Der Germanist und Literaturforscher Walter Muschg kam von der Psychoanalyse her und gewann daraus tiefe und überraschend moderne Einblicke in das unbewusste, mythische Wesen literarischer Texte. Dadurch gelangen ihm neuartige, oft provokative, jedoch stets überzeugende Interpretationen. Mit seinem Essayband Die Zerstörung der deutschen Literatur machte er 1956 Furore, als er als Erster nach 1945 auf die »verbrannten Dichter« des Expressionismus hinwies.
Dieser Band versammelt die wichtigsten Essays aus diesem und anderen Werken Muschgs zu »seinen« Autoren Brecht, Döblin, Goethe, Hebel, Kafka, Barlach, Keller, Stifter u.v.a.m."
Dieser Band versammelt die wichtigsten Essays aus diesem und anderen Werken Muschgs zu »seinen« Autoren Brecht, Döblin, Goethe, Hebel, Kafka, Barlach, Keller, Stifter u.v.a.m."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.07.2009Gegen alle Widerstände
Längst klassisch: Neue Editionen der Essays des großen Philologen Walter Muschg
„Die sinnliche Liebe zum Wort trägt in entscheidender Weise an Freuds Werkgebäude mit.” Sinnliche Liebe zum Wort leitet auch den Verfasser der ersten Studie über „Freud als Schriftsteller” (1930): Er ist Philologe von Profession, beherrscht aber einen so anschaulichen und eleganten Stil, dass dieser Vorzug in seiner Disziplin Befremden auslöst. Walter Muschg (1898 – 1965), Professor für Germanistik an der Universität Basel, war eine Ausnahme in seinem Fach. Zur Literatur unterhielt er ein leidenschaftliches Verhältnis, das er jedoch seinem poetischen, moralischen und politischen Urteilsvermögen unterstellte. (Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte er als Abgeordneter im Schweizer Parlament gegen jegliche Anpassung an das Dritte Reich.) Er scheute sich nicht, seine Zu- und Abneigung gegenüber bestimmten Autoren der Vergangenheit mit solcher Entschiedenheit zu bekunden, als wären ihre Werke eben jetzt erschienen.
Muschg wollte wissen, welche Antriebe, und seien es auch magische Überzeugungen und dämonische Fähigkeiten, einen Dichter zu seinem Werk führen. Um zu einer Antwort zu gelangen, benötigte er keine spezifisch akademischen Theorien, Methoden, Terminologien; er verließ sich auf Belesenheit, Scharfsinn und eine ebenso vehemente wie präzise Sprache, die heute noch die Person des Autors als energisches Zentrum der Sätze spüren lässt und seinen Büchern eine größere Anhängerschaft unter Schriftstellern und Gebildeten verschaffte als unter Kollegen. Deshalb fanden nach Muschgs Tod Neuauflagen seiner beiden Hauptwerke, „Tragische Literaturgeschichte” (zuerst 1948) und „Die Zerstörung der deutschen Literatur” (zuerst 1956), neue Leser. Die neuesten Ausgaben, um einige Essays vermehrt und mit Nachworten von Urs Widmer und Julian Schütt versehen, befestigen mit Recht den Rang des Klassischen, der diesen Schriften gebührt.
Die beiden Bücher stehen zueinander in einem komplementären Verhältnis. Das erste geht auf den Ursprung der Dichtung zurück, aus dem sie selbst noch in der Moderne lebt; das zweite wagt und begründet die These, dass die deutsche Literatur in der Mitte des 20. Jahrhunderts an poetischer Substanz verloren habe. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es an der Basler Universität eine geistesgeschichtliche Tradition, die dem damals in Deutschland gängigen Idealismus des Schönen, Guten, Wahren widersprach und die Leistungen der Kultur aus einer tragischen Erfahrung herleitete: aus dem dauerhaften Unglück der menschlichen Existenz und dem temporären Vergessen dieses Unglücks in rauschhafter Ekstase, die sich wiederum im geformten Kunstwerk vergegenständlicht und ernüchtert.
Dieser von Johann Jakob Bachofen, Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche getragenen Gegenströmung zum versöhnungsbereiten Optimismus des 19. Jahrhunderts schließt sich Walter Muschgs „Tragische Literaturgeschichte” an. Sie beginnt mit dem Mythos von Orpheus, dessen Gesang Tiere und Pflanzen verzaubert, sogar das Totenreich öffnet; doch am Ende wird er wie ein Opfertier von Frauen zerrissen; nur sein Kopf treibt singend im Meer. In Orpheus’ Magie, Scheitern, Untergang und Fortleben sieht Muschg das Inbild des „Tragischen”, die dämonische Grundlage, auf der das poetische Vermögen des Dichters auch in nachmythischer Zeit beruhe. Muschg lässt es im Ungewissen, ob das „Dämonische” eine dichterische Fabel, eine besondere psychische Energie des Künstlers oder ein geheimnisvolles Zwischenreich am Rand der aufgeklärten Welt ist. Trotz solcher Unentschiedenheit überrascht und überzeugt das Resultat, wenn Muschg auf der Suche nach Magiern, Sehern, Sängern, Gauklern, Priestern die bedeutenden Autoren der europäischen Literatur durchmustert.
In den Werken Shakespeares, Grimmelshausens, Goethes, der Romantiker spürt er das Nachleben schamanistischer Magie auf. Den Keim von Goethes Werther-Roman erkennt er nicht in einem autobiographisch motivierten Gefühlsausdruck, sondern in dem Zauberakt, einen Doppelgänger herzustellen und sterben zu lassen: „Die sprengende Kraft von ‚Werthers Leiden‘ rührt daher, daß ihr Held – wie Egmont und Weislingen – wirklich beschworen war. Dieses Buch rettete Goethe das Leben. Bis in den krassen Realismus seines Schlusses hinein, wo der Selbstmörder als porträtgerechtes Ebenbild des Dichters auf dem Boden ausgestreckt liegt, ist hier alles durch die rituelle Absicht bedingt, den Doppelgänger als Stellvertreter zu opfern.”
Die andere nachhaltige Schrift Walter Muschgs, „Die Zerstörung der deutschen Literatur”, wirkte in den fünfziger Jahren verstörend. Damals war die Wiederherstellung des „christlichen Abendlandes” politisches und literarisches Programm, weshalb Schriftsteller wie Carossa, Bergengruen, Wiechert und Reinhold Schneider die Bücherregale und Klassenzimmer beherrschten. Für die Anhänger und Nachahmer dieser erbaulichen Literatur hat Muschg nur Spott übrig: „Daß Religion und Gesinnung jetzt zeitgemäß sind, haben ja auch die Literaten bereits gewittert. Es gibt dafür schon eine Konjunktur, eine Mode des Fromm- und Schrecklichtuns, und es fehlt nicht an gewiegten Alleskönnern, die sich mit dem schwarzen Nimbus der Gefährlichkeit in Respekt zu setzen wissen.”
Dagegen erinnert er an die große, damals verschollene Literatur der deutschen Moderne: „Franz Kafka, Georg Trakl, Oskar Loerke, Alfred Döblin, Ernst Barlach, Karl Kraus, Alfred Mombert, Theodor Däubler, Else Lasker-Schüler, Hans Henny Jahnn – alle diese Namen bedeuten dem heutigen Publikum so gut wie nichts.” Heute bedeuten sie dem Publikum etwas, das über der routinehaften Verehrung schon wieder vergessen hat, gegen welche Widerstände dieser Kanon der Moderne erstritten werden musste und welches Verdienst dabei Walter Muschg zukommt.HEINZ SCHLAFFER
WALTER MUSCHG: Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays. Herausgegeben von Julian Schütt und Winfried Stephan. Diogenes Verlag, Zürich 2009. 956 Seiten. 32,90 Euro.
WALTER MUSCHG: Tragische Literaturgeschichte. Mit einem Nachwort von Urs Widmer. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 751 Seiten, 29,90 Euro.
„Daß Religion jetzt zeitgemäß ist, haben auch die Literaten gewittert”
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Längst klassisch: Neue Editionen der Essays des großen Philologen Walter Muschg
„Die sinnliche Liebe zum Wort trägt in entscheidender Weise an Freuds Werkgebäude mit.” Sinnliche Liebe zum Wort leitet auch den Verfasser der ersten Studie über „Freud als Schriftsteller” (1930): Er ist Philologe von Profession, beherrscht aber einen so anschaulichen und eleganten Stil, dass dieser Vorzug in seiner Disziplin Befremden auslöst. Walter Muschg (1898 – 1965), Professor für Germanistik an der Universität Basel, war eine Ausnahme in seinem Fach. Zur Literatur unterhielt er ein leidenschaftliches Verhältnis, das er jedoch seinem poetischen, moralischen und politischen Urteilsvermögen unterstellte. (Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte er als Abgeordneter im Schweizer Parlament gegen jegliche Anpassung an das Dritte Reich.) Er scheute sich nicht, seine Zu- und Abneigung gegenüber bestimmten Autoren der Vergangenheit mit solcher Entschiedenheit zu bekunden, als wären ihre Werke eben jetzt erschienen.
Muschg wollte wissen, welche Antriebe, und seien es auch magische Überzeugungen und dämonische Fähigkeiten, einen Dichter zu seinem Werk führen. Um zu einer Antwort zu gelangen, benötigte er keine spezifisch akademischen Theorien, Methoden, Terminologien; er verließ sich auf Belesenheit, Scharfsinn und eine ebenso vehemente wie präzise Sprache, die heute noch die Person des Autors als energisches Zentrum der Sätze spüren lässt und seinen Büchern eine größere Anhängerschaft unter Schriftstellern und Gebildeten verschaffte als unter Kollegen. Deshalb fanden nach Muschgs Tod Neuauflagen seiner beiden Hauptwerke, „Tragische Literaturgeschichte” (zuerst 1948) und „Die Zerstörung der deutschen Literatur” (zuerst 1956), neue Leser. Die neuesten Ausgaben, um einige Essays vermehrt und mit Nachworten von Urs Widmer und Julian Schütt versehen, befestigen mit Recht den Rang des Klassischen, der diesen Schriften gebührt.
Die beiden Bücher stehen zueinander in einem komplementären Verhältnis. Das erste geht auf den Ursprung der Dichtung zurück, aus dem sie selbst noch in der Moderne lebt; das zweite wagt und begründet die These, dass die deutsche Literatur in der Mitte des 20. Jahrhunderts an poetischer Substanz verloren habe. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es an der Basler Universität eine geistesgeschichtliche Tradition, die dem damals in Deutschland gängigen Idealismus des Schönen, Guten, Wahren widersprach und die Leistungen der Kultur aus einer tragischen Erfahrung herleitete: aus dem dauerhaften Unglück der menschlichen Existenz und dem temporären Vergessen dieses Unglücks in rauschhafter Ekstase, die sich wiederum im geformten Kunstwerk vergegenständlicht und ernüchtert.
Dieser von Johann Jakob Bachofen, Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche getragenen Gegenströmung zum versöhnungsbereiten Optimismus des 19. Jahrhunderts schließt sich Walter Muschgs „Tragische Literaturgeschichte” an. Sie beginnt mit dem Mythos von Orpheus, dessen Gesang Tiere und Pflanzen verzaubert, sogar das Totenreich öffnet; doch am Ende wird er wie ein Opfertier von Frauen zerrissen; nur sein Kopf treibt singend im Meer. In Orpheus’ Magie, Scheitern, Untergang und Fortleben sieht Muschg das Inbild des „Tragischen”, die dämonische Grundlage, auf der das poetische Vermögen des Dichters auch in nachmythischer Zeit beruhe. Muschg lässt es im Ungewissen, ob das „Dämonische” eine dichterische Fabel, eine besondere psychische Energie des Künstlers oder ein geheimnisvolles Zwischenreich am Rand der aufgeklärten Welt ist. Trotz solcher Unentschiedenheit überrascht und überzeugt das Resultat, wenn Muschg auf der Suche nach Magiern, Sehern, Sängern, Gauklern, Priestern die bedeutenden Autoren der europäischen Literatur durchmustert.
In den Werken Shakespeares, Grimmelshausens, Goethes, der Romantiker spürt er das Nachleben schamanistischer Magie auf. Den Keim von Goethes Werther-Roman erkennt er nicht in einem autobiographisch motivierten Gefühlsausdruck, sondern in dem Zauberakt, einen Doppelgänger herzustellen und sterben zu lassen: „Die sprengende Kraft von ‚Werthers Leiden‘ rührt daher, daß ihr Held – wie Egmont und Weislingen – wirklich beschworen war. Dieses Buch rettete Goethe das Leben. Bis in den krassen Realismus seines Schlusses hinein, wo der Selbstmörder als porträtgerechtes Ebenbild des Dichters auf dem Boden ausgestreckt liegt, ist hier alles durch die rituelle Absicht bedingt, den Doppelgänger als Stellvertreter zu opfern.”
Die andere nachhaltige Schrift Walter Muschgs, „Die Zerstörung der deutschen Literatur”, wirkte in den fünfziger Jahren verstörend. Damals war die Wiederherstellung des „christlichen Abendlandes” politisches und literarisches Programm, weshalb Schriftsteller wie Carossa, Bergengruen, Wiechert und Reinhold Schneider die Bücherregale und Klassenzimmer beherrschten. Für die Anhänger und Nachahmer dieser erbaulichen Literatur hat Muschg nur Spott übrig: „Daß Religion und Gesinnung jetzt zeitgemäß sind, haben ja auch die Literaten bereits gewittert. Es gibt dafür schon eine Konjunktur, eine Mode des Fromm- und Schrecklichtuns, und es fehlt nicht an gewiegten Alleskönnern, die sich mit dem schwarzen Nimbus der Gefährlichkeit in Respekt zu setzen wissen.”
Dagegen erinnert er an die große, damals verschollene Literatur der deutschen Moderne: „Franz Kafka, Georg Trakl, Oskar Loerke, Alfred Döblin, Ernst Barlach, Karl Kraus, Alfred Mombert, Theodor Däubler, Else Lasker-Schüler, Hans Henny Jahnn – alle diese Namen bedeuten dem heutigen Publikum so gut wie nichts.” Heute bedeuten sie dem Publikum etwas, das über der routinehaften Verehrung schon wieder vergessen hat, gegen welche Widerstände dieser Kanon der Moderne erstritten werden musste und welches Verdienst dabei Walter Muschg zukommt.HEINZ SCHLAFFER
WALTER MUSCHG: Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays. Herausgegeben von Julian Schütt und Winfried Stephan. Diogenes Verlag, Zürich 2009. 956 Seiten. 32,90 Euro.
WALTER MUSCHG: Tragische Literaturgeschichte. Mit einem Nachwort von Urs Widmer. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 751 Seiten, 29,90 Euro.
„Daß Religion jetzt zeitgemäß ist, haben auch die Literaten gewittert”
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Erfreut zeigt sich Heinz Schlaffer über diese Neuausgabe von Walter Muschgs erstmals 1956 erschienenem Werk "Die Zerstörung der deutschen Literatur". Er würdigt den Schweizer Germanisten (1898 - 1965) als Ausnahmeerscheinung seines Fachs, als ebenso scharfsinnigen wie belesenen und sprachmächtigen Philologen. Dessen Essay "Die Zerstörung der deutschen Literatur" habe in den fünfziger Jahren verstörend gewirkt. Schlaffer rekapituliert Muschgs Kritik der damals angesagten Erbauungsliteratur und hebt dessen Einsatz für die verschollene Literatur der deutschen Moderne, für Dichter wie Franz Kafka, Georg Trakl, Alfred Döblin, Karl Kraus oder Hans Henny Jahnn hervor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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