Er ist zynisch und barmherzig, eiskalt und leidenschaftlich: Alexandre Grimod de La Reyniere, der meistgelesene Theaterkritiker der französischen Revolutionszeit. Selbst an beiden Armen verkrüppelt, streitet er für die Rechte der Zukurzgekommenen. Zugleich inszeniert der "gefürchtetste Feinschmecker Frankreichs" Tafelrunden, die längst zur Legende geworden sind. Er kultiviert in bizarren Happenings den schwarzen Humor, die Nachtseite des Lebens, und macht sich selbst zum Hauptdarsteller auf der Bühne des Daseins.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2000Zunge zeigen
Lea Singer erzählt vom Ursprung der Gourmetkritik Von Alexander Honold
Das Beste sind Eier und Kartoffeln, lernt der kleine Alexandre von der neuen Köchin. Oft unterschätzt, bilden sie die größten Kostbarkeiten der Küche: "Weil sie sich in tausend verschiedene Gerichte verwandeln können und du ihrer niemals überdrüssig wirst." Meistens geht es aber nicht so frugal und bescheiden zu in der Welt dieses Romans. "Die Zunge" gehört Alexandre Balthazar Laurent Grimod de la Reynière. Als Sprössling eines ebenso vermögenden wie verhassten Steuereinnehmers wächst Alexandre in einem der luxuriösesten Häuser des Ancien Régime auf.
Auf den ersten Blick erscheinen Zeit und Milieu im literarischen Debüt der Berliner Publizistin Lea Singer als bemerkenswert unkluge Wahl. Nirgends könnte das Gedränge der Klischees und Anekdoten größer sein. Erwartungsgemäß verschafft Singer indiskrete Einblicke in Boudoirs, Kochtöpfe und Gefängniszellen. Sie lässt Voltaire, Mercier, Beaumarchais und Rétif de la Bretonne auftreten und vergisst nicht, die Umtriebe des Scharlatans Cagliostro zu erwähnen. Ausführlicher als nötig streift sie die tausendfach kolportierte Halsbandaffäre und die Erfindung der Guillotine.
Von Beginn an sind die Effekte genussvollen Schreckens und widerlicher Lust eng verbunden. Der kleine Grimod de la Reynière, in den seine eitlen Eltern den größten Ehrgeiz gesetzt haben, wird zum Debakel. Er ist nicht nur hochintelligent, sondern kommt mit monströsen Entstellungen beider Arme zur Welt. Statt der Hände ragen links eine Geierklaue und rechts eine Krebszange aus Armstümpfen hervor. Dafür würden ihn Monsieur und Madame, die in den Verstümmelungen die Quittung des eigenen Lotterlebens erblicken, am liebsten umbringen. Wenn es schon nicht gelingt, den Balg loszuwerden, lassen sie doch nichts unversucht, ihren einzigen Sohn lebenslang nach Kräften zu verletzen. Ins Schauerliche verzerrt, ist damit die typische Ausgangskonstellation für das Drama des hoch begabten Kindes geschaffen. Seine körperliche Behinderung muss Alexandre durch überragende Leistungen kompensieren. Der Schuljunge rechnet, redet und räsoniert wie die Erwachsenen, nur schärfer und schneller. Als Krüppel und vorwitzig-altkluger Primus ist er den Schlägen und der Häme doppelt ausgesetzt. Verfolgung, offene Ablehnung und feiger Hinterhalt begleiten fortan sein Leben, das er sonst wahrscheinlich als opportunistischer Lüstling verbracht hätte. Nun aber ist er Pfahl im Fleische statt Made im Speck; kritischer Widerhaken der feinen Gesellschaft, ohne für die Rolle des Revolutionärs zu taugen.
Zu seiner Bestimmung findet Grimod, als ihn eine wohlmeinende Schauspielerin über die Möglichkeiten der menschlichen Zungenmuskulatur aufklärt. Bald schon wird sie, die Zunge, zu seinem "dritten Arm", ja zum Ort zartesten Fingerspitzengefühls. Geschmack, so belehrt Voltaire den angehenden Rechtsanwalt und Theaterkritiker, kommt von Schmecken. Grimod gelingt es, sich sein Schicksal und das seiner Mitwelt auf die Zunge zu legen. Die Laufbahn des Advokaten ist nur ein Vorspiel seiner Meisterschaft der Genüsse. Als zungenfertiger Liebhaber und Gourmet, Theaterkritiker und Parodist, Veranstalter skandalumwitterter Zechgelage und respektloser Chronist eines heuchlerisch morbiden Zeitalters hält er sie niemals im Zaum.
Im Zusammenspiel von rhetorischer Brillanz und geschmacklicher Urteilskraft zieht Grimod seine steile Bahn, und mit seinem fantastischen Aufstieg findet Lea Singers Roman zu virtuoser Erzählfreude. Wo krasse Einzelheiten und anrührende Gefühle fabuliert werden dürfen, schreibt sie sich frei vom Schnürkorsett des geschichtlichen Personals. Die Abarbeitung eines realhistorischen Vorgangs gerät am Ende fast zum bloßen Schlenker, und das ist gut so. Auch nach Ausbruch der revolutionären Gewalt versteht es Grimod, sich missliebig zu machen. Als ihm die Theaterkritiken untersagt werden, beschließt er, seine Besprechungen hinfort über Tafelfreuden zu verfassen. Damit steht ausgerechnet der Gleichheitsterror als Geburtshelfer der Gourmetkritik da.
Singer hat einen Roman von sinnlicher Opulenz vorgelegt, historisch triftig und mit treffsicherem Ton - und doch wird man das Gefühl nicht los, dass hier mehr zu holen gewesen wäre. Dass zum Rezeptwissen auch die Ökonomie der eingesetzten Mittel gehört, hätte Lea Singer ihrem Protagonisten abschauen können. In den Hungerzeiten der jakobinischen Schreckensherrschaft entsinnt sich Grimod der Weisheiten seiner einstigen Köchin, die mit schlichtesten Zutaten schmackhafte Wirkungen zu erzielen verstand. Wenn die Kniffe aber so schulmäßig raffiniert sitzen wie in diesem Buch, legt sich über das Ganze der Hauch jenes Missgriffs, auf den man die ganze Zeit vergebens wartet.
Lea Singer: "Die Zunge". Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000. 320 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lea Singer erzählt vom Ursprung der Gourmetkritik Von Alexander Honold
Das Beste sind Eier und Kartoffeln, lernt der kleine Alexandre von der neuen Köchin. Oft unterschätzt, bilden sie die größten Kostbarkeiten der Küche: "Weil sie sich in tausend verschiedene Gerichte verwandeln können und du ihrer niemals überdrüssig wirst." Meistens geht es aber nicht so frugal und bescheiden zu in der Welt dieses Romans. "Die Zunge" gehört Alexandre Balthazar Laurent Grimod de la Reynière. Als Sprössling eines ebenso vermögenden wie verhassten Steuereinnehmers wächst Alexandre in einem der luxuriösesten Häuser des Ancien Régime auf.
Auf den ersten Blick erscheinen Zeit und Milieu im literarischen Debüt der Berliner Publizistin Lea Singer als bemerkenswert unkluge Wahl. Nirgends könnte das Gedränge der Klischees und Anekdoten größer sein. Erwartungsgemäß verschafft Singer indiskrete Einblicke in Boudoirs, Kochtöpfe und Gefängniszellen. Sie lässt Voltaire, Mercier, Beaumarchais und Rétif de la Bretonne auftreten und vergisst nicht, die Umtriebe des Scharlatans Cagliostro zu erwähnen. Ausführlicher als nötig streift sie die tausendfach kolportierte Halsbandaffäre und die Erfindung der Guillotine.
Von Beginn an sind die Effekte genussvollen Schreckens und widerlicher Lust eng verbunden. Der kleine Grimod de la Reynière, in den seine eitlen Eltern den größten Ehrgeiz gesetzt haben, wird zum Debakel. Er ist nicht nur hochintelligent, sondern kommt mit monströsen Entstellungen beider Arme zur Welt. Statt der Hände ragen links eine Geierklaue und rechts eine Krebszange aus Armstümpfen hervor. Dafür würden ihn Monsieur und Madame, die in den Verstümmelungen die Quittung des eigenen Lotterlebens erblicken, am liebsten umbringen. Wenn es schon nicht gelingt, den Balg loszuwerden, lassen sie doch nichts unversucht, ihren einzigen Sohn lebenslang nach Kräften zu verletzen. Ins Schauerliche verzerrt, ist damit die typische Ausgangskonstellation für das Drama des hoch begabten Kindes geschaffen. Seine körperliche Behinderung muss Alexandre durch überragende Leistungen kompensieren. Der Schuljunge rechnet, redet und räsoniert wie die Erwachsenen, nur schärfer und schneller. Als Krüppel und vorwitzig-altkluger Primus ist er den Schlägen und der Häme doppelt ausgesetzt. Verfolgung, offene Ablehnung und feiger Hinterhalt begleiten fortan sein Leben, das er sonst wahrscheinlich als opportunistischer Lüstling verbracht hätte. Nun aber ist er Pfahl im Fleische statt Made im Speck; kritischer Widerhaken der feinen Gesellschaft, ohne für die Rolle des Revolutionärs zu taugen.
Zu seiner Bestimmung findet Grimod, als ihn eine wohlmeinende Schauspielerin über die Möglichkeiten der menschlichen Zungenmuskulatur aufklärt. Bald schon wird sie, die Zunge, zu seinem "dritten Arm", ja zum Ort zartesten Fingerspitzengefühls. Geschmack, so belehrt Voltaire den angehenden Rechtsanwalt und Theaterkritiker, kommt von Schmecken. Grimod gelingt es, sich sein Schicksal und das seiner Mitwelt auf die Zunge zu legen. Die Laufbahn des Advokaten ist nur ein Vorspiel seiner Meisterschaft der Genüsse. Als zungenfertiger Liebhaber und Gourmet, Theaterkritiker und Parodist, Veranstalter skandalumwitterter Zechgelage und respektloser Chronist eines heuchlerisch morbiden Zeitalters hält er sie niemals im Zaum.
Im Zusammenspiel von rhetorischer Brillanz und geschmacklicher Urteilskraft zieht Grimod seine steile Bahn, und mit seinem fantastischen Aufstieg findet Lea Singers Roman zu virtuoser Erzählfreude. Wo krasse Einzelheiten und anrührende Gefühle fabuliert werden dürfen, schreibt sie sich frei vom Schnürkorsett des geschichtlichen Personals. Die Abarbeitung eines realhistorischen Vorgangs gerät am Ende fast zum bloßen Schlenker, und das ist gut so. Auch nach Ausbruch der revolutionären Gewalt versteht es Grimod, sich missliebig zu machen. Als ihm die Theaterkritiken untersagt werden, beschließt er, seine Besprechungen hinfort über Tafelfreuden zu verfassen. Damit steht ausgerechnet der Gleichheitsterror als Geburtshelfer der Gourmetkritik da.
Singer hat einen Roman von sinnlicher Opulenz vorgelegt, historisch triftig und mit treffsicherem Ton - und doch wird man das Gefühl nicht los, dass hier mehr zu holen gewesen wäre. Dass zum Rezeptwissen auch die Ökonomie der eingesetzten Mittel gehört, hätte Lea Singer ihrem Protagonisten abschauen können. In den Hungerzeiten der jakobinischen Schreckensherrschaft entsinnt sich Grimod der Weisheiten seiner einstigen Köchin, die mit schlichtesten Zutaten schmackhafte Wirkungen zu erzielen verstand. Wenn die Kniffe aber so schulmäßig raffiniert sitzen wie in diesem Buch, legt sich über das Ganze der Hauch jenes Missgriffs, auf den man die ganze Zeit vergebens wartet.
Lea Singer: "Die Zunge". Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000. 320 S., geb., 39,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Recht ausführlich und merklich mitgerissen erzählt Alexander Honold den Plot dieses Romans nach, der durch ein farbiges und großenteils aus realen historischen Figuren wie Voltaire und Mercier bestehendes Personal besticht. Körperliche Behinderung wird hier laut Honold zum Vehikel einer Überbegabung. Und die liegt in der Zunge, die dem an den Händen verkrüppelten Helden Alexandre Grimod de La Reynière zum "dritten Arm" wird, im kulinarischen wie im erotischen Sinne, wie man andeutungsweise zu verstehen meint. Am Ende stört den Rezensenten an dem Buch allenfalls seine allzu große Kunstfertigkeit. Was zählt das angesichts "virtuoser Erzählfreude" und "sinnlicher Opulenz"?
© Perlentaucher Medien GmbH
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