Auch nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus stand die große historiographische Synthese bislang noch aus. Mit seiner Gesamtdarstellung des "Dritten Reiches" erfüllt der britische Historiker Michael Burleigh nun dieses Desiderat. Für Burleigh ist der Nationalsozialismus ein Phänomen, das bei all seinen spezifisch deutschen Eigenschaften ohne einen breiten europäischen Kontext nicht verstanden werden kann. Gerade mit einer solchen Perspektive gelingt es ihm, die singulären Züge des NS-Systems herauszustellen; gleichzeitig wird deutlich, wie sehr auch die europaweite Krise von Demokratie und Liberalismus die inhumane Politik der Nationalsozialisten begünstigte. Es geht dem Autor um Politikgeschichte, und es geht ihm vor allem um Ideen und Wertvorstellungen: Die NS-Bewegung war gleichsam religiöser Natur, ihr Erfolg hatte damit zu tun, dass sie den Menschen weit mehr als nur materielle Besserstellung versprach. "Das Buch befasst sich mit Wandlungen moralischer Kli mata; der Anziehungskraft einer Politik des Glaubens; der für den Nationalsozialismus spezifischen Mischung aus Träumen, Mythen, Ethno-Sentimentalität, bürokratischer und wissenschaftlicher Rationalität; und dem rauschhaften Sturz in eine beispiellose Kriminalität" (Michael Burleigh).
Burleighs Buch ist ein internationales Publikationsprojekt, das zeitgleich mit der deutschen Ausgabe in Großbritannien bei Macmillan, in den USA bei Farrar, Straus, Giroux und in Italien bei Rizzoli erscheint.
Burleighs Buch ist ein internationales Publikationsprojekt, das zeitgleich mit der deutschen Ausgabe in Großbritannien bei Macmillan, in den USA bei Farrar, Straus, Giroux und in Italien bei Rizzoli erscheint.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2000Begreifen, was man schon weiß
Michael Burleigh analysiert alle Facetten des Dritten Reichs und weist nach, dass eine Historisierung des Nationalsozialismus gefährlich ist
MICHAEL BURLEIGH: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 1080 Seiten, 88 Mark.
Die Zeit des Nationalsozialismus ist in den letzten Jahrzehnten so detailliert und gründlich untersucht worden wie wohl kein anderer Abschnitt der neueren Geschichte. Die Quelleneditionen, Monografien, Aufsätze sind inzwischen Legion. Aus jüngster Zeit sei an die Editionen der Reden, Schriften und Anordnungen Hitlers und der Goebbels-Tagebücher erinnert – beides Großprojekte des Instituts für Zeitgeschichte in München, die inzwischen fast abgeschlossen sind. Mit Ian Kershaws zweibändiger Hitler-Biografie (1998/2000) hat die Untersuchung der Fakten rings um den Hauptakteur ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluss erreicht. Jeder Stein wurde umgedreht, jede Einzelheit geprüft, jedes Problem erörtert. Wir wissen nun fast alles über das Dritte Reich, so scheint es – und jeder, der will, kann sich mühelos über diese Zeit und ihre Forschungsgeschichte unterrichten.
Aber verstehen wir nun besser, was der Nationalsozialismus war? Oder hat die Überfülle der Fakten eher Unsicherheit und Verwirrung hinterlassen? Was war denn nun das Dritte Reich: ein Rückfall ins „Tamtam der Urwaldtrommeln” (George Orwell) oder im Gegenteil ein hybrider Versuch, „die Gesellschaft neu zu erschaffen” (Zygmunt Bauman)? Der Appell an einen mythischen „Heilbringer” (Romano Guardini) – oder einfach eine primitive „Ersatzreligion” (George Mosse)? Fakten sind nie deutungsfrei gegeben – man braucht, um sie zu interpretieren, einen Rahmen. Wie kommt man, über oberflächliche Kenntnisnahme hinaus, an den Kern der Sache,wie lernt man zu begreifen, was man schon weiß?
Michael Burleigh, geboren 1955, Historiker in Oxford, London, Cardiff und seit kurzem in Lexington (USA), gibt dem interessierten Publikum mit seiner Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus eine Hilfe an die Hand. (Das Buch erschien gleichzeitig in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Italien und Deutschland. ) Burleigh macht eifrigen Gebrauch von der riesigen Forschungsliteratur, die heute kein Forscher übergehen kann (und die doch niemand mehr wirklich überblickt!). Aber er setzt auch neue Akzente, er wählt aus, lässt weg, hebt hervor – und vor allem: Er zieht den Leser in das Spiel der Interpretationen und Deutungen hinein, die den Nationalsozialismus von seinen Anfängen an begleitet haben.
Das erste und umfangreichste Kapitel seines Buches, stolze 135 Seiten lang, schildert den Aufstieg der NSDAP in den Jahren der Weimarer Republik. Der Erste Weltkrieg hatte die liberale Kultur Europas in den Abgrund gerissen. Im Chaos von Krieg und Nachkriegszeit wurden viele Menschen anfällig für neue Heilslehren. Der Frühling der Heilsbringer war ein gesamteuropäisches Phänomen – nach 1918 und zumal nach 1933.
Mit seinem dreisten und barschen Auftreten stand Hitler in diesen Jahren keineswegs allein. Diktatoren herrschten in großen Teilen des Kontinents, vor allem im Süden und Osten. Dass sich Hitler dauerhaft an die Spitze dieser Bewegung setzen konnte, verdankte er seinen medialen Fähigkeiten – hier stimmt Burleighs Urteil mit der Diagnose Ian Kershaws überein. Hitler war eine Membran des Zeitgeistes. Vor einem großen Publikum konnte der sonst unauffällige Mann mit dem „teigigen Gesicht” und den „braunen Knopfaugen” sich in eine „abwechselnd flehentlich bittende, schwermütige oder rasende Kraft verwandeln, die auf eine Zuhörerschaft losgelassen wurde, die am Ende nicht mehr wusste, ob sie die treibende Kraft war oder gegen ihren Willen getrieben wurde” .
Neue Zeiten, neue Menschen
Burleighs Augenmerk gilt der systematischen Zerstörung des Rechtsstaats nach Hitlers „Machtergreifung”. Seine Erzählung ist hier von besonderer Anschaulichkeit. So anekdotisch pointiert, so erhellend sarkastisch, aber auch so ernst und eindringlich ist das innenpolitische Geschehen nach 1933 selten geschildert und kommentiert worden – man fühlt sich an die klassischen Arbeiten von Fraenkel oder Bracher erinnert. Hier wie in den folgenden Abschnitten, die von „neuen Zeiten”, „neuen Menschen” wie von der werdenden „Volksgemeinschaft” handeln, werden auch die Urteilsmaßstäbe des Autors deutlich sichtbar. Man kann sie ebenso „britisch” wie „klassisch” nennen. Sie stellen die individuelle Freiheit, das moralisch-soziale Klima einer Gesellschaft, die Rationalität politischer Entscheidungen in den Vordergrund. Und sie gipfeln in der Überzeugung, ein Volk sei kaum noch zu retten, wenn es „der Not gehorchend” seine Rechtsordnung preis gibt, sich einem „charismatischen Führer” anvertraut, Politik als Glaubenssache missversteht und endlich im Taumel des Erfolgs den Unterschied von Gut und Böse aus den Augen verliert. Doch die Geschichte des NS-Regimes geht nach Burleighs Meinung nicht nur die Deutschen an. Sie ist auch kein Monopol deutscher Historiker.
Wiederholt wendet sich der Autor gegen die in seinen Augen allzu starke Deutschland-Fixierung führender deutscher Zeitgeschichtsforscher. Als Brite nimmt er den nationalsozialistischen Anlauf zur Dominanz über Europa, ja zur Weltherrschaft überaus ernst. Daher greifen die zentralen Kapitel seines Buches weit über Deutschland – selbst über „Großdeutschland” – hinaus. Sie stellen das nationalsozialistische Großreich in den Mittelpunkt, das mit der deutschen Besetzung West- und Osteuropas im Zweiten Weltkrieg entsteht. Auch die Judenvernichtung wird – historisch folgerichtig – als europaweiter Vorgang dargestellt und analysiert. Es ist ein Stück europäischer Geschichte, ja ein Stück Weltgeschichte, das hier erzählt wird; der internationale Aktionsradius Nazi-Deutschlands und der mit ihm verbündeten oder von ihm abhängigen Länder bestimmt die Sicht.
Der Bogen der Darstellung ist also weit gespannt. Umso dringlicher wird die Frage nach der inneren Verknüpfung der Ereignisse. Was verbindet Geschehensabläufe wie die Auflösung rechtsstaatlicher Formen, die Zwangssterilisationen und ärztlichen Massenmorde, Aufrüstung und „Blitzkriege”, Besatzung und Kollaboration in Europa miteinander? Was hat der systematische Judenmord mit all dem zu tun? Burleigh folgt bei seinen Darlegungen auf weite Strecken hin der Spur der angelsächsischen, französischen und deutschen Totalitarismusforschung. Der Einfluss von Autoren wie Gurian und Shapiro, Furet und Karl Dietrich Bracher tritt deutlich hervor. Es gelingt Burleigh, die Entstehung „unbegrenzter Gewalt” als Merkmal totalitärer Politik in ihren einzelnen Stufen faktenreich herauszuarbeiten, ihren Ausbruch aus den parlamentarischen und administrativen Gehegen, ihre Vergrößerung, Intensivierung,Dynamisierung, ihre gänzliche Emanzipation vom rechtsstaatlichen Gesetz.
Aus dem liberalen Nicht-Interventionsstaat wird ein Staat der planenden Lenkung aller Lebensbereiche; es entsteht jene Arbeitsdemokratie, von der Ernst Jünger 1932 in seinem Buch „Der Arbeiter” sagte, sie passe sich den Formen der Totalen Mobilmachung an und bereite in „Planlandschaften” die planetarische Herrschaft vor, die das Zeitalter der Gesellschaftsverträge und der liberalen Demokratien ablösen werde.
Doch die neue Gewalt lebt nicht allein aus der Drohung und dem Terror der Herrschenden, aus Furcht und Zittern der Unterworfenen. Sie lebt ebenso sehr, wenn nicht noch mehr, aus dem Anspruch, das Richtige, das Wahre zu wissen. Aus der Einsicht in das (scheinbar) Notwendige erwächst die intellektuelle Sicherheit, die revolutionäre Leidenschaft, die Bereitschaft, alles, und sei es das Schrecklichste, im Dienst der „neuen Zeit” zu tun. Eine kohärente Welterklärung, ausgestattet mit dem Schein der Wissenschaftlichkeit, gibt dem Nationalsozialismus bei seinen Taten und Untaten das erschreckend gute Gewissen.
„Es war eine Remystifizierung der Naturwissenschaft und der Natur selbst”, sagt Burleigh, „mit der Konsequenz, dass Klarheit mit Unergründlichkeit vereinbar wurde, Religion mit Naturwissenschaft, pubertäre Morbidität mit Vitalismus . . .” So kam es, „dass der Rückgriff auf die Sprache der Parasitologie ihre eigene kompromisslose Logik und Radikalität entfaltete und diejenigen in ihrem Hygieneeifer bestärkte, die es in diesen ‘eisernen Zeiten’ auf sich nahmen, den ‘eisernen Besen’ in die Hand zu nehmen und mit ihm die Welt von infektiösen rassischen Fehlentwicklungen zu befreien. Da war Politik als biologische Sendung gedeutet, aber in religiöse Formen gegossen”.
Totalitarismus als Religion
Ähnliche Gedanken sind bereits in den dreißiger Jahren von Eric Voegelin entwickelt worden. Burleigh nimmt dessen Versuch, moderne Totalitarismen als (pseudo-)religiöse Phänomene zu interpretieren, zustimmend wieder auf. Er bricht damit eine Lanze für eine Denkschule, die in den Anfängen des Nationalsozialismus weit verbreitet war, später vergessen wurde, aber in jüngster Zeit vor allem von Saul Friedländer, Philippe Burrin, Emilio Gentile und anderen nachdrücklich wieder belebt wird. „Totalitarian Movements and Political Religions” heißt die von Michael Burleigh und Robert Mallett im Sommer 2000 in London neu gegründete Zeitschrift, die sich der Erforschung politisch-religiöser Zusammenhänge in den modernen Gesellschaften widmet. Sie betrachtet die „totalitäre Versuchung” (Karl Dietrich Bracher) in der gegenwärtigen Welt nach wie vor als existent und bedrohlich – und will insofern von einer „Historisierung des Nationalsozialismus” wenig wissen (man lese zum Beweis Burleighs dortige höchst aktuelle Ausführungen zur gegenwärtigen Genetik-Diskussion: „Eugenic Utopias and the Genetic Present”).
In summa: ein gewichtiges, zur Diskussion herausforderndes Buch. Es eröffnet mit einem kräftigen Paukenschlag das Feld der Deutungen des Nationalsozialismus (und der modernen Totalitarismen) aufs Neue. Man darf auf die Reaktionen des Publikums und der Fachhistoriker gespannt sein.
HANS MAIER
Der Rezensent ist Kulturphilosoph an der Universität München und ehemaliger Kultusminister von Bayern.
Einer der neuen Stars unter den europäischen Historikern: der Brite Michael Burleigh .
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Michael Burleigh analysiert alle Facetten des Dritten Reichs und weist nach, dass eine Historisierung des Nationalsozialismus gefährlich ist
MICHAEL BURLEIGH: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 1080 Seiten, 88 Mark.
Die Zeit des Nationalsozialismus ist in den letzten Jahrzehnten so detailliert und gründlich untersucht worden wie wohl kein anderer Abschnitt der neueren Geschichte. Die Quelleneditionen, Monografien, Aufsätze sind inzwischen Legion. Aus jüngster Zeit sei an die Editionen der Reden, Schriften und Anordnungen Hitlers und der Goebbels-Tagebücher erinnert – beides Großprojekte des Instituts für Zeitgeschichte in München, die inzwischen fast abgeschlossen sind. Mit Ian Kershaws zweibändiger Hitler-Biografie (1998/2000) hat die Untersuchung der Fakten rings um den Hauptakteur ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluss erreicht. Jeder Stein wurde umgedreht, jede Einzelheit geprüft, jedes Problem erörtert. Wir wissen nun fast alles über das Dritte Reich, so scheint es – und jeder, der will, kann sich mühelos über diese Zeit und ihre Forschungsgeschichte unterrichten.
Aber verstehen wir nun besser, was der Nationalsozialismus war? Oder hat die Überfülle der Fakten eher Unsicherheit und Verwirrung hinterlassen? Was war denn nun das Dritte Reich: ein Rückfall ins „Tamtam der Urwaldtrommeln” (George Orwell) oder im Gegenteil ein hybrider Versuch, „die Gesellschaft neu zu erschaffen” (Zygmunt Bauman)? Der Appell an einen mythischen „Heilbringer” (Romano Guardini) – oder einfach eine primitive „Ersatzreligion” (George Mosse)? Fakten sind nie deutungsfrei gegeben – man braucht, um sie zu interpretieren, einen Rahmen. Wie kommt man, über oberflächliche Kenntnisnahme hinaus, an den Kern der Sache,wie lernt man zu begreifen, was man schon weiß?
Michael Burleigh, geboren 1955, Historiker in Oxford, London, Cardiff und seit kurzem in Lexington (USA), gibt dem interessierten Publikum mit seiner Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus eine Hilfe an die Hand. (Das Buch erschien gleichzeitig in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Italien und Deutschland. ) Burleigh macht eifrigen Gebrauch von der riesigen Forschungsliteratur, die heute kein Forscher übergehen kann (und die doch niemand mehr wirklich überblickt!). Aber er setzt auch neue Akzente, er wählt aus, lässt weg, hebt hervor – und vor allem: Er zieht den Leser in das Spiel der Interpretationen und Deutungen hinein, die den Nationalsozialismus von seinen Anfängen an begleitet haben.
Das erste und umfangreichste Kapitel seines Buches, stolze 135 Seiten lang, schildert den Aufstieg der NSDAP in den Jahren der Weimarer Republik. Der Erste Weltkrieg hatte die liberale Kultur Europas in den Abgrund gerissen. Im Chaos von Krieg und Nachkriegszeit wurden viele Menschen anfällig für neue Heilslehren. Der Frühling der Heilsbringer war ein gesamteuropäisches Phänomen – nach 1918 und zumal nach 1933.
Mit seinem dreisten und barschen Auftreten stand Hitler in diesen Jahren keineswegs allein. Diktatoren herrschten in großen Teilen des Kontinents, vor allem im Süden und Osten. Dass sich Hitler dauerhaft an die Spitze dieser Bewegung setzen konnte, verdankte er seinen medialen Fähigkeiten – hier stimmt Burleighs Urteil mit der Diagnose Ian Kershaws überein. Hitler war eine Membran des Zeitgeistes. Vor einem großen Publikum konnte der sonst unauffällige Mann mit dem „teigigen Gesicht” und den „braunen Knopfaugen” sich in eine „abwechselnd flehentlich bittende, schwermütige oder rasende Kraft verwandeln, die auf eine Zuhörerschaft losgelassen wurde, die am Ende nicht mehr wusste, ob sie die treibende Kraft war oder gegen ihren Willen getrieben wurde” .
Neue Zeiten, neue Menschen
Burleighs Augenmerk gilt der systematischen Zerstörung des Rechtsstaats nach Hitlers „Machtergreifung”. Seine Erzählung ist hier von besonderer Anschaulichkeit. So anekdotisch pointiert, so erhellend sarkastisch, aber auch so ernst und eindringlich ist das innenpolitische Geschehen nach 1933 selten geschildert und kommentiert worden – man fühlt sich an die klassischen Arbeiten von Fraenkel oder Bracher erinnert. Hier wie in den folgenden Abschnitten, die von „neuen Zeiten”, „neuen Menschen” wie von der werdenden „Volksgemeinschaft” handeln, werden auch die Urteilsmaßstäbe des Autors deutlich sichtbar. Man kann sie ebenso „britisch” wie „klassisch” nennen. Sie stellen die individuelle Freiheit, das moralisch-soziale Klima einer Gesellschaft, die Rationalität politischer Entscheidungen in den Vordergrund. Und sie gipfeln in der Überzeugung, ein Volk sei kaum noch zu retten, wenn es „der Not gehorchend” seine Rechtsordnung preis gibt, sich einem „charismatischen Führer” anvertraut, Politik als Glaubenssache missversteht und endlich im Taumel des Erfolgs den Unterschied von Gut und Böse aus den Augen verliert. Doch die Geschichte des NS-Regimes geht nach Burleighs Meinung nicht nur die Deutschen an. Sie ist auch kein Monopol deutscher Historiker.
Wiederholt wendet sich der Autor gegen die in seinen Augen allzu starke Deutschland-Fixierung führender deutscher Zeitgeschichtsforscher. Als Brite nimmt er den nationalsozialistischen Anlauf zur Dominanz über Europa, ja zur Weltherrschaft überaus ernst. Daher greifen die zentralen Kapitel seines Buches weit über Deutschland – selbst über „Großdeutschland” – hinaus. Sie stellen das nationalsozialistische Großreich in den Mittelpunkt, das mit der deutschen Besetzung West- und Osteuropas im Zweiten Weltkrieg entsteht. Auch die Judenvernichtung wird – historisch folgerichtig – als europaweiter Vorgang dargestellt und analysiert. Es ist ein Stück europäischer Geschichte, ja ein Stück Weltgeschichte, das hier erzählt wird; der internationale Aktionsradius Nazi-Deutschlands und der mit ihm verbündeten oder von ihm abhängigen Länder bestimmt die Sicht.
Der Bogen der Darstellung ist also weit gespannt. Umso dringlicher wird die Frage nach der inneren Verknüpfung der Ereignisse. Was verbindet Geschehensabläufe wie die Auflösung rechtsstaatlicher Formen, die Zwangssterilisationen und ärztlichen Massenmorde, Aufrüstung und „Blitzkriege”, Besatzung und Kollaboration in Europa miteinander? Was hat der systematische Judenmord mit all dem zu tun? Burleigh folgt bei seinen Darlegungen auf weite Strecken hin der Spur der angelsächsischen, französischen und deutschen Totalitarismusforschung. Der Einfluss von Autoren wie Gurian und Shapiro, Furet und Karl Dietrich Bracher tritt deutlich hervor. Es gelingt Burleigh, die Entstehung „unbegrenzter Gewalt” als Merkmal totalitärer Politik in ihren einzelnen Stufen faktenreich herauszuarbeiten, ihren Ausbruch aus den parlamentarischen und administrativen Gehegen, ihre Vergrößerung, Intensivierung,Dynamisierung, ihre gänzliche Emanzipation vom rechtsstaatlichen Gesetz.
Aus dem liberalen Nicht-Interventionsstaat wird ein Staat der planenden Lenkung aller Lebensbereiche; es entsteht jene Arbeitsdemokratie, von der Ernst Jünger 1932 in seinem Buch „Der Arbeiter” sagte, sie passe sich den Formen der Totalen Mobilmachung an und bereite in „Planlandschaften” die planetarische Herrschaft vor, die das Zeitalter der Gesellschaftsverträge und der liberalen Demokratien ablösen werde.
Doch die neue Gewalt lebt nicht allein aus der Drohung und dem Terror der Herrschenden, aus Furcht und Zittern der Unterworfenen. Sie lebt ebenso sehr, wenn nicht noch mehr, aus dem Anspruch, das Richtige, das Wahre zu wissen. Aus der Einsicht in das (scheinbar) Notwendige erwächst die intellektuelle Sicherheit, die revolutionäre Leidenschaft, die Bereitschaft, alles, und sei es das Schrecklichste, im Dienst der „neuen Zeit” zu tun. Eine kohärente Welterklärung, ausgestattet mit dem Schein der Wissenschaftlichkeit, gibt dem Nationalsozialismus bei seinen Taten und Untaten das erschreckend gute Gewissen.
„Es war eine Remystifizierung der Naturwissenschaft und der Natur selbst”, sagt Burleigh, „mit der Konsequenz, dass Klarheit mit Unergründlichkeit vereinbar wurde, Religion mit Naturwissenschaft, pubertäre Morbidität mit Vitalismus . . .” So kam es, „dass der Rückgriff auf die Sprache der Parasitologie ihre eigene kompromisslose Logik und Radikalität entfaltete und diejenigen in ihrem Hygieneeifer bestärkte, die es in diesen ‘eisernen Zeiten’ auf sich nahmen, den ‘eisernen Besen’ in die Hand zu nehmen und mit ihm die Welt von infektiösen rassischen Fehlentwicklungen zu befreien. Da war Politik als biologische Sendung gedeutet, aber in religiöse Formen gegossen”.
Totalitarismus als Religion
Ähnliche Gedanken sind bereits in den dreißiger Jahren von Eric Voegelin entwickelt worden. Burleigh nimmt dessen Versuch, moderne Totalitarismen als (pseudo-)religiöse Phänomene zu interpretieren, zustimmend wieder auf. Er bricht damit eine Lanze für eine Denkschule, die in den Anfängen des Nationalsozialismus weit verbreitet war, später vergessen wurde, aber in jüngster Zeit vor allem von Saul Friedländer, Philippe Burrin, Emilio Gentile und anderen nachdrücklich wieder belebt wird. „Totalitarian Movements and Political Religions” heißt die von Michael Burleigh und Robert Mallett im Sommer 2000 in London neu gegründete Zeitschrift, die sich der Erforschung politisch-religiöser Zusammenhänge in den modernen Gesellschaften widmet. Sie betrachtet die „totalitäre Versuchung” (Karl Dietrich Bracher) in der gegenwärtigen Welt nach wie vor als existent und bedrohlich – und will insofern von einer „Historisierung des Nationalsozialismus” wenig wissen (man lese zum Beweis Burleighs dortige höchst aktuelle Ausführungen zur gegenwärtigen Genetik-Diskussion: „Eugenic Utopias and the Genetic Present”).
In summa: ein gewichtiges, zur Diskussion herausforderndes Buch. Es eröffnet mit einem kräftigen Paukenschlag das Feld der Deutungen des Nationalsozialismus (und der modernen Totalitarismen) aufs Neue. Man darf auf die Reaktionen des Publikums und der Fachhistoriker gespannt sein.
HANS MAIER
Der Rezensent ist Kulturphilosoph an der Universität München und ehemaliger Kultusminister von Bayern.
Einer der neuen Stars unter den europäischen Historikern: der Brite Michael Burleigh .
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2000Der blutigrote Faden der Geschichte
Michael Burleighs umsichtig argumentierende Darstellung über "Die Zeit des Nationalsozialismus"
Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 1080 Seiten, 4 Karten, 88,- Mark.
Der Turmbau der Geschichte hat viele Zugänge. Sie läßt sich von den Haupt- und Staatsaktionen her darstellen, von den Winkelzügen und Coups der Akteure, ihren Interessen und leitenden Motiven. Man kann sie aber auch von unten her, aus der Sicht derer beschreiben, die sie erleiden und wo sie in aller Regel den Satz wahr macht, daß sie die Wissenschaft vom Unglück der Menschen sei. Vereinfacht gesprochen, ist nach der lang anhaltenden Vorherrschaft der einen Perspektive zusehends die andere nach vorn gekommen. Beide haben ihr Recht und der Einsicht wichtige Aufschlüsse vermittelt.
Michael Burleigh geht den dritten Weg. Sein Buch "Die Zeit des Nationalsozialismus" betrachtet die Herrschaft Hitlers ganz überwiegend von der sozusagen mittleren Ebene her, ohne sich freilich in eine der spitzfindigen Theorien zu verirren, die Hitlers Bedeutung auf die eines "schwachen Diktators" oder gar die eines "Opfers" des ihm "angedichteten Führer-Mythos" reduzieren. Vielmehr macht die Darstellung im ganzen deutlich, daß Hitler bis zum Ende die Mittelpunktfigur war und der entscheidende Bezugspunkt alles dessen, was oftmals als "Exzeß" bezeichnet wird, aber gerade dies nicht war, sondern die buchstäbliche Übertragung seiner Komplexe und Haßgefühle in die Wirklichkeit. Dabei wird die Kenntnis der Ereignisse, die den Aufstieg, die Machteroberung und den Untergang des Diktators markieren, weitgehend vorausgesetzt oder mit einem lediglich erinnernden Hinweis abgetan. Insofern ist der Untertitel des tausendseitigen Werks - "eine Gesamtdarstellung" - etwas hoch gegriffen.
Zum nicht geringen Teil hängt der Blickwinkel des Verfassers mit seinem leitenden Gedanken zusammen, daß der Nationalsozialismus eine weltliche, messianisch überhöhte Religion war. Wie kein anderer Politiker der Zeit habe Hitler in den Affekten der Massen, ihren ziellosen Ressentiments und Orientierungsnöten das gleichsam metapolitische Bedürfnis erkannt, das sie umtrieb und demjenigen reichen Gewinn versprach, der es sich zunutze machte. Mit seiner zunehmend sicherer gehandhabten Redegabe sagte Hitler den Menschen, woher ihre Ängste kamen, woran sie litten und worauf sich, wenn sie träumten, ihre Träume richten sollten.
Das Hauptaugenmerk des Autors gilt anfangs infolgedessen der psychologischen Verfassung des Landes in den Jahren der wankenden Republik sowie der allmählichen Verfertigung der von Hitler eingenommenen Erlöserrolle. Ihr sprechendster Ausdruck war die schon vor 1933 entwickelte politische Liturgie, die dann, kaum daß die Nationalsozialisten an die Macht gelangt waren, zu einem pausenlosen chiliastischen Stimmungstheater ausgebaut wurde: in Feierstunden mit Gemeinschaftsgelöbnissen, Fackelumzügen, Höhenfeuern und Aufmärschen unter Lichtdomen. Ausführlich beschreibt Burleigh die Heils- und Erlösungsrhetorik, die jeder Maßnahme bis hin zum SA-Terror als Rechtfertigung diente. Schon 1937 bezeichnete eine unterderhand verbreitete Denkschrift anonymer Regimegegner die Hitler-Diktatur als einen "Kirchenstaat mit eigenem Ritus, Kultus und Dogma" sowie mit einer apokalyptischen Weltsicht, in der Bolschewismus und Judentum als "teuflische Mächte" figurierten.
Gerade der düstere Prospekt, vor dem sich nach Auffassung der NS-Ideologen das Geschehen der Epoche entfaltete, hat dem Nationalsozialismus gegenüber seinem totalitären Rivalen, dem Kommunismus, eine nie gefährdete Überlegenheit eingetragen. Der enervierend selbstgefällige Geschichtsoptimismus der Kommunisten ließ nicht nur dem Gedanken an eine womöglich drohende Niederlage keinen Raum, sondern verkleinerte auch die Rolle des einzelnen auf die eines bloßen Agenten in einem vorherbestimmten welthistorischen Prozeß. Das kosmische Drama dagegen, das Hitler und seine Zuträger im Gange sahen, verlieh dem bescheidenen und unauffälligen Dasein noch des Geringsten eine einzigartige Bedeutung für das Schicksal der Menschheit. Was immer die Machthaber an moralischen oder materiellen Zumutungen verlangten, wurde von der Gewißheit des säkulären Ringens kompensiert, das angeblich die Zeit erfüllte, und die Menschen dankten es dem Regime, daß es jedem von ihnen eine so überwältigende Wichtigkeit zuerkannte.
Man mag einwenden, daß diese Deutung die Gründe für die merkwürdig widerstandslose, schon im Frühjahr 1933 einsetzende Ergebung in die neuen Verhältnisse zu hoch ansetzt. Zweifellos hat sich die Masse der Zeitgenossen nicht in einem endzeitlichen Entscheidungskampf gesehen, sondern mit dem Machtantritt Hitlers weit näherliegende Erwartungen verbunden wie die Überwindung der wirtschaftlichen Misere, die Rückgewinnung des deutschen Ansehens in der Welt sowie die Wiederkehr der in den Weimarer Jahren über alle politischen Lager hinweg vermißten staatlichen Autorität. Burleigh benennt diese und weitere Motive auch, wie sich die Darstellung überhaupt durch ein breites Spektrum der Erwägungen auszeichnet. Aber daß die neuen Gewalthaber die binnen kurzem allenthalben spürbar werdenden Erfolge angesichts einer derart bedrohlichen Weltenstunde errangen, hat ihrem Ansehen zusätzlich vorgearbeitet und womöglich eine Art Wunderglauben verbreitet, der sich auch in der alsbald hervortretenden, zusehends wegwerfender agierenden Herausforderung der gesamten Welt jede skeptische Anwandlung versagte.
Die pseudoreligiöse Kontur des Nationalsozialismus bestimmt auch die Auswahl der Aspekte, denen das Buch folgt: angefangen von der Herstellung der "Volksgemeinschaft" über den Kampf gegen die Kirchen, die Eugenik samt dem verordneten Mord an "unwertem Leben" bis hin zur Judenpolitik, die bereits, wie in einem Akt schwer bezähmbarer Ungeduld, am 1. April 1933 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte begann, in den Nürnberger Gesetzen ihre Fortsetzung fand und in einer Folge immer neu erdachter, behördlich verfügter Schikanen weiterging: alles von zuständigen Stellen in makelloses Amtsdeutsch gefaßt und nicht zuletzt mit Hilfe eines verbreiteten Denunziantentums durchgesetzt.
Niedertracht im Kleinen
Keines der großen strategischen Ziele, die das Regime verfolgte, wie der Krieg nach Westen oder Osten, dem weitere umfangreiche Kapitel gewidmet sind, vermochte seine Niedertracht im Kleinen zu mindern. Ganz im Gegenteil steigerte es die entwürdigenden Schindereien noch, ehe sie schließlich in die riesige "Flurbereinigung" eingingen, die mit wahren Ausrottungsfeldzügen, geplanten und teilweise verwirklichten Umsiedlungsaktionen sowie mit den Fremdarbeitererhebungen dem Kontinent ein neues, alle regulativen Traditionen verleugnendes Gesicht geben sollten. Und am Ende des von Burleigh beschriebenen Weges, der kein Ende hatte oder haben sollte, sondern eine weit im Osten verlaufende, "ewig blutende Grenze" vorsah, stand die Utopie des "Neuen Menschen", der nicht nur propagandistisch beschworen wurde, sondern in breitangelegten Züchtungs- und Erziehungsprogrammen erste Umrisse gewann.
Was der Verfasser aus alledem herausgearbeitet hat, stellt sich als ein aus Aberwitz, Hochmut und Brutalität gemischtes Weltbild dar. Gerade die auf Hunderten von Seiten mit nüchterner Anschaulichkeit aufgeführten Greuel, die in den entfernten Weiten Polens und der Sowjetunion ihre bereitwilligen Exekutoren fanden, machen den Leser, wieviel er darüber auch zu wissen vermeint, ein ums andere Mal ratlos. Auch Burleigh hat keine unkomplizierte, unmittelbar einleuchtende Erklärung dafür. Zwar stützt er seine Darlegungen auf ungezählte Belege. Aber kein noch so breites Quellenmaterial gibt den äußersten Grund dafür her, wie dergleichen möglich und bei so vielen Beteiligten mit so schuldiger Beflissenheit durchsetzbar war - es sei denn, man geht auf die anthropologische Einsicht zurück, daß selbst in hochentwickelten Kulturen, dicht unter einem dünnen Firnis, die Instinkte einer "Rotte von Mördern" ihr Wesen treiben. Dabei erliegt der Autor keineswegs der Versuchung zu summarischen Urteilen und bleibt selbst angesichts des albtraumhaften Gesamtbildes bei seinen Abwägungen. Aber die Kraft der Unterscheidung macht das Beschriebene eher noch bedrückender.
Fast eine Art Erleichterung stellt sich mit dem folgenden Kapitel über den Widerstand ein. Auch da bewährt sich, trotz aller kritischen Einlassungen, Burleighs Unterscheidungsvermögen. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Neigung nicht zuletzt unter deutschen Historikern, die Motive und Zukunftsvorstellungen der Opposition an den Erfahrungen der Gegenwart und den Maßstäben des Grundgesetzes zu messen, vertritt er die Auffassung, daß man die Herkunft der Beteiligten, ihre Erziehung und Prägung durch einen gänzlich anderen Epochengeist berücksichtigen müsse. Ihre Fähigkeit zum verschwörerischen Pragmatismus schätzt er eher gering ein, hat aber keinen Zweifel an den im ganzen humanitären, auf Menschlichkeit, Rechtsgefühl oder einfachem Anstand beruhenden Beweggründen. Sein Vorbehalt gegen die Abwertung des Widerstands tut sich keineswegs moralisch groß, sondern beschränkt sich aufs Handwerkliche: Es mag für die Geringschätzung der Akteure "achtenswerte politische Gründe" geben, heißt es einmal, "aber gute Geschichtsschreibung ist das nicht".
Es gehört zu den Vorzügen des Buches, daß es sich von den umlaufenden Moden wie von aller akademischen Blasiertheit fernhält. Nicht selten gewinnt man den Eindruck, Burleigh betrachte die Leidenschaft für oftmals weit hergeholte Theorien als eine Nachwirkung jener Verwirrung, die der Nationalsozialismus selber angerichtet hat. Wie er Hitlers richtungweisende Rolle für all das Verfolgen, Kriegführen und Morden für unbestreitbar hält, weist er auch die seit geraumer Zeit vorherrschende Kritik an jenem Totalitarismuskonzept zurück, das gewisse Übereinstimmungen zwischen der nationalsozialistischen und der kommunistischen Herrschaftspraxis festgestellt hat, ehe es gegen Ende der sechziger Jahre und seither zunehmend entschiedener als Ausgeburt des Kalten Krieges verworfen wurde. Statt dessen schreibt er ohne viel Aufhebens hin: "Zu diesem Ansatz bekenne ich mich."
Mitunter freilich geht der Verzicht auf inzwischen gewonnene Einsichten etwas weit. So bemerkt der Verfasser, er habe die Überlegungen zum Modernisierungsschub durch die Hitler-Diktatur, die in der Wissenschaftsdebatte seit langem einen breiten Raum einnehmen, so wenig aufgegriffen wie die Diskussion über das Verhältnis zwischen ideologischen und strukturellen Faktoren bei Entstehung und Verlauf der "Endlösung". Aber dergleichen gehört in eine Darstellung mit dem Anspruch, die "Zeit des Nationalsozialismus" auf der Höhe der erlangten Erkenntnisse zu behandeln. Etwas zufällig ist darüber hinaus die Beschreibung der Nachgeschichte seit 1945 ausgefallen, nicht anders übrigens als das Eingangskapitel über die vor allem psychologischen Erschütterungen, die von der unvermuteten Weltkriegsniederlage, von Revolutionschaos und Inflation ausgingen und Hitlers Demagogie so wirkungsvolle Anknüpfungspunkte boten.
Doch im ganzen liegt ein mit großem Fleiß erarbeitetes, im Faktischen verläßliches und umsichtig argumentierendes Buch vor. Es demonstriert auf beklemmende Weise, wohin Mythenanfälligkeit, Messianismus und Utopieglauben in der Geschichte führen. Der blutigrote Faden, den Michael Burleigh aus dem Verlauf jener Jahre herauspräpariert, hatte zu einem erheblichen Teil darin seinen Ursprung. In seiner beherrschten Vernünftigkeit nennt der Autor das eine Lehre. Vielleicht liefert er so etwas wie ein Selbstporträt ab, wenn er in den Schlußsätzen für die Vorzüge "langweiliger" Epochen gegenüber denen plädiert, die von apokalyptischem Lärm erfüllt sind. Bedauerlicherweise jedoch, fährt er fort, hätte diese humane politische Kultur niemals die großen Chronisten gefunden, die ihrer wenn auch gebrechlichen Menschlichkeit gerecht zu werden vermögen.
JOACHIM FEST
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Burleighs umsichtig argumentierende Darstellung über "Die Zeit des Nationalsozialismus"
Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 1080 Seiten, 4 Karten, 88,- Mark.
Der Turmbau der Geschichte hat viele Zugänge. Sie läßt sich von den Haupt- und Staatsaktionen her darstellen, von den Winkelzügen und Coups der Akteure, ihren Interessen und leitenden Motiven. Man kann sie aber auch von unten her, aus der Sicht derer beschreiben, die sie erleiden und wo sie in aller Regel den Satz wahr macht, daß sie die Wissenschaft vom Unglück der Menschen sei. Vereinfacht gesprochen, ist nach der lang anhaltenden Vorherrschaft der einen Perspektive zusehends die andere nach vorn gekommen. Beide haben ihr Recht und der Einsicht wichtige Aufschlüsse vermittelt.
Michael Burleigh geht den dritten Weg. Sein Buch "Die Zeit des Nationalsozialismus" betrachtet die Herrschaft Hitlers ganz überwiegend von der sozusagen mittleren Ebene her, ohne sich freilich in eine der spitzfindigen Theorien zu verirren, die Hitlers Bedeutung auf die eines "schwachen Diktators" oder gar die eines "Opfers" des ihm "angedichteten Führer-Mythos" reduzieren. Vielmehr macht die Darstellung im ganzen deutlich, daß Hitler bis zum Ende die Mittelpunktfigur war und der entscheidende Bezugspunkt alles dessen, was oftmals als "Exzeß" bezeichnet wird, aber gerade dies nicht war, sondern die buchstäbliche Übertragung seiner Komplexe und Haßgefühle in die Wirklichkeit. Dabei wird die Kenntnis der Ereignisse, die den Aufstieg, die Machteroberung und den Untergang des Diktators markieren, weitgehend vorausgesetzt oder mit einem lediglich erinnernden Hinweis abgetan. Insofern ist der Untertitel des tausendseitigen Werks - "eine Gesamtdarstellung" - etwas hoch gegriffen.
Zum nicht geringen Teil hängt der Blickwinkel des Verfassers mit seinem leitenden Gedanken zusammen, daß der Nationalsozialismus eine weltliche, messianisch überhöhte Religion war. Wie kein anderer Politiker der Zeit habe Hitler in den Affekten der Massen, ihren ziellosen Ressentiments und Orientierungsnöten das gleichsam metapolitische Bedürfnis erkannt, das sie umtrieb und demjenigen reichen Gewinn versprach, der es sich zunutze machte. Mit seiner zunehmend sicherer gehandhabten Redegabe sagte Hitler den Menschen, woher ihre Ängste kamen, woran sie litten und worauf sich, wenn sie träumten, ihre Träume richten sollten.
Das Hauptaugenmerk des Autors gilt anfangs infolgedessen der psychologischen Verfassung des Landes in den Jahren der wankenden Republik sowie der allmählichen Verfertigung der von Hitler eingenommenen Erlöserrolle. Ihr sprechendster Ausdruck war die schon vor 1933 entwickelte politische Liturgie, die dann, kaum daß die Nationalsozialisten an die Macht gelangt waren, zu einem pausenlosen chiliastischen Stimmungstheater ausgebaut wurde: in Feierstunden mit Gemeinschaftsgelöbnissen, Fackelumzügen, Höhenfeuern und Aufmärschen unter Lichtdomen. Ausführlich beschreibt Burleigh die Heils- und Erlösungsrhetorik, die jeder Maßnahme bis hin zum SA-Terror als Rechtfertigung diente. Schon 1937 bezeichnete eine unterderhand verbreitete Denkschrift anonymer Regimegegner die Hitler-Diktatur als einen "Kirchenstaat mit eigenem Ritus, Kultus und Dogma" sowie mit einer apokalyptischen Weltsicht, in der Bolschewismus und Judentum als "teuflische Mächte" figurierten.
Gerade der düstere Prospekt, vor dem sich nach Auffassung der NS-Ideologen das Geschehen der Epoche entfaltete, hat dem Nationalsozialismus gegenüber seinem totalitären Rivalen, dem Kommunismus, eine nie gefährdete Überlegenheit eingetragen. Der enervierend selbstgefällige Geschichtsoptimismus der Kommunisten ließ nicht nur dem Gedanken an eine womöglich drohende Niederlage keinen Raum, sondern verkleinerte auch die Rolle des einzelnen auf die eines bloßen Agenten in einem vorherbestimmten welthistorischen Prozeß. Das kosmische Drama dagegen, das Hitler und seine Zuträger im Gange sahen, verlieh dem bescheidenen und unauffälligen Dasein noch des Geringsten eine einzigartige Bedeutung für das Schicksal der Menschheit. Was immer die Machthaber an moralischen oder materiellen Zumutungen verlangten, wurde von der Gewißheit des säkulären Ringens kompensiert, das angeblich die Zeit erfüllte, und die Menschen dankten es dem Regime, daß es jedem von ihnen eine so überwältigende Wichtigkeit zuerkannte.
Man mag einwenden, daß diese Deutung die Gründe für die merkwürdig widerstandslose, schon im Frühjahr 1933 einsetzende Ergebung in die neuen Verhältnisse zu hoch ansetzt. Zweifellos hat sich die Masse der Zeitgenossen nicht in einem endzeitlichen Entscheidungskampf gesehen, sondern mit dem Machtantritt Hitlers weit näherliegende Erwartungen verbunden wie die Überwindung der wirtschaftlichen Misere, die Rückgewinnung des deutschen Ansehens in der Welt sowie die Wiederkehr der in den Weimarer Jahren über alle politischen Lager hinweg vermißten staatlichen Autorität. Burleigh benennt diese und weitere Motive auch, wie sich die Darstellung überhaupt durch ein breites Spektrum der Erwägungen auszeichnet. Aber daß die neuen Gewalthaber die binnen kurzem allenthalben spürbar werdenden Erfolge angesichts einer derart bedrohlichen Weltenstunde errangen, hat ihrem Ansehen zusätzlich vorgearbeitet und womöglich eine Art Wunderglauben verbreitet, der sich auch in der alsbald hervortretenden, zusehends wegwerfender agierenden Herausforderung der gesamten Welt jede skeptische Anwandlung versagte.
Die pseudoreligiöse Kontur des Nationalsozialismus bestimmt auch die Auswahl der Aspekte, denen das Buch folgt: angefangen von der Herstellung der "Volksgemeinschaft" über den Kampf gegen die Kirchen, die Eugenik samt dem verordneten Mord an "unwertem Leben" bis hin zur Judenpolitik, die bereits, wie in einem Akt schwer bezähmbarer Ungeduld, am 1. April 1933 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte begann, in den Nürnberger Gesetzen ihre Fortsetzung fand und in einer Folge immer neu erdachter, behördlich verfügter Schikanen weiterging: alles von zuständigen Stellen in makelloses Amtsdeutsch gefaßt und nicht zuletzt mit Hilfe eines verbreiteten Denunziantentums durchgesetzt.
Niedertracht im Kleinen
Keines der großen strategischen Ziele, die das Regime verfolgte, wie der Krieg nach Westen oder Osten, dem weitere umfangreiche Kapitel gewidmet sind, vermochte seine Niedertracht im Kleinen zu mindern. Ganz im Gegenteil steigerte es die entwürdigenden Schindereien noch, ehe sie schließlich in die riesige "Flurbereinigung" eingingen, die mit wahren Ausrottungsfeldzügen, geplanten und teilweise verwirklichten Umsiedlungsaktionen sowie mit den Fremdarbeitererhebungen dem Kontinent ein neues, alle regulativen Traditionen verleugnendes Gesicht geben sollten. Und am Ende des von Burleigh beschriebenen Weges, der kein Ende hatte oder haben sollte, sondern eine weit im Osten verlaufende, "ewig blutende Grenze" vorsah, stand die Utopie des "Neuen Menschen", der nicht nur propagandistisch beschworen wurde, sondern in breitangelegten Züchtungs- und Erziehungsprogrammen erste Umrisse gewann.
Was der Verfasser aus alledem herausgearbeitet hat, stellt sich als ein aus Aberwitz, Hochmut und Brutalität gemischtes Weltbild dar. Gerade die auf Hunderten von Seiten mit nüchterner Anschaulichkeit aufgeführten Greuel, die in den entfernten Weiten Polens und der Sowjetunion ihre bereitwilligen Exekutoren fanden, machen den Leser, wieviel er darüber auch zu wissen vermeint, ein ums andere Mal ratlos. Auch Burleigh hat keine unkomplizierte, unmittelbar einleuchtende Erklärung dafür. Zwar stützt er seine Darlegungen auf ungezählte Belege. Aber kein noch so breites Quellenmaterial gibt den äußersten Grund dafür her, wie dergleichen möglich und bei so vielen Beteiligten mit so schuldiger Beflissenheit durchsetzbar war - es sei denn, man geht auf die anthropologische Einsicht zurück, daß selbst in hochentwickelten Kulturen, dicht unter einem dünnen Firnis, die Instinkte einer "Rotte von Mördern" ihr Wesen treiben. Dabei erliegt der Autor keineswegs der Versuchung zu summarischen Urteilen und bleibt selbst angesichts des albtraumhaften Gesamtbildes bei seinen Abwägungen. Aber die Kraft der Unterscheidung macht das Beschriebene eher noch bedrückender.
Fast eine Art Erleichterung stellt sich mit dem folgenden Kapitel über den Widerstand ein. Auch da bewährt sich, trotz aller kritischen Einlassungen, Burleighs Unterscheidungsvermögen. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Neigung nicht zuletzt unter deutschen Historikern, die Motive und Zukunftsvorstellungen der Opposition an den Erfahrungen der Gegenwart und den Maßstäben des Grundgesetzes zu messen, vertritt er die Auffassung, daß man die Herkunft der Beteiligten, ihre Erziehung und Prägung durch einen gänzlich anderen Epochengeist berücksichtigen müsse. Ihre Fähigkeit zum verschwörerischen Pragmatismus schätzt er eher gering ein, hat aber keinen Zweifel an den im ganzen humanitären, auf Menschlichkeit, Rechtsgefühl oder einfachem Anstand beruhenden Beweggründen. Sein Vorbehalt gegen die Abwertung des Widerstands tut sich keineswegs moralisch groß, sondern beschränkt sich aufs Handwerkliche: Es mag für die Geringschätzung der Akteure "achtenswerte politische Gründe" geben, heißt es einmal, "aber gute Geschichtsschreibung ist das nicht".
Es gehört zu den Vorzügen des Buches, daß es sich von den umlaufenden Moden wie von aller akademischen Blasiertheit fernhält. Nicht selten gewinnt man den Eindruck, Burleigh betrachte die Leidenschaft für oftmals weit hergeholte Theorien als eine Nachwirkung jener Verwirrung, die der Nationalsozialismus selber angerichtet hat. Wie er Hitlers richtungweisende Rolle für all das Verfolgen, Kriegführen und Morden für unbestreitbar hält, weist er auch die seit geraumer Zeit vorherrschende Kritik an jenem Totalitarismuskonzept zurück, das gewisse Übereinstimmungen zwischen der nationalsozialistischen und der kommunistischen Herrschaftspraxis festgestellt hat, ehe es gegen Ende der sechziger Jahre und seither zunehmend entschiedener als Ausgeburt des Kalten Krieges verworfen wurde. Statt dessen schreibt er ohne viel Aufhebens hin: "Zu diesem Ansatz bekenne ich mich."
Mitunter freilich geht der Verzicht auf inzwischen gewonnene Einsichten etwas weit. So bemerkt der Verfasser, er habe die Überlegungen zum Modernisierungsschub durch die Hitler-Diktatur, die in der Wissenschaftsdebatte seit langem einen breiten Raum einnehmen, so wenig aufgegriffen wie die Diskussion über das Verhältnis zwischen ideologischen und strukturellen Faktoren bei Entstehung und Verlauf der "Endlösung". Aber dergleichen gehört in eine Darstellung mit dem Anspruch, die "Zeit des Nationalsozialismus" auf der Höhe der erlangten Erkenntnisse zu behandeln. Etwas zufällig ist darüber hinaus die Beschreibung der Nachgeschichte seit 1945 ausgefallen, nicht anders übrigens als das Eingangskapitel über die vor allem psychologischen Erschütterungen, die von der unvermuteten Weltkriegsniederlage, von Revolutionschaos und Inflation ausgingen und Hitlers Demagogie so wirkungsvolle Anknüpfungspunkte boten.
Doch im ganzen liegt ein mit großem Fleiß erarbeitetes, im Faktischen verläßliches und umsichtig argumentierendes Buch vor. Es demonstriert auf beklemmende Weise, wohin Mythenanfälligkeit, Messianismus und Utopieglauben in der Geschichte führen. Der blutigrote Faden, den Michael Burleigh aus dem Verlauf jener Jahre herauspräpariert, hatte zu einem erheblichen Teil darin seinen Ursprung. In seiner beherrschten Vernünftigkeit nennt der Autor das eine Lehre. Vielleicht liefert er so etwas wie ein Selbstporträt ab, wenn er in den Schlußsätzen für die Vorzüge "langweiliger" Epochen gegenüber denen plädiert, die von apokalyptischem Lärm erfüllt sind. Bedauerlicherweise jedoch, fährt er fort, hätte diese humane politische Kultur niemals die großen Chronisten gefunden, die ihrer wenn auch gebrechlichen Menschlichkeit gerecht zu werden vermögen.
JOACHIM FEST
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Christoph Jahr ist in seiner luziden Kritik zwiegespalten in der Bewertung einer der - im Verhältnis zur Zahl der Einzeluntersuchungen - gar nicht so zahlreichen Gesamtdarstellungen des Nationalsozialismus. Zugute hält er dem englischen Historiker Michael Burleigh die Fortführung der Deutungstradition als “politische Religion” und einen differenzierten Totalitarismus-Ansatz, der bewusst den Vergleich mit dem Stalinismus sucht, ohne die Einmaligkeit des Nationalsozialismus in Frage zu stellen. Problematisch findet er aber, dass auf schlappen 1054 Seiten sozialgeschichtliche Aspekte - willentlich - ausgeblendet werden. Denn das Konzept der “politischen Religion” ist genau darauf angewiesen, wenn es nicht nur die “Priester”, sondern auch die “Gläubigen” verstehen will. Zudem trägt das Konzept, so Jahr, auch nicht zur Erklärung des zentralen Phänomens, der “rassischen Neuordnung und des Lebensraumkrieges” bei. Trotzdem: Die “moralische Verheerung” ist in seltener “Eindrücklichkeit” dargestellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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