Raphael Lemkin, der polnisch-jüdische Vater der UN-Völkermordkonvention von 1948, sah auch in der Vertreibung von 14 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges einen Genozid. Dieser begann für ihn nicht erst bei der physischen »Ausrottung« ganzer Völker, sondern bedeutete »Zerstörung nationaler Gruppen als solcher« in ihrer sozialen Existenz. Der Deutsche Bundestag schloss sich 1954 beim Beitritt zur UN-Konvention von der CDU bis zur SPD Lemkins breitem Genozidbegriff an. Mit wachsender Bedeutung des Holocausts in der Erinnerungskultur wurden später in Deutschland Völkermord und…mehr
Raphael Lemkin, der polnisch-jüdische Vater der UN-Völkermordkonvention von 1948, sah auch in der Vertreibung von 14 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges einen Genozid. Dieser begann für ihn nicht erst bei der physischen »Ausrottung« ganzer Völker, sondern bedeutete »Zerstörung nationaler Gruppen als solcher« in ihrer sozialen Existenz. Der Deutsche Bundestag schloss sich 1954 beim Beitritt zur UN-Konvention von der CDU bis zur SPD Lemkins breitem Genozidbegriff an. Mit wachsender Bedeutung des Holocausts in der Erinnerungskultur wurden später in Deutschland Völkermord und Judenvernichtung zeitweilig gleichgesetzt. Der Boom der Kolonialismus-Bewältigung führte jedoch erneut zu einem Begriffswandel. 2021 erkannte die Bundesregierung den Genozid an den Herero im früheren Deutsch-Südwestafrika an. Im vergleichenden Blick auf »ethnische Säuberungen« bis hin zu Putins Krieg gegen die ukrainische Nation heute diskutiert das Buch die »zwei Gesichter« des Genozids zwischen Ausrottung und Zerstörung.
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Forschungen zur Geschichte ethnischer Vertreibung 1
Manfred Kittel war nach dem Studium u.a. am Institut für Zeitgeschichte in München tätig, ab 2009 als Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Seit 2015 forscht er, zunächst am Deutschen Historischen Museum, dann am Bundesarchiv, wieder zu zeithistorischen Themen. Er lehrt Neuere Geschichte in Regensburg. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen Studien zur Demokratiegeschichte in Deutschland und Frankreich vor 1933/36, zur 'Vergangenheitsbewältigung' in Japan und der Bundesrepublik nach 1945 und vor allem zu Geschichte und Erinnerungskultur von Flucht und Vertreibung, zuletzt zur Politik des 'Lastenausgleichs' ab 1952.
Inhaltsangabe
Unschärfen des Völkermordbegriffs in der deutschen Erinnerungskultur
Entstehung und Geist der UN-Genozidkonvention von 1948
Raphael Lemkins Distanz zum Ausrottungsbegriff des Nürnberger Militärgerichtshofs
Lemkins Prägung durch den defizitären Minderheitenschutz der Völkerbundszeit
Vertreibung als Zerstörung einer »Gruppe als solcher«
Die Rolle Lemkins beim Konventionsbeitritt der Bundesrepublik 1954
Bundestagskonsens 1954: Völkermord als »Zerstörung«, nicht »Ausrottung« einer Gruppe
Konventionsbeitritt ohne Konsequenzen: Verzicht auf die systematische Ermittlung von Vertreibungsverbrechen
Folgen von Verjährungsdebatten und Ostverträgen
Zunehmende Gleichsetzung von Völkermord und Holocaust und Randposition der Vertreibung in der neuen Genozidforschung seit den 1980er Jahren
Rechtsradikale Instrumentalisierungen und linke Verengungen des Genoziddiskurses
Zwischen sachlicher Kritik und moralpolitischer Zensur: Lemkins Genozidverständnis und die Genozidforscher
Die »ethnischen Säuberungen« auf dem Balkan nach 1991 und der breite Begriff des Völkermords in der deutschen und internationalen Rechtsprechung
Kolonialhistorischer Wandel des Genozidbegriffs und Anerkennung des Völkermordes an den Herero 2021
Zur Frage der subjektiven und objektiven Komponente des Genozidtatbestands bei der Vertreibung der Deutschen
Jüngste Völkermorddebatten um Polen und die Ukraine
Resümee: Ethnische Vertreibungen als Zerstörungsgenozid