des NS-Systems herauszustellen; gleichzeitig wird deutlich, wie sehr auch die europaweite Krise von Demokratie und Liberalismus die inhumane Politik der Nationalsozialisten begünstigte. Es geht dem Autor um Politikgeschichte, und es geht ihm vor allem um Ideen und Wertvorstellungen: Die NS-Bewegung war gleichsam religiöser Natur, ihr Erfolg hatte damit zu tun, dass sie den Menschen weit mehr als nur materielle Besserstellung versprach. "Das Buch befasst sich mit Wandlungen moralischer Kli mata; der Anziehungskraft einer Politik des Glaubens; der für den Nationalsozialismus spezifischen Mischung aus Träumen, Mythen, Ethno-Sentimentalität, bürokratischer und wissenschaftlicher Rationalität; und dem rauschhaften Sturz in eine beispiellose Kriminalität" (Michael Burleigh).
Burleighs Buch ist ein internationales Publikationsprojekt, das zeitgleich mit der deutschen Ausgabe in Großbritannien bei Macmillan, in den USA bei Farrar, Straus, Giroux und in Italien bei Rizzoli erscheint.
Burleighs Buch ist ein internationales Publikationsprojekt, das zeitgleich mit der deutschen Ausgabe in Großbritannien bei Macmillan, in den USA bei Farrar, Straus, Giroux und in Italien bei Rizzoli erscheint.
Michael Burleighs umsichtig argumentierende Darstellung über "Die Zeit des Nationalsozialismus"
Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 1080 Seiten, 4 Karten, 88,- Mark.
Der Turmbau der Geschichte hat viele Zugänge. Sie läßt sich von den Haupt- und Staatsaktionen her darstellen, von den Winkelzügen und Coups der Akteure, ihren Interessen und leitenden Motiven. Man kann sie aber auch von unten her, aus der Sicht derer beschreiben, die sie erleiden und wo sie in aller Regel den Satz wahr macht, daß sie die Wissenschaft vom Unglück der Menschen sei. Vereinfacht gesprochen, ist nach der lang anhaltenden Vorherrschaft der einen Perspektive zusehends die andere nach vorn gekommen. Beide haben ihr Recht und der Einsicht wichtige Aufschlüsse vermittelt.
Michael Burleigh geht den dritten Weg. Sein Buch "Die Zeit des Nationalsozialismus" betrachtet die Herrschaft Hitlers ganz überwiegend von der sozusagen mittleren Ebene her, ohne sich freilich in eine der spitzfindigen Theorien zu verirren, die Hitlers Bedeutung auf die eines "schwachen Diktators" oder gar die eines "Opfers" des ihm "angedichteten Führer-Mythos" reduzieren. Vielmehr macht die Darstellung im ganzen deutlich, daß Hitler bis zum Ende die Mittelpunktfigur war und der entscheidende Bezugspunkt alles dessen, was oftmals als "Exzeß" bezeichnet wird, aber gerade dies nicht war, sondern die buchstäbliche Übertragung seiner Komplexe und Haßgefühle in die Wirklichkeit. Dabei wird die Kenntnis der Ereignisse, die den Aufstieg, die Machteroberung und den Untergang des Diktators markieren, weitgehend vorausgesetzt oder mit einem lediglich erinnernden Hinweis abgetan. Insofern ist der Untertitel des tausendseitigen Werks - "eine Gesamtdarstellung" - etwas hoch gegriffen.
Zum nicht geringen Teil hängt der Blickwinkel des Verfassers mit seinem leitenden Gedanken zusammen, daß der Nationalsozialismus eine weltliche, messianisch überhöhte Religion war. Wie kein anderer Politiker der Zeit habe Hitler in den Affekten der Massen, ihren ziellosen Ressentiments und Orientierungsnöten das gleichsam metapolitische Bedürfnis erkannt, das sie umtrieb und demjenigen reichen Gewinn versprach, der es sich zunutze machte. Mit seiner zunehmend sicherer gehandhabten Redegabe sagte Hitler den Menschen, woher ihre Ängste kamen, woran sie litten und worauf sich, wenn sie träumten, ihre Träume richten sollten.
Das Hauptaugenmerk des Autors gilt anfangs infolgedessen der psychologischen Verfassung des Landes in den Jahren der wankenden Republik sowie der allmählichen Verfertigung der von Hitler eingenommenen Erlöserrolle. Ihr sprechendster Ausdruck war die schon vor 1933 entwickelte politische Liturgie, die dann, kaum daß die Nationalsozialisten an die Macht gelangt waren, zu einem pausenlosen chiliastischen Stimmungstheater ausgebaut wurde: in Feierstunden mit Gemeinschaftsgelöbnissen, Fackelumzügen, Höhenfeuern und Aufmärschen unter Lichtdomen. Ausführlich beschreibt Burleigh die Heils- und Erlösungsrhetorik, die jeder Maßnahme bis hin zum SA-Terror als Rechtfertigung diente. Schon 1937 bezeichnete eine unterderhand verbreitete Denkschrift anonymer Regimegegner die Hitler-Diktatur als einen "Kirchenstaat mit eigenem Ritus, Kultus und Dogma" sowie mit einer apokalyptischen Weltsicht, in der Bolschewismus und Judentum als "teuflische Mächte" figurierten.
Gerade der düstere Prospekt, vor dem sich nach Auffassung der NS-Ideologen das Geschehen der Epoche entfaltete, hat dem Nationalsozialismus gegenüber seinem totalitären Rivalen, dem Kommunismus, eine nie gefährdete Überlegenheit eingetragen. Der enervierend selbstgefällige Geschichtsoptimismus der Kommunisten ließ nicht nur dem Gedanken an eine womöglich drohende Niederlage keinen Raum, sondern verkleinerte auch die Rolle des einzelnen auf die eines bloßen Agenten in einem vorherbestimmten welthistorischen Prozeß. Das kosmische Drama dagegen, das Hitler und seine Zuträger im Gange sahen, verlieh dem bescheidenen und unauffälligen Dasein noch des Geringsten eine einzigartige Bedeutung für das Schicksal der Menschheit. Was immer die Machthaber an moralischen oder materiellen Zumutungen verlangten, wurde von der Gewißheit des säkulären Ringens kompensiert, das angeblich die Zeit erfüllte, und die Menschen dankten es dem Regime, daß es jedem von ihnen eine so überwältigende Wichtigkeit zuerkannte.
Man mag einwenden, daß diese Deutung die Gründe für die merkwürdig widerstandslose, schon im Frühjahr 1933 einsetzende Ergebung in die neuen Verhältnisse zu hoch ansetzt. Zweifellos hat sich die Masse der Zeitgenossen nicht in einem endzeitlichen Entscheidungskampf gesehen, sondern mit dem Machtantritt Hitlers weit näherliegende Erwartungen verbunden wie die Überwindung der wirtschaftlichen Misere, die Rückgewinnung des deutschen Ansehens in der Welt sowie die Wiederkehr der in den Weimarer Jahren über alle politischen Lager hinweg vermißten staatlichen Autorität. Burleigh benennt diese und weitere Motive auch, wie sich die Darstellung überhaupt durch ein breites Spektrum der Erwägungen auszeichnet. Aber daß die neuen Gewalthaber die binnen kurzem allenthalben spürbar werdenden Erfolge angesichts einer derart bedrohlichen Weltenstunde errangen, hat ihrem Ansehen zusätzlich vorgearbeitet und womöglich eine Art Wunderglauben verbreitet, der sich auch in der alsbald hervortretenden, zusehends wegwerfender agierenden Herausforderung der gesamten Welt jede skeptische Anwandlung versagte.
Die pseudoreligiöse Kontur des Nationalsozialismus bestimmt auch die Auswahl der Aspekte, denen das Buch folgt: angefangen von der Herstellung der "Volksgemeinschaft" über den Kampf gegen die Kirchen, die Eugenik samt dem verordneten Mord an "unwertem Leben" bis hin zur Judenpolitik, die bereits, wie in einem Akt schwer bezähmbarer Ungeduld, am 1. April 1933 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte begann, in den Nürnberger Gesetzen ihre Fortsetzung fand und in einer Folge immer neu erdachter, behördlich verfügter Schikanen weiterging: alles von zuständigen Stellen in makelloses Amtsdeutsch gefaßt und nicht zuletzt mit Hilfe eines verbreiteten Denunziantentums durchgesetzt.
Niedertracht im Kleinen
Keines der großen strategischen Ziele, die das Regime verfolgte, wie der Krieg nach Westen oder Osten, dem weitere umfangreiche Kapitel gewidmet sind, vermochte seine Niedertracht im Kleinen zu mindern. Ganz im Gegenteil steigerte es die entwürdigenden Schindereien noch, ehe sie schließlich in die riesige "Flurbereinigung" eingingen, die mit wahren Ausrottungsfeldzügen, geplanten und teilweise verwirklichten Umsiedlungsaktionen sowie mit den Fremdarbeitererhebungen dem Kontinent ein neues, alle regulativen Traditionen verleugnendes Gesicht geben sollten. Und am Ende des von Burleigh beschriebenen Weges, der kein Ende hatte oder haben sollte, sondern eine weit im Osten verlaufende, "ewig blutende Grenze" vorsah, stand die Utopie des "Neuen Menschen", der nicht nur propagandistisch beschworen wurde, sondern in breitangelegten Züchtungs- und Erziehungsprogrammen erste Umrisse gewann.
Was der Verfasser aus alledem herausgearbeitet hat, stellt sich als ein aus Aberwitz, Hochmut und Brutalität gemischtes Weltbild dar. Gerade die auf Hunderten von Seiten mit nüchterner Anschaulichkeit aufgeführten Greuel, die in den entfernten Weiten Polens und der Sowjetunion ihre bereitwilligen Exekutoren fanden, machen den Leser, wieviel er darüber auch zu wissen vermeint, ein ums andere Mal ratlos. Auch Burleigh hat keine unkomplizierte, unmittelbar einleuchtende Erklärung dafür. Zwar stützt er seine Darlegungen auf ungezählte Belege. Aber kein noch so breites Quellenmaterial gibt den äußersten Grund dafür her, wie dergleichen möglich und bei so vielen Beteiligten mit so schuldiger Beflissenheit durchsetzbar war - es sei denn, man geht auf die anthropologische Einsicht zurück, daß selbst in hochentwickelten Kulturen, dicht unter einem dünnen Firnis, die Instinkte einer "Rotte von Mördern" ihr Wesen treiben. Dabei erliegt der Autor keineswegs der Versuchung zu summarischen Urteilen und bleibt selbst angesichts des albtraumhaften Gesamtbildes bei seinen Abwägungen. Aber die Kraft der Unterscheidung macht das Beschriebene eher noch bedrückender.
Fast eine Art Erleichterung stellt sich mit dem folgenden Kapitel über den Widerstand ein. Auch da bewährt sich, trotz aller kritischen Einlassungen, Burleighs Unterscheidungsvermögen. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Neigung nicht zuletzt unter deutschen Historikern, die Motive und Zukunftsvorstellungen der Opposition an den Erfahrungen der Gegenwart und den Maßstäben des Grundgesetzes zu messen, vertritt er die Auffassung, daß man die Herkunft der Beteiligten, ihre Erziehung und Prägung durch einen gänzlich anderen Epochengeist berücksichtigen müsse. Ihre Fähigkeit zum verschwörerischen Pragmatismus schätzt er eher gering ein, hat aber keinen Zweifel an den im ganzen humanitären, auf Menschlichkeit, Rechtsgefühl oder einfachem Anstand beruhenden Beweggründen. Sein Vorbehalt gegen die Abwertung des Widerstands tut sich keineswegs moralisch groß, sondern beschränkt sich aufs Handwerkliche: Es mag für die Geringschätzung der Akteure "achtenswerte politische Gründe" geben, heißt es einmal, "aber gute Geschichtsschreibung ist das nicht".
Es gehört zu den Vorzügen des Buches, daß es sich von den umlaufenden Moden wie von aller akademischen Blasiertheit fernhält. Nicht selten gewinnt man den Eindruck, Burleigh betrachte die Leidenschaft für oftmals weit hergeholte Theorien als eine Nachwirkung jener Verwirrung, die der Nationalsozialismus selber angerichtet hat. Wie er Hitlers richtungweisende Rolle für all das Verfolgen, Kriegführen und Morden für unbestreitbar hält, weist er auch die seit geraumer Zeit vorherrschende Kritik an jenem Totalitarismuskonzept zurück, das gewisse Übereinstimmungen zwischen der nationalsozialistischen und der kommunistischen Herrschaftspraxis festgestellt hat, ehe es gegen Ende der sechziger Jahre und seither zunehmend entschiedener als Ausgeburt des Kalten Krieges verworfen wurde. Statt dessen schreibt er ohne viel Aufhebens hin: "Zu diesem Ansatz bekenne ich mich."
Mitunter freilich geht der Verzicht auf inzwischen gewonnene Einsichten etwas weit. So bemerkt der Verfasser, er habe die Überlegungen zum Modernisierungsschub durch die Hitler-Diktatur, die in der Wissenschaftsdebatte seit langem einen breiten Raum einnehmen, so wenig aufgegriffen wie die Diskussion über das Verhältnis zwischen ideologischen und strukturellen Faktoren bei Entstehung und Verlauf der "Endlösung". Aber dergleichen gehört in eine Darstellung mit dem Anspruch, die "Zeit des Nationalsozialismus" auf der Höhe der erlangten Erkenntnisse zu behandeln. Etwas zufällig ist darüber hinaus die Beschreibung der Nachgeschichte seit 1945 ausgefallen, nicht anders übrigens als das Eingangskapitel über die vor allem psychologischen Erschütterungen, die von der unvermuteten Weltkriegsniederlage, von Revolutionschaos und Inflation ausgingen und Hitlers Demagogie so wirkungsvolle Anknüpfungspunkte boten.
Doch im ganzen liegt ein mit großem Fleiß erarbeitetes, im Faktischen verläßliches und umsichtig argumentierendes Buch vor. Es demonstriert auf beklemmende Weise, wohin Mythenanfälligkeit, Messianismus und Utopieglauben in der Geschichte führen. Der blutigrote Faden, den Michael Burleigh aus dem Verlauf jener Jahre herauspräpariert, hatte zu einem erheblichen Teil darin seinen Ursprung. In seiner beherrschten Vernünftigkeit nennt der Autor das eine Lehre. Vielleicht liefert er so etwas wie ein Selbstporträt ab, wenn er in den Schlußsätzen für die Vorzüge "langweiliger" Epochen gegenüber denen plädiert, die von apokalyptischem Lärm erfüllt sind. Bedauerlicherweise jedoch, fährt er fort, hätte diese humane politische Kultur niemals die großen Chronisten gefunden, die ihrer wenn auch gebrechlichen Menschlichkeit gerecht zu werden vermögen.
JOACHIM FEST
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Christoph Jahr ist in seiner luziden Kritik zwiegespalten in der Bewertung einer der - im Verhältnis zur Zahl der Einzeluntersuchungen - gar nicht so zahlreichen Gesamtdarstellungen des Nationalsozialismus. Zugute hält er dem englischen Historiker Michael Burleigh die Fortführung der Deutungstradition als “politische Religion” und einen differenzierten Totalitarismus-Ansatz, der bewusst den Vergleich mit dem Stalinismus sucht, ohne die Einmaligkeit des Nationalsozialismus in Frage zu stellen. Problematisch findet er aber, dass auf schlappen 1054 Seiten sozialgeschichtliche Aspekte - willentlich - ausgeblendet werden. Denn das Konzept der “politischen Religion” ist genau darauf angewiesen, wenn es nicht nur die “Priester”, sondern auch die “Gläubigen” verstehen will. Zudem trägt das Konzept, so Jahr, auch nicht zur Erklärung des zentralen Phänomens, der “rassischen Neuordnung und des Lebensraumkrieges” bei. Trotzdem: Die “moralische Verheerung” ist in seltener “Eindrücklichkeit” dargestellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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