'Warum hat Gartenarbeit in meiner Vorstellung immer mit einem Aufzwingen von Regeln zu tun? Warum kommen mir immer jene Lagergärten in den Sinn? Kleine Tontöpfe, der eine mit einem Sprung am oberen Rand, auf einem niedrigen Bruchsteinvorsprung - ein Garten in Buchenwald, wie ich ihn einmal auf einem Photo gesehen hatte, ein Lagergarten. Eine kleine Bruchsteinmauer um die Terrasse, Tontöpfe mit Blumen und Kräutern - der Garten meiner Mutter.' Der sogenannten 'zweiten Generation', den Kindern der Überlebenden des Holocaust, den Kindern des Danach, wurde von ihren Eltern nicht nur die Aufgabe übertragen, nicht zu vergessen. Sie wurden selbst Teil der Geschichte der ihrer Eltern. In der Wissenschaft findet man heute Beschreibungen eines sogenannten Überlebendenkomplexes: die Skizzierung der entwicklungs- und identitätshemmenden Einflüsse eines übertragenen Traumas. Doch vehement wehrt sich die Autorin gegen die Zuschreibung eines solchen unüberwindbaren Teufelskreises aus Übertragungs-Gegenübertragungs-Prozessen, der einer gescheiterten Verarbeitung der Verfolgungserfahrung folgt. Unnachgiebig folgt sie ihren autobiographischen Reflexionen, um das Fehlen von Nähe und Sicherheit, Familie und Identität, nicht aus den Nachwirkungen einer dunklen Vergangenheit zu erklären, sondern um zu erkennen, dass das Erbe der 'zweiten Generation' ein Scheitern vor den Anforderungen der Gegenwart ist. In Deutschland zu leben als Kind der Gebliebenen bedeutet, in einer geheimen Wirklichkeit zu leben, die auch, wenn sie geöffnet würde, auch wenn sie erklärt und gelebt werden könnte, geheim bleiben muss.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2006Hinweis
ZWEITE GENERATION. Über Judenvernichtung und Antisemitismus zu reden gehört heute zur deutschen Gesprächskultur. Daß die Juden im Diskurs weniger als Subjekte denn als Objekte auftauchen, befremdet allgemein gar nicht - und sollte es doch tun. Es wäre schließlich geboten, einmal die zu hören, über die da gesprochen wird. Vielleicht läßt sich dann besser verstehen, was es bedeutet, in Deutschland als Nachfahre der Überlebenden einer Gruppe anzugehören, die verfolgt und ermordet wurde. Diese Gelegenheit bieten nun die mutigen autobiographischen Reflexionen von Lea Kirstein (ein Pseudonym). In einer eindringlichen Selbstbefragung arbeitet die Autorin heraus, was es bedeuten kann, heute als Jude in Deutschland zu leben - nämlich "die von der deutschen Gesellschaft angebotene und akzeptierte Rolle auszufüllen: der Mittler zwischen Juden und Deutschland zu sein, der zugleich Mahner gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus ist. Und zugleich auf Grund dieser Rolle unerwünscht zu werden." Das ganze Feld der emotionalen und sozialen Zugehörigkeit liegt voller unsichtbarer Fallstricke. Nach der Lektüre dieses Buchs wird man sich weniger selbstgewiß in die Zuordnungen des Diskurses begeben. (Lea Kirstein: "Die zweite Generation". Autobiographische Reflexionen. Wilhelm Fink Verlag, München 2006. 161 S., br., 19,90 [Euro]).
jei
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ZWEITE GENERATION. Über Judenvernichtung und Antisemitismus zu reden gehört heute zur deutschen Gesprächskultur. Daß die Juden im Diskurs weniger als Subjekte denn als Objekte auftauchen, befremdet allgemein gar nicht - und sollte es doch tun. Es wäre schließlich geboten, einmal die zu hören, über die da gesprochen wird. Vielleicht läßt sich dann besser verstehen, was es bedeutet, in Deutschland als Nachfahre der Überlebenden einer Gruppe anzugehören, die verfolgt und ermordet wurde. Diese Gelegenheit bieten nun die mutigen autobiographischen Reflexionen von Lea Kirstein (ein Pseudonym). In einer eindringlichen Selbstbefragung arbeitet die Autorin heraus, was es bedeuten kann, heute als Jude in Deutschland zu leben - nämlich "die von der deutschen Gesellschaft angebotene und akzeptierte Rolle auszufüllen: der Mittler zwischen Juden und Deutschland zu sein, der zugleich Mahner gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus ist. Und zugleich auf Grund dieser Rolle unerwünscht zu werden." Das ganze Feld der emotionalen und sozialen Zugehörigkeit liegt voller unsichtbarer Fallstricke. Nach der Lektüre dieses Buchs wird man sich weniger selbstgewiß in die Zuordnungen des Diskurses begeben. (Lea Kirstein: "Die zweite Generation". Autobiographische Reflexionen. Wilhelm Fink Verlag, München 2006. 161 S., br., 19,90 [Euro]).
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