The Booker Prize 2019
"Und so steige ich hinauf, in die Dunkelheit dort drinnen oder ins Licht." - Als am Ende vom "Report der Magd" die Tür des Lieferwagens und damit auch die Tür von Desfreds "Report" zuschlug, blieb ihr Schicksal für uns Leser ungewiss. Was erwartete sie: Freiheit? Gefängnis? Der Tod? Das Warten hat ein Ende! Mit "Die Zeuginnen" nimmt Margaret Atwood den Faden der Erzählung fünfzehn Jahre später wieder auf, in Form dreier explosiver Zeugenaussagen von drei Erzählerinnen aus dem totalitären Schreckensstaat Gilead. "Liebe Leserinnen und Leser, die Inspiration zu diesem Buch war all das, was Sie mich zum Staat Gilead und seine Beschaffenheit gefragt haben. Naja, fast jedenfalls.Die andere Inspirationsquelle ist die Welt, in der wir leben."
"Und so steige ich hinauf, in die Dunkelheit dort drinnen oder ins Licht." - Als am Ende vom "Report der Magd" die Tür des Lieferwagens und damit auch die Tür von Desfreds "Report" zuschlug, blieb ihr Schicksal für uns Leser ungewiss. Was erwartete sie: Freiheit? Gefängnis? Der Tod? Das Warten hat ein Ende! Mit "Die Zeuginnen" nimmt Margaret Atwood den Faden der Erzählung fünfzehn Jahre später wieder auf, in Form dreier explosiver Zeugenaussagen von drei Erzählerinnen aus dem totalitären Schreckensstaat Gilead. "Liebe Leserinnen und Leser, die Inspiration zu diesem Buch war all das, was Sie mich zum Staat Gilead und seine Beschaffenheit gefragt haben. Naja, fast jedenfalls.Die andere Inspirationsquelle ist die Welt, in der wir leben."
»'Die Zeuginnen' ist rasanter, mehr auf Aktion aus als der Vorgänger.« Florian Welle Süddeutsche Zeitung 20201007
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2020NEUE TASCHENBÜCHER
Unmenschliches
Regime
„Der Report der Magd“ endete 1985 mit einem Cliffhanger. Auf die Erzählerin, die Magd Desfred, wartet ein Lieferwagen: „Und so steige ich hinauf, in die Dunkelheit dort drinnen oder ins Licht.“ Im letzten Jahr hat Margaret Atwood nun mit „Die Zeuginnen“ ihre Dystopie über den totalitären, puritanischen und misogynen Staat Gilead, in dem die Frauen nach verschiedenen Katastrophen nur mehr als Gebärmaschinen dienen, beendet. Zuvor war der Stoff schon Vorlage für die Filmserie „The Handmaid’s Tale“ geworden. „Die Zeuginnen“ ist rasanter, mehr auf Aktion aus als der Vorgänger. Gleich drei Erzählerinnen berichten, am Ende fügen sich Innen- und Außenperspektive zum Gesamtbild. Da sind die Aussagen von Agnes, Zeugin 369 A, die „im Inneren von Gilead“ groß wurde. Teenager Daisy wiederum, Zeugin 369 B, wuchs bei Pflegeeltern in Toronto auf. Schließlich erzählt mit „Tante Lydia“ eine Täterin des Regimes. Schon 2017 hieß es in der Begründung für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Atwood: „Indem sie menschliche Widersprüchlichkeiten genau beobachtet, zeigt sie, wie leicht vermeintliche Normalität ins Unmenschliche kippen kann.“ FLORIAN WELLE
Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Aus dem Englischen von Monika Baark. Piper Verlag, München 2020.
576 Seiten, 12 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Unmenschliches
Regime
„Der Report der Magd“ endete 1985 mit einem Cliffhanger. Auf die Erzählerin, die Magd Desfred, wartet ein Lieferwagen: „Und so steige ich hinauf, in die Dunkelheit dort drinnen oder ins Licht.“ Im letzten Jahr hat Margaret Atwood nun mit „Die Zeuginnen“ ihre Dystopie über den totalitären, puritanischen und misogynen Staat Gilead, in dem die Frauen nach verschiedenen Katastrophen nur mehr als Gebärmaschinen dienen, beendet. Zuvor war der Stoff schon Vorlage für die Filmserie „The Handmaid’s Tale“ geworden. „Die Zeuginnen“ ist rasanter, mehr auf Aktion aus als der Vorgänger. Gleich drei Erzählerinnen berichten, am Ende fügen sich Innen- und Außenperspektive zum Gesamtbild. Da sind die Aussagen von Agnes, Zeugin 369 A, die „im Inneren von Gilead“ groß wurde. Teenager Daisy wiederum, Zeugin 369 B, wuchs bei Pflegeeltern in Toronto auf. Schließlich erzählt mit „Tante Lydia“ eine Täterin des Regimes. Schon 2017 hieß es in der Begründung für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Atwood: „Indem sie menschliche Widersprüchlichkeiten genau beobachtet, zeigt sie, wie leicht vermeintliche Normalität ins Unmenschliche kippen kann.“ FLORIAN WELLE
Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Aus dem Englischen von Monika Baark. Piper Verlag, München 2020.
576 Seiten, 12 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2019Drei Frauen mit Rachemotiven
Inspiriert von der Welt, in der wir leben: Mit ihrem heute weltweit erscheinenden Roman "Die Zeuginnen" setzt Margaret Atwood den Stoff aus "Der Report der Magd" fort.
LONDON, 9. September
Vor 34 Jahren beendete Margaret Atwood ihren inzwischen zum Klassiker gewordenen Roman "Der Report der Magd" mit den aufreizenden Worten: "Gibt es irgendwelche Fragen?" Der ungewisse Ausgang und der mehrdeutige Charakter dieser Zukunftsfabel über ein puritanisches Schreckensregime in den Vereinigten Staaten, das gebärfähige Frauen ihrer Identität beraubt und sie als Leihmütter für unfruchtbare Paare der Herrscherkaste verknechtet, warfen ungezählte Fragen auf, auf die Margaret Atwood lange keine Antworten geben wollte, zumindest nicht in literarischer Form. Nun hat sie sich doch erweichen lassen, eine Fortsetzung zu schreiben, die den Erzählstrang nach dem Cliffhanger von "Der Report der Magd" aufnimmt, fünfzehn Jahre nach dem früheren Geschehen.
"Die Zeuginnen", so teilte die kanadische Schriftstellerin bei der Ankündigung des neuen Romans mit, sei zum einen inspiriert von allem - oder beinahe allem, wie sie mit einer leicht hämischen Einschränkung hinzufügte -, was die Leser je von ihr erfahren wollten über den fiktiven Staat Gilead, zum anderen von der Welt, in der wir leben. Letzteres galt freilich auch für "Der Report der Magd". Atwood hat große Teile des fiktiven Lebensberichts von Desfred, einer jener als "zweibeinige Schöße" missbrauchten Nebenfrauen der Republik Gilead, im Westteil des damals noch geteilten Berlins verfasst, zu einer Zeit, in der niemandem klar war, dass die Sowjetunion kurz vor dem Zusammenbruch stand. Die Unterdrückungsherrschaft, die Margaret Atwood bei ihren Reisen jenseits der Mauer beobachtete, färbte ebenso ab auf ihre Schilderung der brutalen und brutalisierenden Diktatur in Gilead wie die Aids-Krise, Warnungen vor der Umweltverschmutzung, Berichte über sinkende Fruchtbarkeit, über Abtreibungsverbote und Kindesentführungen in Rumänien, über Steinigungen in islamischen Ländern und über fundamentalistische christliche Sekten in den Vereinigten Staaten. Margaret Atwood machte sich zur Regel, den Brüdern von Jakob, die das streng hierarchische Patriarchat von Gilead errichtet haben, nichts anzudichten, was in der Geschichte noch nicht vorgekommen war oder in der Gegenwart geschah.
Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass sie ihren Roman im Jahr 1984 zu schreiben begann, in dem George Orwell seine gleichnamige Zukunftsdystopie ansiedelte, die kurz nach Erscheinen Ende der vierziger Jahre auf die junge Margaret Atwood Eindruck gemacht hatte. In einem Aufsatz über die Dreiecksbeziehung zwischen Autor, Leser und der vermittelnden Funktion von Büchern hat sie eine Passage aus Orwells Roman herausgegriffen, die für "Der Report der Magd" und "Die Zeuginnen" von besonderer Bedeutung ist. Sie betrifft das "unbeschriebene Buch im Quartformat mit rotem Rücken und marmornem Einband", das Orwells Hauptfigur Winston Smith im Fenster eines Trödelladens erspäht und das in ihm das "übermächtige Verlangen" weckt, dieses verbotene Objekt zu besitzen. Kaum dass er das Datum der ersten Tagebucheintragung aufs leere Papier geschrieben hat, drängt sich ihm die Frage auf, für wen er dieses Tagebuch schreibe: "Für die Zukunft, für die Ungeborenen . . . Wie konnte man mit der Zukunft in Verbindung treten? Das war ihrer Natur nach unmöglich, entweder die Zukunft ähnelte der Gegenwart, dann würde man ihm nicht zuhören, oder sie war anders beschaffen, und dann wäre seine fatale Situation nicht von Interesse."
Ähnliche Gedanken, die natürlich auch die Kernmotivation aller schriftstellerischen Tätigkeit berühren, gehen Tante Lydia durch den Kopf, einer der drei Zeuginnen, die nun in Margaret Atwoods neuem Roman Bericht erstatten über den Niedergang des heuchlerischen Überwachungsstaates Gilead. Als gefürchtete Oberin der euphemistisch "Tanten" genannten Aufseherinnen, die den Mägden die Ideologie des Staates gewaltsam einpauken, kontrolliert Lydia nach eigenem Bekunden die "weibliche Seite" dieses Unterfangens "mit eiserner Faust im Lederhandschuh im Wollfäustling". In "Der Report der Magd" war Tante Lydias Einfluss auf die versklavten Konkubinen der Kommandanten allgegenwärtig, ohne dass sie selbst groß in Erscheinung getreten wäre. "Ich halte die Dinge in Ordnung: Wie ein Haremseunuch bin ich genau dazu aufgestellt." Im Folgeroman legt sie vor dem Richterstuhl der Nachwelt Rechenschaft ab über ihre Verstrickung mit diesem tausendjährigen Reich, an dem die tückische Manipulatorin, wie sich jetzt herausstellt, seit Jahren kalte Rache übt.
"Die Zeuginnen" stattet Tante Lydia mit einer Vorgeschichte aus. Am Beispiel der ehemaligen Richterin veranschaulicht Margaret Atwood wie bereits bei der Charakterisierung der Magd Desfred im ersten Buch nicht nur, wie gefährlich es ist, wenn man sich "wie auf einen Zauber" darauf verlässt, dass Freiheit, Demokratie und individuelle Rechte ewige Werte seien, sondern auch, welche Kompromisse Menschen zur Selbsterhaltung in einem Gewaltregime schließen. "Was nutzt es, sich aus moralischen Gründen vor eine Dampfwalze zu werfen und plattwalzen zu lassen wie eine Socke ohne den Fuß darin. Dann lieber mit der Menge verschmelzen, der gottesfürchtigen, geschmeidigen, Hass schürenden Menge. Lieber Steine werfen, als mit Steinen beworfen werden. Auf jeden Fall sind da die Überlebenschancen höher", schreibt Tante Lydia in ihrem heimlichen Bericht, den sie in der nur den Tanten zugänglichen Bibliothek in einem ausgehöhlten Exemplar von Kardinal Newmans "Apologia Pro Vita Sua" versteckt - in der Gewissheit, dass niemand einen Blick in diesen Wälzer hineinwagen werde, "wo der Katholizismus hierzulande als ketzerisch gilt, kaum besser als Voodoo-Zauber".
Tante Lydias mitreißendes Bekenntnis wird verwoben mit den Aussagen von zwei jungen Zeuginnen, die den Zusammenbruch aus entgegengesetzten Perspektiven erleben. Agnes ist als Kommandantentochter aus der privilegierten Schicht von Gilead für die Ehe mit einem Oberen des Regimes bestimmt, ein Schicksal, dem sie entgeht, indem sie sich als Anwärterin im Tanten-Orden aufnehmen lässt. Daisy dagegen wächst in Kanada auf als Inbegriff eines aufsässigen Teenagers. Die beiden Mädchen verbindet mehr als die Entdeckung, dass man sie jeweils über ihre Herkunft belogen hat. Damit macht Atwood, deren Vorliebe für die Grauzonen des Daseins bekannt ist, deutlich, dass Kinder nicht nur in einer Diktatur hinters Licht geführt werden, und lässt umgekehrt Agnes dafür plädieren, den Kindern einer gestürzten Diktatur ein wenig Raum zu gönnen, "um das Gute zu betrauern, das uns verlorengehen wird".
Agnes ist Desfreds Tochter, die der Mutter in "Der Report der Magd" bei deren Fluchtversuch entrissen wurde, bevor sie als Magd versklavt wurde. Im Gegensatz zur Mutter kann Agnes nicht auf Erinnerungen an die Zeit vor Gilead zurückgreifen. In ihrem Bericht erkennt sie, dass sie und ihre Altersgenossinnen "die Nutznießer der Opfer unserer Vorläuferinnen" sind: "Uns hat man keine solche Prüfungen auferlegt." Daisy wiederum erfährt, dass sie Desfreds ins feindliche Ausland geschmuggeltes, von Gilead zur staatlichen Ikone erhobenes "Kind Nicole" ist, über das sie in ihrer kanadischen Schule sogar ein Referat schreiben musste.
"Die Zeuginnen" ist ein ganz anderes, weniger literarisches Buch geworden als "Der Report der Magd". Obwohl es sich der gleichen Form der Zeugnisablage bedient, die Margaret Atwood als Mittel der direkten Kommunikation zwischen Autor und Leser fasziniert, liest es sich mehr wie ein Spionageroman nach der Art von John Le Carré, durchsetzt mit Dickens'scher Satire und Atwoods typischen humoristischen Anstrichen, die mitunter laut auflachen lassen. Der Unterschied liegt zum einen im Wesen der Handlung: Die Sprache der jungen Mädchen ist naturgemäß unbedarfter als die ihrer Mutter. Während "Der Report der Magd" von Andeutungen und den Zwischenräumen, die der Leser selbst zu füllen hat, lebt, ist "Die Zeuginnen" explizit. Hinzu kommen die politischen, gesellschaftlichen und medialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte, die sich auch auf die Rezeption von "Der Report der Magd" ausgewirkt haben. Mitte der achtziger Jahre war Margaret Atwood noch nicht die Koryphäe, als die sie heute gefeiert wird. "Der Report der Magd" war ihr sechster Roman, kam aber zunächst nur in Kanada heraus. Deutsche Leser mussten zwei Jahre auf die Übersetzung warten. Heute ist das Buch längst Unterrichtsstoff. Es ist verfilmt, vertont, choreographiert und als feministisches Lehrbuch gefeiert worden. Akademiker verfassen Abhandlungen darüber und halten Symposien nach der Art ab, die Margaret Atwood in den Epilogen zu beiden Romanen witzig persifliert.
Der Wahlsieg von Donald Trump, unter dessen Präsidentschaft seine Kritiker ein neues Gilead aufkeimen sehen, und die preisgekrönte Fensehserien-Adaption, die Atwoods Dystopie mit Bezügen zur Gegenwart ausgeschmückt und durch allerlei Veränderungen die vom Zeitgeist gehuldigte "Relevanz" verliehen hat, haben dem "Report der Magd" frischen Aufwind verschafft. Daraus schlägt der Literaturbetrieb Kapital - mit der Folge, dass die Veröffentlichung der Fortsetzung inszeniert worden ist als internationales Buchereignis des Jahres. In Margaret Atwood hat man dabei eine willige Mitspielerin gefunden. Als Mitproduzentin der Fernsehserie hat sie nun den "Zeuginnen" etliche Elemente daraus einverleibt, woraus zu schließen ist, dass ihre eigene Kooperation mit den Drehbuchautoren noch enger ist als ohnehin schon vermutet. Insofern schlägt das Buch auch ein neues Kapitel der Literaturgeschichte ein. Das ändert jedoch nichts daran, dass Margaret Atwood ein weiteres Mal das Schlaglicht auf die Grausamkeit von Menschen gegenüber Menschen gerichtet hat. Aber auch auf ihr unveränderliches Wesen, im Guten wie im Bösen.
GINA THOMAS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Inspiriert von der Welt, in der wir leben: Mit ihrem heute weltweit erscheinenden Roman "Die Zeuginnen" setzt Margaret Atwood den Stoff aus "Der Report der Magd" fort.
LONDON, 9. September
Vor 34 Jahren beendete Margaret Atwood ihren inzwischen zum Klassiker gewordenen Roman "Der Report der Magd" mit den aufreizenden Worten: "Gibt es irgendwelche Fragen?" Der ungewisse Ausgang und der mehrdeutige Charakter dieser Zukunftsfabel über ein puritanisches Schreckensregime in den Vereinigten Staaten, das gebärfähige Frauen ihrer Identität beraubt und sie als Leihmütter für unfruchtbare Paare der Herrscherkaste verknechtet, warfen ungezählte Fragen auf, auf die Margaret Atwood lange keine Antworten geben wollte, zumindest nicht in literarischer Form. Nun hat sie sich doch erweichen lassen, eine Fortsetzung zu schreiben, die den Erzählstrang nach dem Cliffhanger von "Der Report der Magd" aufnimmt, fünfzehn Jahre nach dem früheren Geschehen.
"Die Zeuginnen", so teilte die kanadische Schriftstellerin bei der Ankündigung des neuen Romans mit, sei zum einen inspiriert von allem - oder beinahe allem, wie sie mit einer leicht hämischen Einschränkung hinzufügte -, was die Leser je von ihr erfahren wollten über den fiktiven Staat Gilead, zum anderen von der Welt, in der wir leben. Letzteres galt freilich auch für "Der Report der Magd". Atwood hat große Teile des fiktiven Lebensberichts von Desfred, einer jener als "zweibeinige Schöße" missbrauchten Nebenfrauen der Republik Gilead, im Westteil des damals noch geteilten Berlins verfasst, zu einer Zeit, in der niemandem klar war, dass die Sowjetunion kurz vor dem Zusammenbruch stand. Die Unterdrückungsherrschaft, die Margaret Atwood bei ihren Reisen jenseits der Mauer beobachtete, färbte ebenso ab auf ihre Schilderung der brutalen und brutalisierenden Diktatur in Gilead wie die Aids-Krise, Warnungen vor der Umweltverschmutzung, Berichte über sinkende Fruchtbarkeit, über Abtreibungsverbote und Kindesentführungen in Rumänien, über Steinigungen in islamischen Ländern und über fundamentalistische christliche Sekten in den Vereinigten Staaten. Margaret Atwood machte sich zur Regel, den Brüdern von Jakob, die das streng hierarchische Patriarchat von Gilead errichtet haben, nichts anzudichten, was in der Geschichte noch nicht vorgekommen war oder in der Gegenwart geschah.
Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass sie ihren Roman im Jahr 1984 zu schreiben begann, in dem George Orwell seine gleichnamige Zukunftsdystopie ansiedelte, die kurz nach Erscheinen Ende der vierziger Jahre auf die junge Margaret Atwood Eindruck gemacht hatte. In einem Aufsatz über die Dreiecksbeziehung zwischen Autor, Leser und der vermittelnden Funktion von Büchern hat sie eine Passage aus Orwells Roman herausgegriffen, die für "Der Report der Magd" und "Die Zeuginnen" von besonderer Bedeutung ist. Sie betrifft das "unbeschriebene Buch im Quartformat mit rotem Rücken und marmornem Einband", das Orwells Hauptfigur Winston Smith im Fenster eines Trödelladens erspäht und das in ihm das "übermächtige Verlangen" weckt, dieses verbotene Objekt zu besitzen. Kaum dass er das Datum der ersten Tagebucheintragung aufs leere Papier geschrieben hat, drängt sich ihm die Frage auf, für wen er dieses Tagebuch schreibe: "Für die Zukunft, für die Ungeborenen . . . Wie konnte man mit der Zukunft in Verbindung treten? Das war ihrer Natur nach unmöglich, entweder die Zukunft ähnelte der Gegenwart, dann würde man ihm nicht zuhören, oder sie war anders beschaffen, und dann wäre seine fatale Situation nicht von Interesse."
Ähnliche Gedanken, die natürlich auch die Kernmotivation aller schriftstellerischen Tätigkeit berühren, gehen Tante Lydia durch den Kopf, einer der drei Zeuginnen, die nun in Margaret Atwoods neuem Roman Bericht erstatten über den Niedergang des heuchlerischen Überwachungsstaates Gilead. Als gefürchtete Oberin der euphemistisch "Tanten" genannten Aufseherinnen, die den Mägden die Ideologie des Staates gewaltsam einpauken, kontrolliert Lydia nach eigenem Bekunden die "weibliche Seite" dieses Unterfangens "mit eiserner Faust im Lederhandschuh im Wollfäustling". In "Der Report der Magd" war Tante Lydias Einfluss auf die versklavten Konkubinen der Kommandanten allgegenwärtig, ohne dass sie selbst groß in Erscheinung getreten wäre. "Ich halte die Dinge in Ordnung: Wie ein Haremseunuch bin ich genau dazu aufgestellt." Im Folgeroman legt sie vor dem Richterstuhl der Nachwelt Rechenschaft ab über ihre Verstrickung mit diesem tausendjährigen Reich, an dem die tückische Manipulatorin, wie sich jetzt herausstellt, seit Jahren kalte Rache übt.
"Die Zeuginnen" stattet Tante Lydia mit einer Vorgeschichte aus. Am Beispiel der ehemaligen Richterin veranschaulicht Margaret Atwood wie bereits bei der Charakterisierung der Magd Desfred im ersten Buch nicht nur, wie gefährlich es ist, wenn man sich "wie auf einen Zauber" darauf verlässt, dass Freiheit, Demokratie und individuelle Rechte ewige Werte seien, sondern auch, welche Kompromisse Menschen zur Selbsterhaltung in einem Gewaltregime schließen. "Was nutzt es, sich aus moralischen Gründen vor eine Dampfwalze zu werfen und plattwalzen zu lassen wie eine Socke ohne den Fuß darin. Dann lieber mit der Menge verschmelzen, der gottesfürchtigen, geschmeidigen, Hass schürenden Menge. Lieber Steine werfen, als mit Steinen beworfen werden. Auf jeden Fall sind da die Überlebenschancen höher", schreibt Tante Lydia in ihrem heimlichen Bericht, den sie in der nur den Tanten zugänglichen Bibliothek in einem ausgehöhlten Exemplar von Kardinal Newmans "Apologia Pro Vita Sua" versteckt - in der Gewissheit, dass niemand einen Blick in diesen Wälzer hineinwagen werde, "wo der Katholizismus hierzulande als ketzerisch gilt, kaum besser als Voodoo-Zauber".
Tante Lydias mitreißendes Bekenntnis wird verwoben mit den Aussagen von zwei jungen Zeuginnen, die den Zusammenbruch aus entgegengesetzten Perspektiven erleben. Agnes ist als Kommandantentochter aus der privilegierten Schicht von Gilead für die Ehe mit einem Oberen des Regimes bestimmt, ein Schicksal, dem sie entgeht, indem sie sich als Anwärterin im Tanten-Orden aufnehmen lässt. Daisy dagegen wächst in Kanada auf als Inbegriff eines aufsässigen Teenagers. Die beiden Mädchen verbindet mehr als die Entdeckung, dass man sie jeweils über ihre Herkunft belogen hat. Damit macht Atwood, deren Vorliebe für die Grauzonen des Daseins bekannt ist, deutlich, dass Kinder nicht nur in einer Diktatur hinters Licht geführt werden, und lässt umgekehrt Agnes dafür plädieren, den Kindern einer gestürzten Diktatur ein wenig Raum zu gönnen, "um das Gute zu betrauern, das uns verlorengehen wird".
Agnes ist Desfreds Tochter, die der Mutter in "Der Report der Magd" bei deren Fluchtversuch entrissen wurde, bevor sie als Magd versklavt wurde. Im Gegensatz zur Mutter kann Agnes nicht auf Erinnerungen an die Zeit vor Gilead zurückgreifen. In ihrem Bericht erkennt sie, dass sie und ihre Altersgenossinnen "die Nutznießer der Opfer unserer Vorläuferinnen" sind: "Uns hat man keine solche Prüfungen auferlegt." Daisy wiederum erfährt, dass sie Desfreds ins feindliche Ausland geschmuggeltes, von Gilead zur staatlichen Ikone erhobenes "Kind Nicole" ist, über das sie in ihrer kanadischen Schule sogar ein Referat schreiben musste.
"Die Zeuginnen" ist ein ganz anderes, weniger literarisches Buch geworden als "Der Report der Magd". Obwohl es sich der gleichen Form der Zeugnisablage bedient, die Margaret Atwood als Mittel der direkten Kommunikation zwischen Autor und Leser fasziniert, liest es sich mehr wie ein Spionageroman nach der Art von John Le Carré, durchsetzt mit Dickens'scher Satire und Atwoods typischen humoristischen Anstrichen, die mitunter laut auflachen lassen. Der Unterschied liegt zum einen im Wesen der Handlung: Die Sprache der jungen Mädchen ist naturgemäß unbedarfter als die ihrer Mutter. Während "Der Report der Magd" von Andeutungen und den Zwischenräumen, die der Leser selbst zu füllen hat, lebt, ist "Die Zeuginnen" explizit. Hinzu kommen die politischen, gesellschaftlichen und medialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte, die sich auch auf die Rezeption von "Der Report der Magd" ausgewirkt haben. Mitte der achtziger Jahre war Margaret Atwood noch nicht die Koryphäe, als die sie heute gefeiert wird. "Der Report der Magd" war ihr sechster Roman, kam aber zunächst nur in Kanada heraus. Deutsche Leser mussten zwei Jahre auf die Übersetzung warten. Heute ist das Buch längst Unterrichtsstoff. Es ist verfilmt, vertont, choreographiert und als feministisches Lehrbuch gefeiert worden. Akademiker verfassen Abhandlungen darüber und halten Symposien nach der Art ab, die Margaret Atwood in den Epilogen zu beiden Romanen witzig persifliert.
Der Wahlsieg von Donald Trump, unter dessen Präsidentschaft seine Kritiker ein neues Gilead aufkeimen sehen, und die preisgekrönte Fensehserien-Adaption, die Atwoods Dystopie mit Bezügen zur Gegenwart ausgeschmückt und durch allerlei Veränderungen die vom Zeitgeist gehuldigte "Relevanz" verliehen hat, haben dem "Report der Magd" frischen Aufwind verschafft. Daraus schlägt der Literaturbetrieb Kapital - mit der Folge, dass die Veröffentlichung der Fortsetzung inszeniert worden ist als internationales Buchereignis des Jahres. In Margaret Atwood hat man dabei eine willige Mitspielerin gefunden. Als Mitproduzentin der Fernsehserie hat sie nun den "Zeuginnen" etliche Elemente daraus einverleibt, woraus zu schließen ist, dass ihre eigene Kooperation mit den Drehbuchautoren noch enger ist als ohnehin schon vermutet. Insofern schlägt das Buch auch ein neues Kapitel der Literaturgeschichte ein. Das ändert jedoch nichts daran, dass Margaret Atwood ein weiteres Mal das Schlaglicht auf die Grausamkeit von Menschen gegenüber Menschen gerichtet hat. Aber auch auf ihr unveränderliches Wesen, im Guten wie im Bösen.
GINA THOMAS
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