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Die „Freie Erde“ war im Bezirk Neubrandenburg die größte Tageszeitung. Und sie war Teil eines widersprüchlichen Phänomens: Einerseits hatte die DDR-Presse enorme Statistiken vorzuweisen, was Titelzahl und Auflagenhöhe betraf, andererseits wurden die angeblich interessiertesten Zeitungsleser der Welt mit journalistischer Schmalkost abgespeist. Dem heutigen Betrachter begegnet viel Propaganda und Schönfärberei, beides war einem zentral gesteuerten Kampagnenstil geschuldet. Über wichtige Ereignisse und politische Zäsuren wurde nicht - oder verfälscht berichtet. Was bislang kaum bekannt ist: Nicht…mehr

Produktbeschreibung
Die „Freie Erde“ war im Bezirk Neubrandenburg die größte Tageszeitung. Und sie war Teil eines widersprüchlichen Phänomens: Einerseits hatte die DDR-Presse enorme Statistiken vorzuweisen, was Titelzahl und Auflagenhöhe betraf, andererseits wurden die angeblich interessiertesten Zeitungsleser der Welt mit journalistischer Schmalkost abgespeist. Dem heutigen Betrachter begegnet viel Propaganda und Schönfärberei, beides war einem zentral gesteuerten Kampagnenstil geschuldet. Über wichtige Ereignisse und politische Zäsuren wurde nicht - oder verfälscht berichtet. Was bislang kaum bekannt ist: Nicht wenige Redakteure wurden gegen ihre Leserschaft aktiv, fungierten nicht als Kritiker sondern als Horchposten für das MfS. Eingebettet in Zeitgeschehnisse und Aktenrecherchen nähert sich diese Studie kritisch den Biographien, Schwerpunkten und Verstrickungen im Umfeld der SED-Zeitung „Freie Erde“.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2014

Zuarbeit für die Stasi war selbstverständlich
Bittere Lektüre: Der "Nordkurier" hat seine Geschichte in der DDR aufgearbeitet, IM gab es haufenweise

Unter den vierzehn SED-Bezirkszeitungen, die es in der DDR gab, war die "Freie Erde" die kleinste. Sie erschien im landwirtschaftlich geprägten Bezirk Neubrandenburg. Die Auflage lag 1989 bei 200 000 Exemplaren. In einer Region mit 600 000 Einwohnern war das faktisch ein Monopol. Neben der Hauptredaktion in Neubrandenburg unterhielt die Zeitung vierzehn Lokalredaktionen in allen Kreisen. In der Umbruchzeit 1990 wechselte die "Freie Erde" den Namen und erscheint seither als "Nordkurier". Auch wenn das Blatt von den einstigen Auflagen nur noch träumen kann, besitzt es weiterhin das publizistische Monopol in der - extrem strukturschwachen - Region.

Als die Zeitung 2012 ihr sechzigjähriges Bestehen feierte, wollte der damaligen Chefredakteur Michael Seidel eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Blattes. Auf sein Betreiben hin wurde die Publizistin Christiane Baumann beauftragt, die Blattgeschichte in einer Artikelserie darzustellen, die vom "Nordkurier" später auch als Broschüre herausgegeben wurde (F.A.Z. vom 21. Juni 2013). Gleichzeitig hatte Baumann mit der Landesbeauftragten für die Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes in Mecklenburg-Vorpommern eine umfangreichere Dokumentation ihrer Forschungsergebnisse verabredet. Die liegt inzwischen unter dem Titel "Die Zeitung ,Freie Erde' (1952-1990). Kader, Themen, Hintergründe. Beschreibung eines SED-Bezirksorgans" vor. Es ist eine bittere Lektüre.

Nach wie vor gibt es vergleichsweise wenige Untersuchungen über die Bezirkszeitungen, die sich offiziell "SED-Bezirksorgane" nannten. Christiane Baumann zeigt am Neubrandenburger Beispiel, wie das Zusammenwirken von Partei und Zeitung funktionierte, vor allem in der "Kaderpolitik". Den Chefredakteur etwa setzte das Zentralkomitee der SED ein. Der Chefredakteur der Bezirkszeitung war Mitglied der SED-Bezirksleitung, der Leiter der jeweiligen Lokalredaktion Mitglied der SED-Kreisleitung. Es gab immer wieder einen "Kaderaustausch" zwischen SED-Parteiapparat und Redaktion. Journalismus wurde als Parteiarbeit verstanden. Eigentümer der Bezirkszeitungen war allerdings die Zentrag, ein SED-Betrieb, der 1952 der größte deutsche Pressekonzern überhaupt war. Zur Zentrag gehörten auch die Druckereien, Buchverlage, der Volksbuchhandel in der DDR sowie der Berliner Verlag, in dem bekannte Zeitschriften wie die "Neuer Berliner Illustrierte" oder die "Wochenpost" erschienen. Und weil Parteiarbeit und Journalismus im Sinne der SED nur zwei Seiten einer Medaille waren, galt dies auch für die Staatssicherheit. Christiane Baumann fand in vierzig Jahren Zeitungsgeschichte 44 IM-Fälle. Neben der Bezirksredaktion waren alle Lokalredaktionen betroffen. Baumann sagte im Gespräch mit dieser Zeitung: "Im dünnbesiedelten ländlichen Raum bot sich die Institution Zeitung wohl an. Die Staatssicherheit konnte hier auf zuverlässige SED-Mitglieder zurückgreifen und sie instrumentalisieren, indem die inoffizielle Zuarbeit als Parteiarbeit verkauft wurde."

Der Staatssicherheit hätten die Redakteure über Probleme berichtet, die in der Zeitung kein Thema sein durften. Auch wenn eine Stasi-Überprüfung der Redaktion nicht Baumanns Auftrag war, weiß sie, dass bis heute frühere IM bei der Zeitung tätig sind. "Ich schildere im Buch einige der IM-Geschichten und nenne dazu auch die Klarnamen, weil sich darin die Melange aus Bevormundung und Bespitzelung spiegelt, die zum Teil monströse Züge annahm." Es sei Sache der Chefredaktion, aktiv zu werden, gehe es doch um die Glaubwürdigkeit der Zeitung. "Frühere IM, die sich nicht erklärt haben, sind im politischen Journalismus fehl am Platz - und damit meine ich auch die Lokalredaktionen und den Sport, der in Neubrandenburg immer eine besondere Rolle gespielt hat."

Seidel ist längst nach Schwerin weitergezogen. Christiane Baumann konnte zwar im Archiv der Zeitung arbeiten, bekam aber keine Personalunterlagen. Aus eigenem Antrieb mit ihr sprechen wollte nur ein früherer Redakteur. Die jüngeren Redakteure hätten so gut wie nichts über die Vergangenheit der Zeitung gewusst. Dass diese Vergangenheit noch immer beschwiegen wird, darf nicht verwundern. Als die ehemaligen Bezirkszeitungen Anfang der Neunziger über die Treuhand privatisiert wurden, galten sie wegen ihrer hohen Auflagen als Filetstücke der Branche. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit folgte seitdem bestenfalls punktuell, etwa bei der "Lausitzer Rundschau" in Cottbus oder der "Leipziger Volkszeitung". Bei der "Berliner Zeitung" begann die Vergangenheitsbewältigung 2008 - als größere Einsparungen anstanden.

FRANK PERGANDE

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