In seinem erfrischend provozierenden Buch argumentiert der renommierte Physiker Lee Smolin, dass sich die Physik, eine der Grundlagenwissenschaften, in der Krise befindet, da sie sich in den letzten Jahren ganz der String-Theorie verschrieben hat und die sei letztlich nicht beweisbar. Neben einer verständlichen Darstellung der String-Theorie bietet Smolin einen Blick in die Zukunft der Physik und auf aussichtsreichere physikalische Forschungsgebiete.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2009Soziale Wahrheiten
VON JÜRGEN KAUBE
In seinem Buch über die Stringtheorie hat der amerikanische Physiker Lee Smolin ein Kapitel "Wie kämpft man gegen die Soziologie?" überschrieben. Er beruft sich dabei auf eine unter Physikern offenbar übliche Redeweise. Wenn eine Theorie sich verbreitet, nicht weil sie bewiesen ist, sondern weil Kritik gegen die Gruppe, die sie vertritt, nicht durchkommt, sprechen sie davon, "die Soziologie" sei nun mal so. Will sagen: Was gilt, ist eine Einfluss- und keine Wahrheitsfrage. "Die Gemeinschaft hat beschlossen, dass die Stringtheorie stimmt, da kann man nichts machen. Man kann nicht gegen die Soziologie kämpfen."
Darin steckt eine Gleichsetzung von "sozial" mit "gemacht" und "wissenschaftlich" mit "beobachtet". Was objektiv ist, wäre demnach nicht von sozialen Umständen abhängig, sondern ist so, wie es ist, auch wenn es niemand merken würde. Es gab Atome auch schon, als noch niemand den Begriff oder eine Atomtheorie hatte. "Strings" hingegen, so Smolin, gibt es nur so lange, wie der Einfluss der Stringtheoretiker auf Journale und Berufungskommissionen sowie die physikalische Mode reicht.
Was immer für Strings gelten mag, soziologisch betrachtet, hat Smolin recht und unrecht zugleich. Er hat unrecht, weil es abenteuerlich wäre, sich wissenschaftliche Beweise als etwas Unsoziales vorzustellen, frei von Konventionen, unabhängig vom Gesichtsfeld der Gemeinschaft, in der sie geführt werden. Von Gaston Bachelard, dem großen französischen Wissenschaftsphilosophen, gibt es dazu ein schönes Beispiel. Sinngemäß zitiert: Wenn man einen Würfel zehn Zentimeter verschieben will, sagt Bachelard, kann man das alleine tun. Wenn man ihn einen Millimeter verschieben will, braucht man eine Maschine, also andere. Will man ihn aber einen Nanometer verschieben, dann braucht man eine ganze Theorie, also die Gemeinschaft der Wissenschaftler. Gerade die anspruchsvollste Objektivität beruht, mit anderen Worten, auf sozialen Vorleistungen.
Aber Smolin hat auch recht. Die Wahrheit kann nicht damit leben, sozial bedingt zu sein. Das beste Beispiel sind jene Studien, die nachweisen wollen, dass wissenschaftliche Wahrheit auch nur eine Konstruktion voll willkürlicher Festlegungen und Machenschaften ist, abhängig von Paradigmen und voller "Soziologie". Denn sie selbst nehmen für ebendiese Erkenntnis durchaus in Anspruch, dass sie nicht konstruiert, sondern objektiv beobachtet worden sei. Die sozial konstruierte Erkenntnis ist also immer die Erkenntnis der anderen.
Lee Smolin: "Die Zukunft der Physik. Probleme der Stringtheorie, und wie es weitergeht." München 2009, Kapitel 16.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
VON JÜRGEN KAUBE
In seinem Buch über die Stringtheorie hat der amerikanische Physiker Lee Smolin ein Kapitel "Wie kämpft man gegen die Soziologie?" überschrieben. Er beruft sich dabei auf eine unter Physikern offenbar übliche Redeweise. Wenn eine Theorie sich verbreitet, nicht weil sie bewiesen ist, sondern weil Kritik gegen die Gruppe, die sie vertritt, nicht durchkommt, sprechen sie davon, "die Soziologie" sei nun mal so. Will sagen: Was gilt, ist eine Einfluss- und keine Wahrheitsfrage. "Die Gemeinschaft hat beschlossen, dass die Stringtheorie stimmt, da kann man nichts machen. Man kann nicht gegen die Soziologie kämpfen."
Darin steckt eine Gleichsetzung von "sozial" mit "gemacht" und "wissenschaftlich" mit "beobachtet". Was objektiv ist, wäre demnach nicht von sozialen Umständen abhängig, sondern ist so, wie es ist, auch wenn es niemand merken würde. Es gab Atome auch schon, als noch niemand den Begriff oder eine Atomtheorie hatte. "Strings" hingegen, so Smolin, gibt es nur so lange, wie der Einfluss der Stringtheoretiker auf Journale und Berufungskommissionen sowie die physikalische Mode reicht.
Was immer für Strings gelten mag, soziologisch betrachtet, hat Smolin recht und unrecht zugleich. Er hat unrecht, weil es abenteuerlich wäre, sich wissenschaftliche Beweise als etwas Unsoziales vorzustellen, frei von Konventionen, unabhängig vom Gesichtsfeld der Gemeinschaft, in der sie geführt werden. Von Gaston Bachelard, dem großen französischen Wissenschaftsphilosophen, gibt es dazu ein schönes Beispiel. Sinngemäß zitiert: Wenn man einen Würfel zehn Zentimeter verschieben will, sagt Bachelard, kann man das alleine tun. Wenn man ihn einen Millimeter verschieben will, braucht man eine Maschine, also andere. Will man ihn aber einen Nanometer verschieben, dann braucht man eine ganze Theorie, also die Gemeinschaft der Wissenschaftler. Gerade die anspruchsvollste Objektivität beruht, mit anderen Worten, auf sozialen Vorleistungen.
Aber Smolin hat auch recht. Die Wahrheit kann nicht damit leben, sozial bedingt zu sein. Das beste Beispiel sind jene Studien, die nachweisen wollen, dass wissenschaftliche Wahrheit auch nur eine Konstruktion voll willkürlicher Festlegungen und Machenschaften ist, abhängig von Paradigmen und voller "Soziologie". Denn sie selbst nehmen für ebendiese Erkenntnis durchaus in Anspruch, dass sie nicht konstruiert, sondern objektiv beobachtet worden sei. Die sozial konstruierte Erkenntnis ist also immer die Erkenntnis der anderen.
Lee Smolin: "Die Zukunft der Physik. Probleme der Stringtheorie, und wie es weitergeht." München 2009, Kapitel 16.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht immer einverstanden ist Ulf von Rauchhaupt mit Lee Smolins groß angelegter Kritik der Stringtheorie, dieser seit einigen Jahren angesagten, die Quanten- und die Relativitätstheorie integrierende physikalische Großtheorie der Natur. Das Vorhaben des Autors, das grandiose Bild, das von dieser Theorie im Umlauf ist, zu korrigieren, scheint ihm vollauf berechtigt, ebenso wie seine Fundamentalkritik an der Art und Weise, wie sich die theoretische Physik auf einen einzigen Forschungsansatz stürzt, obwohl seine Erfolge bisher nicht durchschlagend sind. Smolins eigene, an Einsteins Traum von einer mathematisch eindeutigen und deterministischen Physik orientierte Vorstellung hält er aber nicht mehr für zeitgemäß. In diesem Zusammenhang hält er dem Autor auch vor, sich bei seiner Kritik an der heutigen Grundlagenforschung zu "verheddern".
© Perlentaucher Medien GmbH
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