1918 ist der Krieg zu Ende, aber die Welt findet keinen Frieden. Alle Gewissheiten sind ins Wanken geraten, und so geht der Kampf weiter: zwischen Linken und Rechten, Konservativen und Modernisten, Arbeitern und Unternehmern. Nach seinem Bestseller "Der taumelnde Kontinent" über Europas Jahre vor dem 1. Weltkrieg führt Philipp Blom die Geschichte nun weiter bis ins Jahr 1938 und erweitert den Horizont bis in die USA. Der Jazz verbreitet ein neues Freiheitsgefühl, gleichzeitig gerät die Demokratie unter Druck. Zeitung und Radio erleben ihre besten Jahre, trotzdem brennen in Berlin die Bücher. "Die zerrissenen Jahre" macht auf einmalige Weise jene Zeit anschaulich, die in den 2. Weltkrieg führte.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Den Sinn für Zusammenhänge hat sich Wolfgang Schneider mit dem Buch des Historikers Philipp Blom schärfen lassen. Auch wenn der Autor einem historischen Panorama der Jahre 1918 bis 1938 eigentlich nichts Neues hinzuzufügen hat, wie Schneider betont, lernt der Rezensent anhand von Bloms Hauptthese doch manches über eine mögliche Kontinuität zwischen Vor- und Nachkriegszeit und die Zerrissenheit zwischen den Weltkriegen. Dass der Autor seine Darstellung nicht nur auf Deutschland fokussiert, sondern auch die Siegermächte miteinbezieht, erscheint Schneider überzeugend. Aus der Multiperspektive entsteht so für ihn tatsächlich das Bild einer insgesamt taumelden Welt, deren Irrlichtern der Rezensent in den einzelnen Kapiteln des Bandes dargestellt findet, mal mit kulturhistorischer, mal mit politischem Schwerpunkt, von der Hungesnot in der Ukraine bis zur Prohibition in den USA. Spannung, wie bei Bloms Ausführungen über Cyborgfantasien, tröstet Schneider über so manchen Sachfehler im Text hinweg.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2015Schlachtfelder in den Köpfen
Philipp Blom erzählt meisterhaft, was er für die Essenz der Zwischenkriegszeit hält
Historische Bücher, die in Publikumsverlagen erscheinen, müssen nicht nur die Erwartungen von Historikern bedienen, sondern auch Leser zufriedenstellen, denen die Fachwissenschaft einerlei ist. Gewöhnlich schreiben Historiker im Modus der Chronologie und der Kausalität. Ereignisse werden in der Zeit durch eine Verursachungsgeschichte miteinander verbunden. Obwohl jeder weiß, dass es auch immer anders kommen kann, ist der Leser dankbar, wenn ihm das Geschehen in seiner Zwangsläufigkeit erzählt wird. Denn der Geschichtsschreiber soll die Leser nicht ohne Orientierung zurücklassen. Auch Philipp Blom schreibt im Modus der Chronologie. Aber er verzichtet auf Kausalität und Zwangsläufigkeit. Stattdessen erzählt er Episoden, die typisch sein sollen für die Jahre, denen er sie zuordnet.
In 21 Kapiteln, die jeweils einem Jahr gewidmet sind, erzählt er, was er für die Essenz der Zwischenkriegszeit hält. Im kollektiven Gedächtnis der Europäer steht das Jahr 1918 für das Ende des Ersten Weltkriegs und die Unterzeichnung des Versailler Vertrags, die Jahre 1923 und 1929 für die Hyperinflation und den Crash an der Wall Street, das Jahr 1933 für die "Machtergreifung" Hitlers. Blom aber erzählt das Geschehen Jahr für Jahr aus unterschiedlichen Perspektiven und abseits der bekannten Ereignisse. In der Darstellung des Typischen sollen, so schreibt Blom, die "Umrisse eines Gesamtbildes der gefühlten Zeit" sichtbar werden.
Über allen Kapiteln schweben die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Sie veränderten das Zeitgefühl der Menschen, radikalisierten, was vor dem Krieg schon als Möglichkeit gedacht worden war. Denn das nervöse Zeitalter hatte bereits im 19. Jahrhundert begonnen: die Beschleunigung des Lebens, der Siegeszug der Maschinen in den Fabriken und Kasernen, die Ausdehnung der Verkehrswege und der Anfang des Massenkonsums, die Anonymität und der Lärm der Großstädte, die den Menschen das Gefühl gaben, die Technik nicht nur zu meistern, sondern ihr auch ausgeliefert zu sein. Der Krieg war kein Kampf zwischen Heroen, sondern eine Auseinandersetzung zwischen Maschinen, denen Soldaten zum Opfer fielen, ohne den Gegner überhaupt gesehen zu haben.
Fast alle Soldaten haben später von der Hölle gesprochen, in der Maschinen und Technik über Leben und Tod entschieden hätten. Schon nach wenigen Tagen wurden sie als Krieger und Individuen ausgelöscht. Die Sinnlosigkeit des großen Schlachtens stellte alles in Frage, woran vernunftbegabte Zeitgenossen einmal geglaubt hatten. Und dennoch war der Krieg nicht nur Abschreckung, von vielen wurde er auch als Möglichkeit wahrgenommen, große Aufgaben zu bewältigen und endgültige Lösungen zu finden. Als der Krieg vorbei war, meint Blom, habe er sich vom Schlachtfeld in die Köpfe verlagert.
Die Moderne hatte für Millionen Menschen die Möglichkeiten erweitert, am politischen Leben teilzuhaben, weil Waren und Informationen schnell von einem Ort zum anderen transportiert wurden, weil jeder in den Besitz von Informationen geraten und deshalb Teil eines großen Ganzen werden konnte. Parteien, Gewerkschaften, die Frauenbewegung - sie waren Ausdruck einer sozialen Mobilität, die nach Mitsprache und Gleichberechtigung verlangte. Aber alle Auseinandersetzungen um das richtige Leben wurden durch die Erfahrungen des zurückliegenden Krieges strukturiert. Deshalb beginnt Blom seine Erzählung mit einem Bericht über traumatisierte Soldaten, die 1918 in die Gesellschaft des Friedens integriert werden mussten. In allen Gesellschaften Europas gab es "Zitterer", die körperlich versehrt, psychisch aber zerstört waren. Millionen Soldaten mussten in den Arbeitsprozess integriert werden, der keine Helden mehr brauchte, sondern nach Funktionsträgern verlangte. Als Helden waren sie in den Krieg gezogen, als gebrochene Menschen waren sie in die Heimat zurückgekommen, mit der Erfahrung, dass der Held weder im Krieg noch im zivilen Leben einen Platz finden konnte.
Auf diese Erfahrung der Entwurzelung und Bedrohung gaben die Zeitgenossen unterschiedliche Antworten. Blom beschreibt die Diktatur des Dichters und Abenteurers Gabriele D'Annunzio in der Stadt Fiume im Jahr 1919, die blutige Niederschlagung des Matrosenaufstandes in Kronstadt im Jahr 1921 und die kommunistischen Arbeiterrevolten in Deutschland, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen linken Kampfbünden und der Polizei im Wien des Jahres 1927 und die Aktionen des amerikanischen Ku-Klux-Klan. Die Rassisten konnten nicht verwinden, dass Zehntausende schwarze Soldaten in Europa gewesen und den Ideen der Gleichberechtigung begegnet waren. Im Schützengraben hatte es keine Klassen- und keine Rassenunterschiede gegeben. Im Angesicht des Todes waren alle gleich. Und nun warf man den schwarzen Soldaten vor, Träger bolschewistischer Ideen und eine Gefahr für die amerikanische Demokratie zu sein.
In Deutschland erschien Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes", dessen kulturpessimistische Sicht auf die Welt weite Verbreitung fand. In der Kunst setzten sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges neue Formen des Ausdrucks durch, die das Sehen und Lesen revolutionierten und die Welt auf den Kopf stellten. Der Kubismus und der Dadaismus wurden in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges geboren, die Dadaisten fassten die Sinnlosigkeit des Daseins in sinnlose Worte. Und auch das Kino beschritt nun neue Wege. Fritz Langs Kinofilm "Metropolis" war ein Versuch, den Menschen als Gefangenen von Technik und Material zu verstehen, die Linien der Bauhausarchitekten waren Repräsentationen einer Moderne, die mit sich versöhnt war.
In der Wissenschaft kamen Ideen ins Spiel, die für gewiss gehaltene Wahrheiten in Frage stellten: Charles Darwin und Friedrich Nietzsche wurden zu Idolen, die Eugenik, Werner Heisenbergs neue Physik revolutionierten die Sicht auf die Welt. Heisenberg behauptete, die moderne Atomphysik handele nicht vom Wesen der Atome, sondern von den Vorgängen, die der Physiker bei der Beobachtung der Atome wahrnehme. Nun war auch in der Naturwissenschaft die Zeit der ewigen Wahrheiten vorbei. Man müsse erkennen, schrieb Heisenberg, dass "es keine festen, für alle Zeiten gesicherten Fundamente unseres Daseins gibt". Überall, wo scheinbar gesicherte Erkenntnisse in Frage gestellt wurden, formierte sich Widerstand: die "deutsche Physik", die den Relativismus als Werk jüdischer Zersetzung diskreditierte, und bibeltreue Christen in den Vereinigten Staaten, die gegen Darwins Evolutionstheorie Einspruch erhoben.
Im Jahr 1925 kam es in Tennessee zu einem aufsehenerregenden Prozess, der die amerikanische Gesellschaft zutiefst zu erregen schien. Ein Lehrer wurde vor Gericht gestellt, weil er in der Schule über die Evolutionstheorie gesprochen hatte, deren Verbreitung im Staat Tennessee verboten war. William Bryan, ein religiöser Fundamentalist und Wilsons ehemaliger Außenminister, und Clarence Darrow, ein Staranwalt aus Chicago, lieferten sich Wortgefechte im Gerichtssaal, die live im Radio übertragen wurden. Die ganze Nation sollte hören, wie Religion und Aufklärung miteinander in Streit gerieten.
Aber die zwanziger und frühen dreißiger Jahre waren auch eine Zeit, in der Menschen von den Möglichkeiten der Moderne unbegrenzten Gebrauch machen wollten: Eugeniker, die Geburten kontrollieren, Gesellschaften von allen Übeln und Krankheiten heilen und kranke Menschen aus ihnen entfernen wollten, Kommunisten, die Josef Stalins Sowjetunion in einen modernen Industriestaat verwandeln wollten, dafür aber in Kauf nahmen, dass ihren Experimenten Millionen zum Opfer fielen. "Hinrichtung durch Hunger", so nennt Blom die Exzesse, die sich 1932 in der Ukraine zutrugen. Der Holodomor war eine Tragödie, von der man auch im Westen Europas wusste, aber niemand protestierte gegen diesen Wahnsinn. Wahrscheinlich hatten sich inzwischen alle Regierungen daran gewöhnt, dass Widerstand und Renitenz mit Gewalt aus dem Weg geräumt wurden. Warum hätte, was man in den Vereinigten Staaten und Italien für normal hielt, in der Sowjetunion anders sein sollen? In den dreißiger Jahren lebten die Europäer schon nicht mehr in der Nachkriegs-, sondern in der Vorkriegszeit.
Alle diese Episoden erzählt Blom in einer schönen, unterhaltsamen Sprache. Vor dem Leser entfaltet sich ein Panorama des Lebens in allen seinen Möglichkeiten. Blom berichtet seinen Lesern nichts Neues - nichts, was nicht schon bekannt gewesen wäre. Man kann aber Bekanntes mitteilen und es so anordnen, dass der Leser die einzelnen Ereignisse in einem überraschenden Zusammenhang sieht. So ist es in Bloms "Zerrissenen Jahren". Sie kommen fast ohne Fußnoten aus, manche Informationen, die der Autor mitteilt, werden nicht einmal nachgewiesen. Aber man hat nicht das Gefühl, dass etwas fehlt. Ein Buch, das das vergangene Geschehen lebendig und verständlich werden lässt und das unterhält. Mehr kann man von einer historischen Darstellung nicht erwarten.
JÖRG BABEROWSKI
Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918-1938. Carl Hanser Verlag, München 2014. 572 S., 27,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Philipp Blom erzählt meisterhaft, was er für die Essenz der Zwischenkriegszeit hält
Historische Bücher, die in Publikumsverlagen erscheinen, müssen nicht nur die Erwartungen von Historikern bedienen, sondern auch Leser zufriedenstellen, denen die Fachwissenschaft einerlei ist. Gewöhnlich schreiben Historiker im Modus der Chronologie und der Kausalität. Ereignisse werden in der Zeit durch eine Verursachungsgeschichte miteinander verbunden. Obwohl jeder weiß, dass es auch immer anders kommen kann, ist der Leser dankbar, wenn ihm das Geschehen in seiner Zwangsläufigkeit erzählt wird. Denn der Geschichtsschreiber soll die Leser nicht ohne Orientierung zurücklassen. Auch Philipp Blom schreibt im Modus der Chronologie. Aber er verzichtet auf Kausalität und Zwangsläufigkeit. Stattdessen erzählt er Episoden, die typisch sein sollen für die Jahre, denen er sie zuordnet.
In 21 Kapiteln, die jeweils einem Jahr gewidmet sind, erzählt er, was er für die Essenz der Zwischenkriegszeit hält. Im kollektiven Gedächtnis der Europäer steht das Jahr 1918 für das Ende des Ersten Weltkriegs und die Unterzeichnung des Versailler Vertrags, die Jahre 1923 und 1929 für die Hyperinflation und den Crash an der Wall Street, das Jahr 1933 für die "Machtergreifung" Hitlers. Blom aber erzählt das Geschehen Jahr für Jahr aus unterschiedlichen Perspektiven und abseits der bekannten Ereignisse. In der Darstellung des Typischen sollen, so schreibt Blom, die "Umrisse eines Gesamtbildes der gefühlten Zeit" sichtbar werden.
Über allen Kapiteln schweben die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Sie veränderten das Zeitgefühl der Menschen, radikalisierten, was vor dem Krieg schon als Möglichkeit gedacht worden war. Denn das nervöse Zeitalter hatte bereits im 19. Jahrhundert begonnen: die Beschleunigung des Lebens, der Siegeszug der Maschinen in den Fabriken und Kasernen, die Ausdehnung der Verkehrswege und der Anfang des Massenkonsums, die Anonymität und der Lärm der Großstädte, die den Menschen das Gefühl gaben, die Technik nicht nur zu meistern, sondern ihr auch ausgeliefert zu sein. Der Krieg war kein Kampf zwischen Heroen, sondern eine Auseinandersetzung zwischen Maschinen, denen Soldaten zum Opfer fielen, ohne den Gegner überhaupt gesehen zu haben.
Fast alle Soldaten haben später von der Hölle gesprochen, in der Maschinen und Technik über Leben und Tod entschieden hätten. Schon nach wenigen Tagen wurden sie als Krieger und Individuen ausgelöscht. Die Sinnlosigkeit des großen Schlachtens stellte alles in Frage, woran vernunftbegabte Zeitgenossen einmal geglaubt hatten. Und dennoch war der Krieg nicht nur Abschreckung, von vielen wurde er auch als Möglichkeit wahrgenommen, große Aufgaben zu bewältigen und endgültige Lösungen zu finden. Als der Krieg vorbei war, meint Blom, habe er sich vom Schlachtfeld in die Köpfe verlagert.
Die Moderne hatte für Millionen Menschen die Möglichkeiten erweitert, am politischen Leben teilzuhaben, weil Waren und Informationen schnell von einem Ort zum anderen transportiert wurden, weil jeder in den Besitz von Informationen geraten und deshalb Teil eines großen Ganzen werden konnte. Parteien, Gewerkschaften, die Frauenbewegung - sie waren Ausdruck einer sozialen Mobilität, die nach Mitsprache und Gleichberechtigung verlangte. Aber alle Auseinandersetzungen um das richtige Leben wurden durch die Erfahrungen des zurückliegenden Krieges strukturiert. Deshalb beginnt Blom seine Erzählung mit einem Bericht über traumatisierte Soldaten, die 1918 in die Gesellschaft des Friedens integriert werden mussten. In allen Gesellschaften Europas gab es "Zitterer", die körperlich versehrt, psychisch aber zerstört waren. Millionen Soldaten mussten in den Arbeitsprozess integriert werden, der keine Helden mehr brauchte, sondern nach Funktionsträgern verlangte. Als Helden waren sie in den Krieg gezogen, als gebrochene Menschen waren sie in die Heimat zurückgekommen, mit der Erfahrung, dass der Held weder im Krieg noch im zivilen Leben einen Platz finden konnte.
Auf diese Erfahrung der Entwurzelung und Bedrohung gaben die Zeitgenossen unterschiedliche Antworten. Blom beschreibt die Diktatur des Dichters und Abenteurers Gabriele D'Annunzio in der Stadt Fiume im Jahr 1919, die blutige Niederschlagung des Matrosenaufstandes in Kronstadt im Jahr 1921 und die kommunistischen Arbeiterrevolten in Deutschland, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen linken Kampfbünden und der Polizei im Wien des Jahres 1927 und die Aktionen des amerikanischen Ku-Klux-Klan. Die Rassisten konnten nicht verwinden, dass Zehntausende schwarze Soldaten in Europa gewesen und den Ideen der Gleichberechtigung begegnet waren. Im Schützengraben hatte es keine Klassen- und keine Rassenunterschiede gegeben. Im Angesicht des Todes waren alle gleich. Und nun warf man den schwarzen Soldaten vor, Träger bolschewistischer Ideen und eine Gefahr für die amerikanische Demokratie zu sein.
In Deutschland erschien Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes", dessen kulturpessimistische Sicht auf die Welt weite Verbreitung fand. In der Kunst setzten sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges neue Formen des Ausdrucks durch, die das Sehen und Lesen revolutionierten und die Welt auf den Kopf stellten. Der Kubismus und der Dadaismus wurden in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges geboren, die Dadaisten fassten die Sinnlosigkeit des Daseins in sinnlose Worte. Und auch das Kino beschritt nun neue Wege. Fritz Langs Kinofilm "Metropolis" war ein Versuch, den Menschen als Gefangenen von Technik und Material zu verstehen, die Linien der Bauhausarchitekten waren Repräsentationen einer Moderne, die mit sich versöhnt war.
In der Wissenschaft kamen Ideen ins Spiel, die für gewiss gehaltene Wahrheiten in Frage stellten: Charles Darwin und Friedrich Nietzsche wurden zu Idolen, die Eugenik, Werner Heisenbergs neue Physik revolutionierten die Sicht auf die Welt. Heisenberg behauptete, die moderne Atomphysik handele nicht vom Wesen der Atome, sondern von den Vorgängen, die der Physiker bei der Beobachtung der Atome wahrnehme. Nun war auch in der Naturwissenschaft die Zeit der ewigen Wahrheiten vorbei. Man müsse erkennen, schrieb Heisenberg, dass "es keine festen, für alle Zeiten gesicherten Fundamente unseres Daseins gibt". Überall, wo scheinbar gesicherte Erkenntnisse in Frage gestellt wurden, formierte sich Widerstand: die "deutsche Physik", die den Relativismus als Werk jüdischer Zersetzung diskreditierte, und bibeltreue Christen in den Vereinigten Staaten, die gegen Darwins Evolutionstheorie Einspruch erhoben.
Im Jahr 1925 kam es in Tennessee zu einem aufsehenerregenden Prozess, der die amerikanische Gesellschaft zutiefst zu erregen schien. Ein Lehrer wurde vor Gericht gestellt, weil er in der Schule über die Evolutionstheorie gesprochen hatte, deren Verbreitung im Staat Tennessee verboten war. William Bryan, ein religiöser Fundamentalist und Wilsons ehemaliger Außenminister, und Clarence Darrow, ein Staranwalt aus Chicago, lieferten sich Wortgefechte im Gerichtssaal, die live im Radio übertragen wurden. Die ganze Nation sollte hören, wie Religion und Aufklärung miteinander in Streit gerieten.
Aber die zwanziger und frühen dreißiger Jahre waren auch eine Zeit, in der Menschen von den Möglichkeiten der Moderne unbegrenzten Gebrauch machen wollten: Eugeniker, die Geburten kontrollieren, Gesellschaften von allen Übeln und Krankheiten heilen und kranke Menschen aus ihnen entfernen wollten, Kommunisten, die Josef Stalins Sowjetunion in einen modernen Industriestaat verwandeln wollten, dafür aber in Kauf nahmen, dass ihren Experimenten Millionen zum Opfer fielen. "Hinrichtung durch Hunger", so nennt Blom die Exzesse, die sich 1932 in der Ukraine zutrugen. Der Holodomor war eine Tragödie, von der man auch im Westen Europas wusste, aber niemand protestierte gegen diesen Wahnsinn. Wahrscheinlich hatten sich inzwischen alle Regierungen daran gewöhnt, dass Widerstand und Renitenz mit Gewalt aus dem Weg geräumt wurden. Warum hätte, was man in den Vereinigten Staaten und Italien für normal hielt, in der Sowjetunion anders sein sollen? In den dreißiger Jahren lebten die Europäer schon nicht mehr in der Nachkriegs-, sondern in der Vorkriegszeit.
Alle diese Episoden erzählt Blom in einer schönen, unterhaltsamen Sprache. Vor dem Leser entfaltet sich ein Panorama des Lebens in allen seinen Möglichkeiten. Blom berichtet seinen Lesern nichts Neues - nichts, was nicht schon bekannt gewesen wäre. Man kann aber Bekanntes mitteilen und es so anordnen, dass der Leser die einzelnen Ereignisse in einem überraschenden Zusammenhang sieht. So ist es in Bloms "Zerrissenen Jahren". Sie kommen fast ohne Fußnoten aus, manche Informationen, die der Autor mitteilt, werden nicht einmal nachgewiesen. Aber man hat nicht das Gefühl, dass etwas fehlt. Ein Buch, das das vergangene Geschehen lebendig und verständlich werden lässt und das unterhält. Mehr kann man von einer historischen Darstellung nicht erwarten.
JÖRG BABEROWSKI
Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918-1938. Carl Hanser Verlag, München 2014. 572 S., 27,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Glänzend geschrieben und zu Recht hochgelobt." Martin Beglinger, NZZ am Sonntag, 26.03.17
"Ein Buch, das das vergangene Geschehen lebendig und verständlich werden lässt und das unterhält. Mehr kann man von einer historischen Darstellung nicht erwarten." Jörg Baberowski, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.01.15
""Die zerrissenen Jahre" ist das facettenreiche Kaleidoskop der Zeit nach dem Krieg, vor dem Krieg: Geschichte als aufregendes Lesebuch". Louisa Reichstetter, Die Zeit, 01.10.14
"Blom ist ein toller Erzähler, er überblickt von der Wirtschafts- über die Technik- bis zur Kulturgeschichte mehr als die meisten seiner Kollegen, und er ist ein vorzüglicher Dramsturg seines Stoffes." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 02.10.14
"Ein fesselndes Lesebuch, das einen komplexen Blick auf eine oft geschichtspädagogisch reduzierte Epoche bietet und den Sinn für Zusammenhänge schärft." Wolfgang Schneider, Die Welt, 23.08.14
"Philipp Blom hat ein unterhaltsamesGeschichtsbuch geschrieben, gespickt mit geistreichen Anekdoten und ungewöhnlichen Details." Katrin Seibold, 3sat Kulturzeit, 28.08.14
"Sein Buch besticht durch einen überaus lebendigen und erfrischenden Erzählstil." Karl Leban, Wiener Zeitung, 03.11.14
"Was Blom zu sagen hat, sollte man lesen." Rolf Schneider, Schwäbische Zeitung, 3.11.14
"Blom formt virtuos das Bild einer ruhelosen Zeit." Michael Freund, Der Standard, 19.12.2014
"Ein Buch, das das vergangene Geschehen lebendig und verständlich werden lässt und das unterhält. Mehr kann man von einer historischen Darstellung nicht erwarten." Jörg Baberowski, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.01.15
""Die zerrissenen Jahre" ist das facettenreiche Kaleidoskop der Zeit nach dem Krieg, vor dem Krieg: Geschichte als aufregendes Lesebuch". Louisa Reichstetter, Die Zeit, 01.10.14
"Blom ist ein toller Erzähler, er überblickt von der Wirtschafts- über die Technik- bis zur Kulturgeschichte mehr als die meisten seiner Kollegen, und er ist ein vorzüglicher Dramsturg seines Stoffes." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 02.10.14
"Ein fesselndes Lesebuch, das einen komplexen Blick auf eine oft geschichtspädagogisch reduzierte Epoche bietet und den Sinn für Zusammenhänge schärft." Wolfgang Schneider, Die Welt, 23.08.14
"Philipp Blom hat ein unterhaltsamesGeschichtsbuch geschrieben, gespickt mit geistreichen Anekdoten und ungewöhnlichen Details." Katrin Seibold, 3sat Kulturzeit, 28.08.14
"Sein Buch besticht durch einen überaus lebendigen und erfrischenden Erzählstil." Karl Leban, Wiener Zeitung, 03.11.14
"Was Blom zu sagen hat, sollte man lesen." Rolf Schneider, Schwäbische Zeitung, 3.11.14
"Blom formt virtuos das Bild einer ruhelosen Zeit." Michael Freund, Der Standard, 19.12.2014