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Mit der Ruhe eines Seiltänzers bewegt sich dieser Träumer auch durch das Nachwende-Berlin. Zu den Dingen, die dabei in seinen Besitz geraten, gehört eine einzigartige Uhr, in deren Ticken er die Geschichte hören kann, die ihm geschehen ist.Lutz Seilers lange erwartetes neues Buch enthält neben Turksib, für die er mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, dreizehn neue Erzählungen. Ob in der Geschichte einer gespielten Erschießung oder im alltäglichen Drama einer wirklichen Trennung - in allen Texten des Bandes Die Zeitwaage geht es um prägende Wendepunkte, um das Groteske im Leben…mehr

Produktbeschreibung
Mit der Ruhe eines Seiltänzers bewegt sich dieser Träumer auch durch das Nachwende-Berlin. Zu den Dingen, die dabei in seinen Besitz geraten, gehört eine einzigartige Uhr, in deren Ticken er die Geschichte hören kann, die ihm geschehen ist.Lutz Seilers lange erwartetes neues Buch enthält neben Turksib, für die er mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, dreizehn neue Erzählungen. Ob in der Geschichte einer gespielten Erschießung oder im alltäglichen Drama einer wirklichen Trennung - in allen Texten des Bandes Die Zeitwaage geht es um prägende Wendepunkte, um das Groteske im Leben und unser häufig vergebliches Ringen um einen anderen Verlauf.
Autorenporträt
Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren, heute lebt er in Wilhelmshorst bei Berlin und in Stockholm. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer. 1990 schloß er ein Studium der Germanistik ab, seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus.  Er unternahm Reisen nach Zentralasien, Osteuropa und war Writer in Residence in der Villa Aurora in Los Angeles sowie Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Uwe-Johnson-Preis, 2014 den Deutschen Buchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse 2020.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2015

NEUE TASCHENBÜCHER
Das Schnarren
der kleinen Dinge
13 Erzählungen sind im Band „Die Zeitwaage“ versammelt – eine Zahl, die für Leser ganz und gar kein Unglück bedeutet. Vielmehr ist die Empfindung bei der Lektüre von Lutz Seilers Prosa ähnlich der beim lauten Lesen seiner Gedichte: Ein langsamer, sich steigernd-vorantastender Genuss. Es geht um das Durchwandern und Abmessen von Zeiträumen, mal trostlos wie die sozialistisch-durchorganisierte Anstalt aus „Der Kapuzenkuß“, mal spielerisch-bewegend wie in den drei Teilen der „Schachtrilogie“, mal abenteuerlich-grotesk wie die Fahrt mit der Turksib-Eisenbahn in der gleichnamigen Erzählung, für die Seiler 2007 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt. Virtuos und vielschichtig werden Geschichten von Anfang und Ende, vom Werden und Vergehen ausgebreitet, deren Figuren feststecken in einem Kokon aus alltäglichen Unsicherheiten und der Unentrinnbarkeit vor dem Schicksal. Lutz Seiler ist dabei nicht nur Erzähler, sondern auch Beschwörer und Lauscher des Schnarrens und Tickens kleiner Messinstrumente, die das Leben scheinbar im Takt halten. Das kann ein Geigerzähler sein oder eine Uhr, die mehr Geheimes enthält, als man ahnt. TOBIAS SEDLMAIER
    
    
    
Lutz Seiler: Die Zeitwaage. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 284 Seiten, 10,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009

Schirmmützen stehen dem Arbeiter nicht

Als wär's die letzte Stimme in der Welt: Die Erzählungen von Lutz Seiler sind Fragmente eines autobiographischen Romans.

Von Hans-Jürgen Schings

Lutz Seiler, bekannt geworden als Lyriker mit schmalem Werk und vielen Preisen, erinnert an jenen Riesen, dem nur strikte Bodenhaftung Stärke verleiht. Sobald er das Terrain seiner Herkunft nicht mehr unter den Füßen spürt, kommt das Unheil, stellen sich Katastrophen ein. Allerdings gibt es dann auch einen Gewinn: die Autorschaft. Der erste größere Band mit Erzählungen, den der gebürtige Geraer, Jahrgang 1963, jetzt vorlegt, zeigt dies in einem Dutzend Variationen, die allesamt um das Thema der verlorenen Ursprünge kreisen, verhalten, ja spröde und doch eindrucksvoll sie alle, darunter ein oder zwei von herausragender Qualität.

Reisen jedenfalls tut nicht gut. Kalifornien, Los Angeles und der Pazifik zum Beispiel: Mehr kann man nicht fremdeln als der Erzähler, der schon Basecaps und Sonnenbrillen nicht mag. Die Empfindlichkeit dieses Reisenden ist rasch überfordert. Überäugig, von Details bedrängt und verkrampften Herzens glaubt er zu wissen: "Seit es für sie möglich geworden war, zu reisen, hatten sie sich mit jedem Ziel weiter hinausgewagt und, wie ihm schien, weiter voneinander entfernt; jetzt sehnte sich Färber nach irgendeiner Grenze." Schwerlich kann man die Stichworte "reisen" und "Grenze" ganz unpolitisch nehmen und das Sonderbare dieser Enttäuschung übersehen.

Der wilde Osten steht dem Westen in nichts nach. "Turksib", die Erzählung, die man in Klagenfurt zu Recht preisgekrönt hat, lässt die Angst vor der Fremde in eine fulminante Groteske umschlagen. In der Turkistan-Sibirischen Eisenbahn, einer "Karawane vorsintflutlicher Blechkarossen", die durch die Steppe von Kasachstan donnert, stößt der Erzähler, nachdem er das Chaos von Dutzenden Waggons durchquert hat, auf einen riesigen Heizer. Der Mann setzt nicht nur zur militärischen Ehrenbezeugung gegenüber dem "Nemetzki" an, obwohl der "lediglich den Rang eines Gefreiten der Reserve innehatte, Reserve einer längst untergegangenen Volksarmee", sondern beginnt auch noch mit dem Rezitieren von Heines "Loreley".

Die Szene dehnt sich, da der Heizer in seiner grausamen Verhunzung auch noch immer wieder steckenbleibt. Just als es zum gewaltsamen Bruderkuss kommt, überfährt die Turksib eine Bodenwelle und schleudert die beiden Waffenbrüder zu Boden: Da der Heizer nicht imstande gewesen war, "seinen Kuss mit der gebotenen Flüchtigkeit zu lösen", verbeißt man sich ineinander, und "in der beschämenden Hilflosigkeit, die der Heizer und ich jetzt teilten, war deutlich zu spüren gewesen, wie ein Schwall seines warmen, kohligen Atems in mich stieß". Lutz Seiler malt die Sache aus, ohne den symbolischen Zeigefinger zu benutzen.

Wo ist er zu Hause? Die Erzählungen, fast alle autobiographisch getönt, geben eine emphatische Antwort: in der thüringischen Landschaft seiner Kindheit. Hier ist die Welt eng, aber überschaubar. Die Idylle bügelt alle Schäden aus und macht jede Misere erträglich, zumal Politisches durchweg ausgeblendet wird. Wie Anläufe zu einem (autobiographischen) Roman kommen die Geschichten aus dieser Vorzeit daher. Die Schule ("Der Kapuzenkuß"), die Sonntage in der Garage ("Der Stotterer"), das Schachspiel mit dem Vater in der Laube ("Das letzte Mal"), das Angeln am Bach oder der Sport ("Der gute Sohn") - mit Sympathie und schnörkelloser, gelassener Genauigkeit widmet sich Seilers Prosa dem einfachen Leben und dessen wunsch- und klaglos ertragener Weltabgewandtheit, ja Weltlosigkeit. In Dämmerung und Stille spricht der Junge mit sich selbst, und "schon hatte ich das Gefühl, niemand mehr sonst, niemand außer mir und meiner Stimme seien noch auf der Welt".

Doch auch mit den Heimatdörfern ist es nicht ganz just, gehören sie doch zu den "müden Dörfern", die der Uranbergbau erst mit Abraumhalden einkreist und schließlich überrollt, so dass die Bewohner sie räumen müssen. "Alles hohl da unten", wie von selbst kommen ihnen Woyzecks Worte über die Lippen, man geht auf "dünnem Boden". Unglück liegt in der Luft, bricht plötzlich aus und liefert die "unerhörte Begebenheit", die die Erzählungen novellistisch in Form bringt. So liegt eines Tages ein Toter im Schulhaus, und es könnte sogar Mord sein.

Trotz des etwas preziösen Titels bildet die letzte Erzählung, "Die Zeitwaage", Höhepunkt und Herzstück des Bandes. Hier hat Seiler alle Ingredienzien seiner Welt zusammengezogen und zu einer atemberaubenden Klimax geführt. Da ist die Übersiedlung nach Berlin, in die neue Fremde. Da ist der enge, abgeschottete Beobachterstandort in einer Souterrain-Kneipe an der Oranienburger Straße, zugleich sein Arbeitsplatz. Hier beginnt, unsicher, stockend, die Autorschaft. Aber auch die Schuldgefühle melden sich wieder, diesmal die eines Deserteurs, der von den Werktätigen zu den freischwebenden Intellektuellen übergelaufen ist.

Denn da verkörpert sich noch einmal die Arbeitswelt, die er verlassen hat, in der Gestalt eines Arbeiters, der regelmäßig in der "Assel" frühstückt - eine Figur aus dem Bilderbuch: "Vor allem empfand ich das Unangefochtene, die Fraglosigkeit seines Daseins, ich schrieb: seine Würde, sein Stolz, seine Haltung - darauf kam es an. Seine Gesten erschienen mir rein und vollkommen." Sogar vom "Zustand der Gnade" ist die Rede, von einem "ganzen Kontinent des Guten und Richtigen", der wiederauftauche - der angehende Schriftsteller mit der "verlorengegangenen Ganzheit" greift zum Höchsten und darüber hinaus.

Und dann das Unglück, der entsetzliche Arbeitsunfall, dem just diese Lichtgestalt zum Opfer fällt, vor den Augen seines Bewunderers und unter Umständen, die der Leser rasch wiedererkennt. Der Arbeiter berührt mit seiner Hebebühne die Stromleitung der Straßenbahn und verbrennt. "Als die Bühne nicht mehr schwankte und damit der Kontakt - vielleicht für Millimeter - abgerissen, sah man zuerst den oder etwas wie den Kopf des Mannes langsam, leiser und wie müde schleichen über die Kante seiner, den Rand der Bühne steigen und dann eine Hand: Ich sah, dass er es war, der Mann, der Arbeiter mit seiner Größe, der versuchte jetzt, sich aufzurichten in der Wanne . . ."

Das Blatt mit den ersten Bleistiftnotizen zu diesem Vorgang, das der Erzähler hier einfügt, hat Seiler auch schon an anderer Stelle veröffentlicht, unter dem Titel "Sonntags dachte ich an Gott" (2004). Dort allerdings geht es noch um ein zufälliges Unglück, dem man zufällig beiwohnt. Die Figur des Arbeiters fehlt, natürlich auch die Wendung "der Arbeiter mit seiner Größe" in den Erstnotizen. Erst dieser Arbeiter macht aus dem Unfall eine Geschichte, indem er das erzählende Ich mit seiner Person verbindet, so dass es im Kern seiner Existenz getroffen wird. "Er hatte alles für mich getan", heißt es jetzt, und in eigener Sache: "Ein Träumer, ein verdammter Träumer bist du, ein elender Träumer."

Der Weg von der Realität zum Kunstwerk ist teuer erkauft, wie der vom Werktätigen zum Schriftsteller. Am Ende der Geschichte hat der Erzähler den Gedanken zu beten. "Nicht nur für den Arbeiter, um ehrlich zu sein, auch für den Fortgang meiner Geschichte." Lutz Seilers unroutinierte, karge und dichte Prosa versteht es, den Leser auf allen Etappen seiner Geschichte zu fesseln.

Lutz Seiler: "Die Zeitwaage". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 287 S., geb., 19,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensent Jens Jessen feiert diesen Erzählband des 1963 in Gera geborenen Lutz Seiler für seine "extraschwere Qualität" – quasi "Vorkriegsware". Zunächst führt er aber allerlei seelsorgerische Gründe an, von diesem Buch abzuraten. Handlungsarmut samt Abgründe der Schwermut, die Lutz Seilers Texte Jessen zufolge durchziehen, würden sich nämlich mühelos auf den Leser übertragen. Auch der fühle sich nach vollzogener Lektüre spontan keiner Herausforderung mehr gewachsen. Dabei weckt die Rezension spontane Leselust, klingen Jessens Schilderungen der Erzählungen höchst faszinierend, in denen es – liest man – um Menschen geht, die aus "Gehemmtheit, Verklemmtheit, aus Verdruckstheit" in nicht ganz alltäglichen, aber auch nicht sonderlich dramatischen Situationen nie das tun, was sie anständigerweise tun sollten: die Polizei rufen, der Mitschülerin kein Bein stellen, den verletzten Vogel füttern. Seiler beschreibt die "seelischen Kollateralschäden des Sozialismus", und er tut es "souverän", ruft der begeisterte Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Wie Seiler hier mit Sprache diese Erinnerungen malt, macht diesen schmalen Erzählband fast zu einem kleinen Wunder.« Der Tagesspiegel 20150601