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Die Rechtsgeschichte durchläuft eine schwierige Zeit. In der Wissenschaft vom geltenden Recht schwindet zunehmend die Erkenntnis, dass Recht etwas historisch Entstandenes ist. Rechtshistorische Lehrstühle sind zunehmend von Streichungen bedroht. Dieser Band will einen Einblick in die aktuelle Forschung zur Rechtsgeschichte geben und zugleich einen Beitrag zu ihrem Selbstverständnis leisten. Unter dem Konzept einer "integralen Rechtsgeschichte" sind sowohl Historiker als auch Juristen und Rechtshistoriker beteiligt. Aus dem Inhalt: Pio Caroni: Blicke über den Gartenzaun. Von der Beziehung der…mehr

Produktbeschreibung
Die Rechtsgeschichte durchläuft eine schwierige Zeit. In der Wissenschaft vom geltenden Recht schwindet zunehmend die Erkenntnis, dass Recht etwas historisch Entstandenes ist. Rechtshistorische Lehrstühle sind zunehmend von Streichungen bedroht. Dieser Band will einen Einblick in die aktuelle Forschung zur Rechtsgeschichte geben und zugleich einen Beitrag zu ihrem Selbstverständnis leisten. Unter dem Konzept einer "integralen Rechtsgeschichte" sind sowohl Historiker als auch Juristen und Rechtshistoriker beteiligt. Aus dem Inhalt: Pio Caroni: Blicke über den Gartenzaun. Von der Beziehung der Rechtsgeschichte zu ihren historischen Nachbarwissenschaften Christof Dipper: Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte Martina Henze: Gesetzgebung und Einzelhaft im 19. Jahrhundert. Die ersten Gesetze zum Strafvollzug in Baden und Bayern Claudia Schöler: Kodifikationsgedanke und deutsche Rechtseinheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Louis Pahlow: Monopole oder freier Wettbewerb? Zur Bedeutung des "Licenzzwangs" für ein einheitliches Patentrecht im Deutschland des 19. Jahrhunderts
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2005

Im Labyrinth der Kriterien
Louis Pahlow läßt das Recht in seine Abgründe blicken

Geschichte ist kein einfaches Fach mehr. Im neunzehnten Jahrhundert konnte man schlicht erzählen, was war, und sich vom Nacheinander der Ereignisse die Gliederung vorgeben lassen. Heute muß man erklären, was das Vergangene in der Gegenwart bedeutet, wie es zu deuten ist, warum man dieses und nicht anderes Vergangenes erzählt und was die Hintergründe sind. Kein Text ohne Kontext, lautet die Forderung. Das zähmt Vorurteile, fördert Objektivität und schafft Anschlüsse an die bestehenden Verhältnisse, hoffen jedenfalls die Verfasser der ersten vier Aufsätze dieses Sammelbandes.

Die Rechtsgeschichte scheint solche Mahnungen dringend zu benötigen. Sie setzt beim geltenden Recht oder allenfalls bei einer vergangenen Rechtsdogmatik an und pflegt das jeweilige soziale Umfeld zu vernachlässigen. Da ist natürlich etwas dran. Aber der Rezensent fragt sich doch, ob einem herkömmlichen Rechtshistoriker unterlaufen wäre, was in diesem Buch einem Allgemeinhistoriker unterlaufen ist, nämlich Bärbel Bohleys östliche Enttäuschung "Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat erhalten" abzuwandeln in den westlichen Irrtum: "Wir wollten die Freiheit und bekamen den Rechtsstaat." Ein Rechtshistoriker befände sich auch nicht auf dem Stande der rechtstheoretischen Diskussion, wenn er sagte, "daß Recht letztlich nichts anderes als ein gesellschaftliches Steuerungsinstrument ist".

Freilich scheint es dem Band weniger um abstrakte erkenntnistheoretische Probleme und mehr um politische Korrektheit zu gehen, genauer, um die Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Einer der jüngeren Mitarbeiter des Bandes, Michael Wagner-Kern, will zeigen, wie man es richtig macht. Er meint, NS-Gesetze und andere Rechtsquellen des NS-Staates seien unter Berücksichtigung der NS-Ideologie und -Praxis auszulegen. Das stimmt, aber nur ungefähr. Denn wenn man die zwischen 1933 und 1945 erlassenen Normen im Lichte des NS-Unrechts betrachtet, werden sie alle zu NS-Unrecht. Auch die scheinbar "neutralen" haben das Unrecht mitlegitimiert, mindestens nicht verhindert.

Den Grund für den hermeneutischen Overkill hat Kant am besten formuliert: Anschauung ohne Begriffe ist leer, Begriffe ohne Anschauung sind blind. Das heißt, Gegenstände, die wir sehen, erscheinen in dem begrifflichen Licht, das wir auf sie werfen. Das erleichtert die alltägliche Kommunikation, erschwert aber Objektivität. Die Wissenschaft und das Recht müssen jedenfalls den Zirkel von Anschauung und Begriff durchbrechen. Der Grundgesetzgeber hat die Frage, wie man Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb des NS-Unrechts erhalten kann, viel besser als die Wissenschaft mit Selbstreferenz beantwortet: "Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages gilt fort, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht."

Aber das Problem liegt noch tiefer, als Kant gesehen hat. Die Welt begegnet uns in einer Vielfalt von Möglichkeiten, die wir nicht alle wahrnehmen können. Schon beim einfachen Beobachten müssen wir auslesen, dafür benötigen wir Kriterien, für die Auswahl der Kriterien weitere Kriterien und so weiter. Das gilt nicht nur für Rechtshistoriker, sondern auch für Allgemeinhistoriker. Der Kontext, den sie berücksichtigen wollen, entlastet sie nicht von der Pflicht, ihre Auswahl zu rechtfertigen, er begründet sie sogar. Juristen haben es mit der Auslese ihrer Sachverhalte in der Tat einfacher. Das geltende Recht hilft ihnen. Aber Juristen müssen auch verbindlich für und über andere urteilen. Historiker dürfen das nicht, obwohl sich manche gern zu Richtern aufschwingen.

Den vier geschichtstheoretischen Arbeiten folgen acht solide gearbeitete Einzelstudien über juristische Streitigkeiten im kurhessischen Bildungswesen, die ersten Gesetze zum Strafvollzug, den Kodifikationsgedanken und die deutsche Rechtseinheit, Blackstones Common-Law-Theorie, die Medizinalpolizey, die deutsche Diskussion französischer Bevölkerungspolitik nach dem Ersten Weltkrieg, den Lizenzzwang im Patentrecht und die Hintergründe des Rabattgesetzes von 1933. Sie sollen das Konzept untermauern, die Rechtsgeschichte habe "auch das Davor und Danach zu untersuchen, die rechtlichen, politischen und ökonomischen Zusammenhänge herauszuarbeiten und nach den gegenseitigen Wechselwirkungen zu fragen".

Nun sind die Studien durchaus lesenswert. Aber die Theorie bestätigen sie nicht. Manchmal leiden sie sogar unter ihr. So, wenn es heißt, Zugabeverordnung und Rabattgesetz von 1933 "können zwar nicht als zweckgerichtete Maßnahmen der Hitlerregierung gedeutet werden, sie sind aber Ausdruck einer antiliberalen Wirtschaftspolitik". Was soll das heißen? War antiliberale Wirtschaftspolitik nazistisch? Ähnlich zum Bevölkerungspolitiker Harmsen: "Obwohl Harmsen in dieser Zeit (vor 1933) nicht vererbungsbiologisch argumentierte, lagen Sinn und Ziel bevölkerungspolitischer Maßnahmen dennoch nicht zuletzt darin, Kraft und Gesundheit künftiger Generationen zu garantieren." Sind Kraft und Gesundheit künftiger Generationen kein zulässiges politisches Ziel? Wodurch unterscheidet sich die Weimarer Bevölkerungspolitik von der heutigen "Verantwortung für künftige Generationen"?

Der Aufsatz über Bevölkerungspolitik macht ein weiteres Manko sichtbar. Er enthält kein Wort über das familienpolitische Programm der Weimarer Verfassung: "Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staates." Steckte der böse Geist nicht bereits in der Verfassung? Ähnlich hätte man gern gewußt, ob die kurhessischen Schulprozesse Folgen eines "ausgeprägten Verwaltungsrechtsschutzes" waren oder ob sie nur die altständischen Streitigkeiten um Privilegien oder gute alte Rechte fortsetzten. Das heißt, der verfassungshistorische und gesellschaftskulturelle Hintergrund wird vielfach ausgeblendet.

Normalerweise wäre darüber kein Wort zu verlieren, weil es nur darauf ankommt, ob die Verfasser ihre Themen angemessen bearbeitet haben. Das haben sie. Sie haben die Überfülle der Möglichkeiten und Ereignisse im Hinblick auf ihr Sachproblem verständlich vereinfacht. Aber der theoretische Anspruch des Bandes zwingt dazu, Verkürzungen und Auslassungen als Fehler zu registrieren. Die Fehler fallen jedoch auf die Theoretiker zurück. Die Theoretiker dürfen nicht nur sagen, was einzubeziehen ist. "Alles" natürlich. Aber deshalb müßten sie eigentlich auch erklären, wie das zu rechtfertigen ist, was jeder Historiker tut: Ausblenden.

GERD ROELLECKE

Louis Pahlow (Hrsg.): "Die zeitliche Dimension des Rechts". Historische Rechtsforschung und geschichtliche Rechtswissenschaft. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2005. 306 S., br., 49,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Gerd Roellecke bescheinigt den acht Einzelstudien des Bandes, dass sie "solide" gearbeitet seien und die komplexen Sachprobleme "verständlich vereinfacht" hätten. Nicht einverstanden zeigt sich Roellecke mit den vier geschichtstheoretischen Arbeiten. Michael Wagner-Kern betreibt aus Sicht des Rezensenten den "hermeneutischen Overkill", wenn er die Haltung vertrete, "NS-Gesetze und andere Rechtsquellen des NS-Staates seien unter Berücksichtigung der NS-Ideologie und -Praxis auszulegen". Ein weiteres Problem des Bandes sieht Roellecke in theoretischen Vorgaben der Grundsatzaufsätze zur Geschichtstheorie, wenn diese in den Einzelstudien nicht berücksichtigt würden. Dort werde häufig der "verfassungshistorische und gesellschaftskulturelle Hintergrund" ausgeblendet, der zuvor, theoretisch, eingefordert wurde. Dies, so der Rezensent, sei nicht den Einzelstudien vorzuwerfen, vielmehr denjenigen, die den "theoretischen Anspruch" des Bandes formuliert haben.

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