Durch neun Epochenkreise - von der morgigen Gegenwart bis zurück in die Welt der Mythen - lasst Felix Philipp Ingold seine Icherzahler und -erzahlerinnen eine kleine Mittelmeerinsel erkunden, die vermeintlich keine Geschichte hat, die eine solche aber grade dadurch gewinnt, dass immer wieder jemand anderes sie berichtet. Unter wechselnden Namen wird die Insel zum Schauplatz - zu einer Art Welttheater - für wechselnde tragikomische Episoden in wechselnder Besetzung. Fiktive und reale Mitspieler kommen gleichermaßen zu Wort als Zeitzeugen, die ihre Zeit weniger bezeugen, als dass sie sie erzeugen, sie also beim Reden oder Schreiben überhaupt erst hervorbringen. Ein Oligarch, ein Filmemacher, ein Literat, eine Sekretarin, eine Malerin, ein Bildungsreisender, ein Wandermonch, eine Wunschfrau bringen "Leben" auf die Insel und - bezahlen es mit dem Tod.Unmerkliche Verrückungen und Verschiebungen, die der Autor an scheinbar realistischen Settings vornimmt, lassen uns umso aufmerksamer werden für die Konstruiertheit jeglichen Berichts und machen solcher Art die Durchlassigkeit der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion nachempfindbar. Felix Philipp Ingolds "Neun Episoden" verheißen Entdeckerfreuden in dem durchaus noch nicht restlos erforschten Archipel zeitgemaßer Erzahlmoglichkeiten.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einem Text von "völlig irrer Faszination" begegnet Rezensentin Christiane Pöhlmann mit Felix Philipp Ingolds Buch. In neun Episoden erzählt der fast 80-jährige Autor von "möglichen" Existenzen auf der Insel Skorpios zu den verschiedensten Zeiten: Da ist ein superreicher russischer Oligarch, der sich im Dostojewski-Tonfall, so Pöhlmann, mit Aristarch Onassis in Sachen Luxus duelliert; da ist der im Rollstuhl sitzende Regisseur Antonioni, oder eine Mischfigur aus Wilhelm Jensens Gravida, Eurydike, Ariadne und Jesus, staunt die Kritikerin - was diese wilden, referenzgesättigten Geschichten "sollen", "wollen" oder überhaupt "erzählen", ist für Pöhlmann erst einmal nicht so leicht zu beantworten. Trotzdem scheint sie Spaß zu haben an diesem produktiven "Unsinn" und daran, Ingold in seinen unzähligen Verweisen "hinterherzuhecheln" - besonders in Bezug auf die russische Geschichte und Kultur kann der Autor glänzen, lobt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2022Der Insulaner verliert die Ruhe nicht
In neun Touren reist Felix Philipp Ingold zu seiner "Zeitinsel" und begegnet dort auf einem Parforceritt durch die Geschichte literarischen Fabelwesen
Mittlerweile ist die Welt ja um eine Expertise reicher: Mit Yachtlängen wirft man heute wieder so lässig um sich wie einst in Kindertagen beim Schiffsquartett. Deshalb lässt sich mit echter Kennermiene verfolgen, wie ein russischer Oligarch und ein gewisser Aristarch Onassis in Felix Philipp Ingolds "Die Zeitinsel" sich die entsprechenden Größen zwar nicht direkt um die Ohren hauen, sich aber mit gleichem Protzgehabe ihrer Besitztümer rühmen. Duellanten als Spiegelbilder.
In neun Episoden fängt Ingold das - mögliche - Leben auf der Insel Skorpios zu verschiedenen Zeiten ein, lässt fünf Männer, zwei Frauen, ein lyrisches Werk in acht Oktaven und eine völlig anonyme Figur zu Wort kommen. Der Name des Griechen deutet bereits an, auf welche Probe die Geschmacksnerven gestellt werden, andere Beispiele wären ein Regisseur namens Angelo Antonioni oder ein Vogel, der deutliche Ähnlichkeit mit dem Kasuar aufweist und bei Ingold unter dem Namen "Caesar" auftritt. Im Übrigen wird diesem Werk nicht ein Faktencheck, sondern einzig die Suche nach Anspielungen gerecht, bei der man freilich über weite Strecken dem Autor mit heraushängender Zunge hinterherhechelt.
Die erste Geschichte, die mit dem superreichen Russen, ist vielleicht die beste. Ingolds Oligarch klingt wie einer von Dostojewskis Erzählern, beispielsweise der aus den "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" - oder "Untergrund" oder "Abseits", wie es in Ingolds Übersetzung von 2016 heißt -, eine sprunghafte, temperamentvolle Figur, mit einem Schuss Ernst Stavro Blofeld (gerührt, nicht geschüttelt) und einer Prise Dr. Seltsam. Ingold spendiert ihm erstaunliche Selbsterkenntnis: "More and more people get rich, so eben auch ich, and more and more they get educated, ebenfalls wie ich, aber Ausbildung schützt vor Dummheit nicht, so wie Reichtum vor schlechtem Geschmack nicht schützt, nein, Reichtum fördert und rechtfertigt heutzutage schlechtesten Geschmack, Kitsch gilt als geil, unter russischen und zypriotischen Oligarchen gleichermaßen, der Größte in dieser Hinsicht ist und bleibt allerdings - education her oder hin - der Deutschamerikaner Trump, Donald Trump", unterstreicht gleichzeitig aber die Skrupellosigkeit des Typus, die sich eben auch bei Onassis findet.
Fäden dieser Art verweben die neun Texte. Der Regisseur Antonioni sitzt genau wie der Oligarch im Rollstuhl, der Schriftsteller Roman [sic!] Gary behauptet: "Ich schreibe, um zu schreiben, nicht um geschrieben zu haben", und auch einer Wehrmachtsstenotypistin ist das Schreiben "wichtiger als das Geschriebene". Wie die ambitionierte Reisende Isabelle de Moerder trägt sie Männerkleidung, während Zar Paul der Große nach entsprechenden Kriegsverletzungen aus Einzelteilen zusammengeschraubt werden muss, andernfalls er grunzend am Boden liegt wie der Laufvogel Caesar. Ingold konstruiert Typen mit einer Schnittmenge von Eigenschaften, als wollte er John Donne noch übertreffen: Niemand ist eine Insel, niemand ist ein Individuum. Dabei konterkariert er sich wiederum formal selbst, denn sein Werk kommt mit hochindividueller Stimme daher. Es ist dies nur eine der Merkwürdigkeiten, mit der jene Geschichten herausfordern.
Inhaltlich ist Ingold, der am kommenden Montag seinen achtzigsten Geburtstag feiert, in den Passagen am besten, in denen er auf seinen reichen Fundus an Kenntnissen zur russischen Geschichte und Kultur zurückgreift, so wenn Paul der Große auf der Insel "sein Machtzentrum errichten will", "ein monströses Politicum", das "halb Republik, halb Diktatur" ist. Zäher sind Passagen, in denen es um wahrgenommene, imaginierte, halluzinierte oder erdachte Wirklichkeit und deren Verhältnis zum Ich oder zur Kunst geht. Nach einem abschließenden Parforceritt, bei der am Wegesrand die Gradiva aus Wilhelm Jensens gleichnamiger Novelle mit Ariadne, Eurydike und vermutlich auch Jesus vermengt wird, folgt noch ein Album beigegebener Schwarz-Weiß-Fotografien des Autors - und das Gefühl, von der Lektüre vielleicht nicht gerührt, aber doch ordentlich geschüttelt zu sein.
"Unsinn wiederum ist nicht das Gegenteil von Sinn, sondern eine Möglichkeitsform davon, eine Herausforderung, gelten zu lassen, was nicht zu verstehen ist", behauptet der von seiner Säule gekletterte Heilige in der letzten Geschichte. Auch so ließe sich der Leseeindruck zusammenfassen. Die Frage, was soll, was will, was sagt, was erzählt dieses Werk, wird so rasch nicht zu beantworten sein.
Wäre dies das berühmte einzige Buch für die einsame Insel, die so öd wäre, dass sie keine Bibliothek bietet, keinen Freitag und keinen Internetzugang, der Koller wäre vorprogrammiert. Mit dieser triadischen Hilfe lässt sich die Ruhe jedoch bewahren und den kunstvollen Verwurstelungen da auf die Schliche kommen, wo die eigene Bildung Lücken zeigt. "Der Insulaner liebt keen Jetue nich", diese treffliche Weisheit gilt es zu vergessen, denn hier gibt es einiges Getue. In dieser partiellen Amnesie steige man dann in den Zug, sobald man Bahnhof versteht, und nehme die Fahrt mit einem Text von völlig irrer Faszination auf. CHRISTIANE PÖHLMANN
Felix Philipp Ingold:
"Die Zeitinsel".
Ritter Verlag, Klagenfurt 2022. 288 S., geb., 27,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In neun Touren reist Felix Philipp Ingold zu seiner "Zeitinsel" und begegnet dort auf einem Parforceritt durch die Geschichte literarischen Fabelwesen
Mittlerweile ist die Welt ja um eine Expertise reicher: Mit Yachtlängen wirft man heute wieder so lässig um sich wie einst in Kindertagen beim Schiffsquartett. Deshalb lässt sich mit echter Kennermiene verfolgen, wie ein russischer Oligarch und ein gewisser Aristarch Onassis in Felix Philipp Ingolds "Die Zeitinsel" sich die entsprechenden Größen zwar nicht direkt um die Ohren hauen, sich aber mit gleichem Protzgehabe ihrer Besitztümer rühmen. Duellanten als Spiegelbilder.
In neun Episoden fängt Ingold das - mögliche - Leben auf der Insel Skorpios zu verschiedenen Zeiten ein, lässt fünf Männer, zwei Frauen, ein lyrisches Werk in acht Oktaven und eine völlig anonyme Figur zu Wort kommen. Der Name des Griechen deutet bereits an, auf welche Probe die Geschmacksnerven gestellt werden, andere Beispiele wären ein Regisseur namens Angelo Antonioni oder ein Vogel, der deutliche Ähnlichkeit mit dem Kasuar aufweist und bei Ingold unter dem Namen "Caesar" auftritt. Im Übrigen wird diesem Werk nicht ein Faktencheck, sondern einzig die Suche nach Anspielungen gerecht, bei der man freilich über weite Strecken dem Autor mit heraushängender Zunge hinterherhechelt.
Die erste Geschichte, die mit dem superreichen Russen, ist vielleicht die beste. Ingolds Oligarch klingt wie einer von Dostojewskis Erzählern, beispielsweise der aus den "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" - oder "Untergrund" oder "Abseits", wie es in Ingolds Übersetzung von 2016 heißt -, eine sprunghafte, temperamentvolle Figur, mit einem Schuss Ernst Stavro Blofeld (gerührt, nicht geschüttelt) und einer Prise Dr. Seltsam. Ingold spendiert ihm erstaunliche Selbsterkenntnis: "More and more people get rich, so eben auch ich, and more and more they get educated, ebenfalls wie ich, aber Ausbildung schützt vor Dummheit nicht, so wie Reichtum vor schlechtem Geschmack nicht schützt, nein, Reichtum fördert und rechtfertigt heutzutage schlechtesten Geschmack, Kitsch gilt als geil, unter russischen und zypriotischen Oligarchen gleichermaßen, der Größte in dieser Hinsicht ist und bleibt allerdings - education her oder hin - der Deutschamerikaner Trump, Donald Trump", unterstreicht gleichzeitig aber die Skrupellosigkeit des Typus, die sich eben auch bei Onassis findet.
Fäden dieser Art verweben die neun Texte. Der Regisseur Antonioni sitzt genau wie der Oligarch im Rollstuhl, der Schriftsteller Roman [sic!] Gary behauptet: "Ich schreibe, um zu schreiben, nicht um geschrieben zu haben", und auch einer Wehrmachtsstenotypistin ist das Schreiben "wichtiger als das Geschriebene". Wie die ambitionierte Reisende Isabelle de Moerder trägt sie Männerkleidung, während Zar Paul der Große nach entsprechenden Kriegsverletzungen aus Einzelteilen zusammengeschraubt werden muss, andernfalls er grunzend am Boden liegt wie der Laufvogel Caesar. Ingold konstruiert Typen mit einer Schnittmenge von Eigenschaften, als wollte er John Donne noch übertreffen: Niemand ist eine Insel, niemand ist ein Individuum. Dabei konterkariert er sich wiederum formal selbst, denn sein Werk kommt mit hochindividueller Stimme daher. Es ist dies nur eine der Merkwürdigkeiten, mit der jene Geschichten herausfordern.
Inhaltlich ist Ingold, der am kommenden Montag seinen achtzigsten Geburtstag feiert, in den Passagen am besten, in denen er auf seinen reichen Fundus an Kenntnissen zur russischen Geschichte und Kultur zurückgreift, so wenn Paul der Große auf der Insel "sein Machtzentrum errichten will", "ein monströses Politicum", das "halb Republik, halb Diktatur" ist. Zäher sind Passagen, in denen es um wahrgenommene, imaginierte, halluzinierte oder erdachte Wirklichkeit und deren Verhältnis zum Ich oder zur Kunst geht. Nach einem abschließenden Parforceritt, bei der am Wegesrand die Gradiva aus Wilhelm Jensens gleichnamiger Novelle mit Ariadne, Eurydike und vermutlich auch Jesus vermengt wird, folgt noch ein Album beigegebener Schwarz-Weiß-Fotografien des Autors - und das Gefühl, von der Lektüre vielleicht nicht gerührt, aber doch ordentlich geschüttelt zu sein.
"Unsinn wiederum ist nicht das Gegenteil von Sinn, sondern eine Möglichkeitsform davon, eine Herausforderung, gelten zu lassen, was nicht zu verstehen ist", behauptet der von seiner Säule gekletterte Heilige in der letzten Geschichte. Auch so ließe sich der Leseeindruck zusammenfassen. Die Frage, was soll, was will, was sagt, was erzählt dieses Werk, wird so rasch nicht zu beantworten sein.
Wäre dies das berühmte einzige Buch für die einsame Insel, die so öd wäre, dass sie keine Bibliothek bietet, keinen Freitag und keinen Internetzugang, der Koller wäre vorprogrammiert. Mit dieser triadischen Hilfe lässt sich die Ruhe jedoch bewahren und den kunstvollen Verwurstelungen da auf die Schliche kommen, wo die eigene Bildung Lücken zeigt. "Der Insulaner liebt keen Jetue nich", diese treffliche Weisheit gilt es zu vergessen, denn hier gibt es einiges Getue. In dieser partiellen Amnesie steige man dann in den Zug, sobald man Bahnhof versteht, und nehme die Fahrt mit einem Text von völlig irrer Faszination auf. CHRISTIANE PÖHLMANN
Felix Philipp Ingold:
"Die Zeitinsel".
Ritter Verlag, Klagenfurt 2022. 288 S., geb., 27,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main