In 'Die Zweite Schuld' erstellt Fichte mit einer Mischung aus Tagebuchskizzen und Interviews ein Porträt des 1963 gerade gegründeten 'Literarischen Colloquiums Berlin', in dem arrivierte Schriftsteller mit jungen Autoren zum Werkstattgespräch zusammenkamen. Das LCB war weit mehr als ein erstes deutsches Literaturhaus. Hier traf sich die Crème de la Crème der internationalen Literaturszenen und rüttelte das selbstverliebte Wirtschaftswunder-Deutschland wach. Aber nicht die Institutsgeschichte steht für Fichte im Vordergrund, sondern die Menschen, die diese Institution mit Leben füllen. Durch seine Schilderungen der Machtverhältnisse, der menschlichen Verstrickungen und intimen Wünsche wirft Fichte einen Blick hinter die Fassade der Literaturgeschichte und bahnt sich Wege zu seiner eigenen Identität als Schriftsteller.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2006Schreiben Sie mal 'ne Glosse
Die Schuld ist immer zweifellos: Nachgelassenes von Hubert Fichte
Das Kreuz mit der Erfahrung in der modernen wissenschaftlichen Welt ist die numerische Unzulänglichkeit jeder Empirie. Niemand ist "Sechs-Komma-so-und-so-viel-Milliarden". Der erste, der ein Gedicht mit "150 Millionen" betitelte, war der russische Revolutionsdichter Wladimir Majakowski. Damit glaubte er den Autorennamen geschrieben zu haben. Majakowski ist an der unaufgelösten Spannung zwischen dem subjektiven Faktor und der Gemeinschaftspraxis der frühen Sowjetunion zerbrochen. Das Individuum konnte nicht das gesellschaftliche Wesen werden, das die positiven Erlösungswissenschaften in Aussicht gestellt hatten. Die Wissenschaften und die Philosophie haben nur die Antworten der geoffenbarten Religionen widerlegt und durch das Periodensystem, die kopernikanische Welt ohne Himmel und das Atom ersetzt.
Die Fragen der Religionen haben die Wissenschaften unberührt gelassen. Dadurch sind die Menschen der Moderne in eine zweideutige Situation gebracht worden. Die Antworten der Wissenschaften haben ihre Grenzen; die Aussagen der Religionen sind unglaubhaft geworden. Für eine Literatur, für die Geschichte zuerst die Bewegung der Sprache ist, ist das eine komplizierte Konstellation, solange ihre Protagonisten die Wissenschaft nicht einfach ignorieren und trotzdem weiterhin an der sozialen Praxis der Sprache interessiert sind. Denn Religion war (oder ist) soziale Praxis im Ritual.
Es sind im deutschen Sprachraum vor allem zwei Autoren, nämlich Franz Kafka und Hubert Fichte, die in dem Spannungsfeld von subjektivem Ich und Außenwelt in der Alltagssprache jene Mischformen entdecken, die noch nicht Wissenschaft und nicht mehr Religion sind, aber ständig bedroht, von einer Seite kolonisiert zu werden. Daß sie beide jüdisch sind, ohne im Sinne ihrer Religion religiös zu sein, ist dabei kein Zufall.
Während aber Kafka vor allem in seinen Tiererzählungen aus dem Weltinnenraum der domestizierten Umwelt des modernen naturwissenschaftlichen Versuchs spricht - man kann zum Beispiel die Erzählung "Forschungen eines Hundes" als einen ruhigen, vernichtenden Kommentar eines sprechenden Tieres aus Pawlovs Lernlaboratorien lesen -, redet Fichte vom Weltaußenraum. "Aber ich wollte nicht nur weg. / Ich wollte auch wohin. / Ich wollte in die Welt. / Europa war mir kaum groß genug." So beschreibt Fichte in dem 1987 postum erschienenen Roman "Hotel Garni" seine Lage in der Bundesrepublik 1954.
"Hotel Garni" ist der erste Band des von Fichte auf neunzehn Bände angelegten, 1973 begonnenen Zyklus "Die Geschichte der Empfindlichkeit". Die teils Fragment gebliebenen Bücher der Empfindlichkeit sind jetzt mit dem gerade erschienenen Band "Die zweite Schuld" zum Abschluß gekommen. Daß "Die zweite Schuld" erst zwanzig Jahre, nachdem Fichte 1986 im Alter von fünfzig Jahren gestorben war, erscheinen konnte, hing mit einer Sperrfrist zusammen, die der Autor selbst festgelegt hatte.
Die vorliegenden siebzehn Bände bringen Fichtes verschiedene Formen der sprachlichen Weltverarbeitung zu einem gültigen Ausdruck. Polemiken, Kritiken, Glossen, Interviews gehören dabei genauso zu seinen Praktiken wie die mild-leichte Erzählung in dem Roman "Eine glückliche Liebe". "Die zweite Schuld" ist aber nicht nur der Abschluß eines literarischen Projekts, das noch in seinen poetischsten Feinstverästelungen dem Materialismus der Welt verpflichtet bleibt; sie markiert auf eine manchmal beklemmende Art den Grund für Fichtes Flucht in die Welt. Das ist wörtlich zu nehmen. Fichte hat 69 oft längere Reisen unter anderem in die Karibik, nach Brasilien, Afrika und New York unternommen. Begleitet wird er auf den Fahrten von der Fotografin Leonore Mau. Mau ist 1961, als sie sich endgültig für Fichte entscheidet und ihre beiden Kinder und ihren Mann deswegen verläßt, neunzehn Jahre älter als der bekennende Homosexuelle Fichte. Das Paar - das in der "Geschichte der Empfindlichkeit" zu Irma (Leonore) und Jäcki (Hubert) wird, ohne daß Vorbild und Abbild ineinander aufgehen - bildet sozusagen das Substrat der Empfindlichkeit. Darauf wächst sich das Material der Welt zum Text der Empfindlichkeit aus. Denn die Welt kommt über die Haut in den Körper, nicht über den Geist. Fichte geht einmal so weit, zu sagen, es sei nicht das Denken gewesen, das ihn in die Welt trieb, sondern allein sein homosexuelles Interesse an den Körpern. Und seine Geschichten sind voll von den Ernten seiner homosexuellen Spaziergänge, die er auch nach der Verbindung mit Mau nicht aufgibt. Seine Berichte aus den Klappen und Sexkinos der Welt sind allerdings nie feucht. Sie haben nichts von der Blut-und-Hoden-Romantik der einschlägigen Literatur. "Es gibt ein Verhaftetsein der Avantgarde an Blut und Boden", schreibt Fichte und meint es kritisch.
An derselben Stelle in dem New-York-Band "Die schwarze Stadt" bezeichnet Fichte den homosexuellen und von der Schönheit der nationalsozialistischen Soldaten faszinierten Schriftsteller Jean Genet als "auschwitztrunken", überführt er Susan Sontag der Leni-Riefenstahl-Liebe und kritisiert den Komponisten Hans Werner Henze für seine Kuba-Begeisterung. Henze, schreibt Fichte, fühle sich in Kuba "trotz der Zwangslager für Homosexuelle" wohl. Das "Kontingenzgeschöpf" (Rainald Goetz) Hubert Fichte weiß, daß staatliche Formationen einen wie ihn - homosexuell, unehelich geboren und nach der nationalsozialistischen Theorie Halbjude - jederzeit abholen können. Deshalb schockiert ihn auch die Berliner Mauer nicht, als er in den Ostteil der Stadt fährt, um den Schriftsteller Johannes Bobrowski zu besuchen.
Von Staaten erwartet Fichte nichts anderes, egal, ob sie sich sozialistisch nennen oder von Sozialdemokraten geführt werden. "Ich kann die Schwulen nicht ausstehen", kommentiert der "Biedermann Heinemann" in der "Bild"-Zeitung die Abschaffung des Paragraphen 175 durch Willy Brandt. In Fichtes Worten ist Brandt "ein riesenhafter unbeweglicher stummer Mann, der sich durch die Intrigen schiebt". Die Politik in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren kommt nur über die Zeitungen, die Fichte liest oder in denen er schreibt, in "Die zweite Schuld". Die wie Günter Grass in die Politik eingreifenden Kollegen sollen Fichte mit ihren "Trivialmythen" in Ruhe lassen. Ein Schriftsteller kann in Sachen Politik nicht mitreden, weil man "an die Informationen gar nicht rankommen" könne, entgegnet Fichte dem kritischen Kollegen Hermann Peter Piwitt. Piwitt war 1963 wie Fichte Teilnehmer eines mehrmonatigen Schreibkurses für junge Schriftsteller am Literarischen Colloquium in West-Berlin unter der Anleitung von Walter Höllerer, Günter Grass, Peter Weiss und anderen.
Die literarische Szene in West-Berlin und die Gruppe 47 in den Jahren von 1963 bis 1965 bilden den Hintergrund der "Zweiten Schuld". In unmittelbarer Nähe des Horror-Orts der Wannsee-Konferenz, auf der die Ausrottung der europäischen Juden beschlossen wurde, und in zeitlicher Nähe der Auschwitz-Prozesse bezieht sich der Titel "Die zweite Schuld" natürlich auch auf den Nationalsozialismus. Darin schwingt aber noch etwas anderes mit, das für Fichte programmatisch ist. Der Gegenbegriff zur zweiten Schuld ist die zweite Naivität - eine in der Münchner Boheme um Erich Mühsam und Roda Roda nach dem Ersten Weltkrieg umgehende Forderung an den Schreiber. Man müsse sich eine zweite Naivität aufbauen, um wieder unmittelbar zum sprachlichen Ausdruck zurückzufinden, hieß es. Fichtes Titel sagt dazu: Nein, das geht nicht. Wenn man einmal weiß, wie die Bohnen in die Schoten kommen, kann man dahinter nicht zurückgehen.
"Die zweite Schuld" ist voll von Invektiven gegen "philosophisch, expressionistisch, dadaistisch, konstruktivistisch hochgestylten Klatsch". Der Gewalt des Expressionismus fühlt sich Fichte nicht gewachsen. Er geht von ein paar Essentialia aus, die er weder neutralisieren noch einklagen will und kann. Sie sind da und heißen: Es gibt ein Gewissen, und deshalb kann man Schuld nicht diskutieren, nur anerkennen. Genauso weiß er, daß das Ich kein Denkgegenstand ist und in seiner Subjektivität keinen Zugang zum Absoluten hat. "Ich bin für Ichs", schreibt er an den Anfang der "Zweiten Schuld". Das hat aber weniger mit den Aufspaltungen der Identität in verschiedene Interessen- und Berufsmuster zu tun als mit einer Fundamentalkritik an einer aufgeweichten Auffassung der christlichen Religion.
Deshalb geht Fichte hinter die christliche Erfahrung zurück und findet sein Programm bei Herodot formuliert. "Magie, Religion erscheinen bei ihm als Gegenstand der Forschung", schreibt er über Herodot und meint sich selbst. Daher sucht er die Rituale der synkretistischen Religionen und ihrer Kulte zu verstehen und reist nach Afrika, in die Favelas Südamerikas und in die haitianischen Gemeinden New Yorks. Das Schwanken zwischen der Logik des magischen Weltbildes und der Logik des Weltbildes der Naturwissenschaften hält Fichtes Schreiben in einer permanenten Irritierbarkeit. Alles ist immer im Werden. Und dieses Werden ist griechischer Natur; so, wie das Tier-Werden in Kafkas Erzählungen mehr mit dem materialistischen aristotelischen Werden-Begriff zu tun hat als mit den Mythologien, die man dort anzutreffen sucht.
Jüdisch ist im Griechischen an Fichte wie Kafka "der anarchische Impetus gegenweltlicher Gottesvergewisserung in einer gottverlassenen Welt", wie Aleida Assmann einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt hat. Das ist, wenn man es mit Sprache zu tun hat, anstrengend, weil "Formen entstehen, wie sie die Gezeiten im Watt hervorrufen, für ein paar Stunden. Und die Tide nimmt sie wieder zurück." (Fichte) Vielleicht kann man sich deshalb weder Kafka noch Fichte alt und weise vorstellen. Der Schönheit schadet das nicht.
CORD RIECHELMANN
Hubert Fichte: "Die zweite Schuld". Glossen. Hrsg. von Roland Kay. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 339 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Schuld ist immer zweifellos: Nachgelassenes von Hubert Fichte
Das Kreuz mit der Erfahrung in der modernen wissenschaftlichen Welt ist die numerische Unzulänglichkeit jeder Empirie. Niemand ist "Sechs-Komma-so-und-so-viel-Milliarden". Der erste, der ein Gedicht mit "150 Millionen" betitelte, war der russische Revolutionsdichter Wladimir Majakowski. Damit glaubte er den Autorennamen geschrieben zu haben. Majakowski ist an der unaufgelösten Spannung zwischen dem subjektiven Faktor und der Gemeinschaftspraxis der frühen Sowjetunion zerbrochen. Das Individuum konnte nicht das gesellschaftliche Wesen werden, das die positiven Erlösungswissenschaften in Aussicht gestellt hatten. Die Wissenschaften und die Philosophie haben nur die Antworten der geoffenbarten Religionen widerlegt und durch das Periodensystem, die kopernikanische Welt ohne Himmel und das Atom ersetzt.
Die Fragen der Religionen haben die Wissenschaften unberührt gelassen. Dadurch sind die Menschen der Moderne in eine zweideutige Situation gebracht worden. Die Antworten der Wissenschaften haben ihre Grenzen; die Aussagen der Religionen sind unglaubhaft geworden. Für eine Literatur, für die Geschichte zuerst die Bewegung der Sprache ist, ist das eine komplizierte Konstellation, solange ihre Protagonisten die Wissenschaft nicht einfach ignorieren und trotzdem weiterhin an der sozialen Praxis der Sprache interessiert sind. Denn Religion war (oder ist) soziale Praxis im Ritual.
Es sind im deutschen Sprachraum vor allem zwei Autoren, nämlich Franz Kafka und Hubert Fichte, die in dem Spannungsfeld von subjektivem Ich und Außenwelt in der Alltagssprache jene Mischformen entdecken, die noch nicht Wissenschaft und nicht mehr Religion sind, aber ständig bedroht, von einer Seite kolonisiert zu werden. Daß sie beide jüdisch sind, ohne im Sinne ihrer Religion religiös zu sein, ist dabei kein Zufall.
Während aber Kafka vor allem in seinen Tiererzählungen aus dem Weltinnenraum der domestizierten Umwelt des modernen naturwissenschaftlichen Versuchs spricht - man kann zum Beispiel die Erzählung "Forschungen eines Hundes" als einen ruhigen, vernichtenden Kommentar eines sprechenden Tieres aus Pawlovs Lernlaboratorien lesen -, redet Fichte vom Weltaußenraum. "Aber ich wollte nicht nur weg. / Ich wollte auch wohin. / Ich wollte in die Welt. / Europa war mir kaum groß genug." So beschreibt Fichte in dem 1987 postum erschienenen Roman "Hotel Garni" seine Lage in der Bundesrepublik 1954.
"Hotel Garni" ist der erste Band des von Fichte auf neunzehn Bände angelegten, 1973 begonnenen Zyklus "Die Geschichte der Empfindlichkeit". Die teils Fragment gebliebenen Bücher der Empfindlichkeit sind jetzt mit dem gerade erschienenen Band "Die zweite Schuld" zum Abschluß gekommen. Daß "Die zweite Schuld" erst zwanzig Jahre, nachdem Fichte 1986 im Alter von fünfzig Jahren gestorben war, erscheinen konnte, hing mit einer Sperrfrist zusammen, die der Autor selbst festgelegt hatte.
Die vorliegenden siebzehn Bände bringen Fichtes verschiedene Formen der sprachlichen Weltverarbeitung zu einem gültigen Ausdruck. Polemiken, Kritiken, Glossen, Interviews gehören dabei genauso zu seinen Praktiken wie die mild-leichte Erzählung in dem Roman "Eine glückliche Liebe". "Die zweite Schuld" ist aber nicht nur der Abschluß eines literarischen Projekts, das noch in seinen poetischsten Feinstverästelungen dem Materialismus der Welt verpflichtet bleibt; sie markiert auf eine manchmal beklemmende Art den Grund für Fichtes Flucht in die Welt. Das ist wörtlich zu nehmen. Fichte hat 69 oft längere Reisen unter anderem in die Karibik, nach Brasilien, Afrika und New York unternommen. Begleitet wird er auf den Fahrten von der Fotografin Leonore Mau. Mau ist 1961, als sie sich endgültig für Fichte entscheidet und ihre beiden Kinder und ihren Mann deswegen verläßt, neunzehn Jahre älter als der bekennende Homosexuelle Fichte. Das Paar - das in der "Geschichte der Empfindlichkeit" zu Irma (Leonore) und Jäcki (Hubert) wird, ohne daß Vorbild und Abbild ineinander aufgehen - bildet sozusagen das Substrat der Empfindlichkeit. Darauf wächst sich das Material der Welt zum Text der Empfindlichkeit aus. Denn die Welt kommt über die Haut in den Körper, nicht über den Geist. Fichte geht einmal so weit, zu sagen, es sei nicht das Denken gewesen, das ihn in die Welt trieb, sondern allein sein homosexuelles Interesse an den Körpern. Und seine Geschichten sind voll von den Ernten seiner homosexuellen Spaziergänge, die er auch nach der Verbindung mit Mau nicht aufgibt. Seine Berichte aus den Klappen und Sexkinos der Welt sind allerdings nie feucht. Sie haben nichts von der Blut-und-Hoden-Romantik der einschlägigen Literatur. "Es gibt ein Verhaftetsein der Avantgarde an Blut und Boden", schreibt Fichte und meint es kritisch.
An derselben Stelle in dem New-York-Band "Die schwarze Stadt" bezeichnet Fichte den homosexuellen und von der Schönheit der nationalsozialistischen Soldaten faszinierten Schriftsteller Jean Genet als "auschwitztrunken", überführt er Susan Sontag der Leni-Riefenstahl-Liebe und kritisiert den Komponisten Hans Werner Henze für seine Kuba-Begeisterung. Henze, schreibt Fichte, fühle sich in Kuba "trotz der Zwangslager für Homosexuelle" wohl. Das "Kontingenzgeschöpf" (Rainald Goetz) Hubert Fichte weiß, daß staatliche Formationen einen wie ihn - homosexuell, unehelich geboren und nach der nationalsozialistischen Theorie Halbjude - jederzeit abholen können. Deshalb schockiert ihn auch die Berliner Mauer nicht, als er in den Ostteil der Stadt fährt, um den Schriftsteller Johannes Bobrowski zu besuchen.
Von Staaten erwartet Fichte nichts anderes, egal, ob sie sich sozialistisch nennen oder von Sozialdemokraten geführt werden. "Ich kann die Schwulen nicht ausstehen", kommentiert der "Biedermann Heinemann" in der "Bild"-Zeitung die Abschaffung des Paragraphen 175 durch Willy Brandt. In Fichtes Worten ist Brandt "ein riesenhafter unbeweglicher stummer Mann, der sich durch die Intrigen schiebt". Die Politik in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren kommt nur über die Zeitungen, die Fichte liest oder in denen er schreibt, in "Die zweite Schuld". Die wie Günter Grass in die Politik eingreifenden Kollegen sollen Fichte mit ihren "Trivialmythen" in Ruhe lassen. Ein Schriftsteller kann in Sachen Politik nicht mitreden, weil man "an die Informationen gar nicht rankommen" könne, entgegnet Fichte dem kritischen Kollegen Hermann Peter Piwitt. Piwitt war 1963 wie Fichte Teilnehmer eines mehrmonatigen Schreibkurses für junge Schriftsteller am Literarischen Colloquium in West-Berlin unter der Anleitung von Walter Höllerer, Günter Grass, Peter Weiss und anderen.
Die literarische Szene in West-Berlin und die Gruppe 47 in den Jahren von 1963 bis 1965 bilden den Hintergrund der "Zweiten Schuld". In unmittelbarer Nähe des Horror-Orts der Wannsee-Konferenz, auf der die Ausrottung der europäischen Juden beschlossen wurde, und in zeitlicher Nähe der Auschwitz-Prozesse bezieht sich der Titel "Die zweite Schuld" natürlich auch auf den Nationalsozialismus. Darin schwingt aber noch etwas anderes mit, das für Fichte programmatisch ist. Der Gegenbegriff zur zweiten Schuld ist die zweite Naivität - eine in der Münchner Boheme um Erich Mühsam und Roda Roda nach dem Ersten Weltkrieg umgehende Forderung an den Schreiber. Man müsse sich eine zweite Naivität aufbauen, um wieder unmittelbar zum sprachlichen Ausdruck zurückzufinden, hieß es. Fichtes Titel sagt dazu: Nein, das geht nicht. Wenn man einmal weiß, wie die Bohnen in die Schoten kommen, kann man dahinter nicht zurückgehen.
"Die zweite Schuld" ist voll von Invektiven gegen "philosophisch, expressionistisch, dadaistisch, konstruktivistisch hochgestylten Klatsch". Der Gewalt des Expressionismus fühlt sich Fichte nicht gewachsen. Er geht von ein paar Essentialia aus, die er weder neutralisieren noch einklagen will und kann. Sie sind da und heißen: Es gibt ein Gewissen, und deshalb kann man Schuld nicht diskutieren, nur anerkennen. Genauso weiß er, daß das Ich kein Denkgegenstand ist und in seiner Subjektivität keinen Zugang zum Absoluten hat. "Ich bin für Ichs", schreibt er an den Anfang der "Zweiten Schuld". Das hat aber weniger mit den Aufspaltungen der Identität in verschiedene Interessen- und Berufsmuster zu tun als mit einer Fundamentalkritik an einer aufgeweichten Auffassung der christlichen Religion.
Deshalb geht Fichte hinter die christliche Erfahrung zurück und findet sein Programm bei Herodot formuliert. "Magie, Religion erscheinen bei ihm als Gegenstand der Forschung", schreibt er über Herodot und meint sich selbst. Daher sucht er die Rituale der synkretistischen Religionen und ihrer Kulte zu verstehen und reist nach Afrika, in die Favelas Südamerikas und in die haitianischen Gemeinden New Yorks. Das Schwanken zwischen der Logik des magischen Weltbildes und der Logik des Weltbildes der Naturwissenschaften hält Fichtes Schreiben in einer permanenten Irritierbarkeit. Alles ist immer im Werden. Und dieses Werden ist griechischer Natur; so, wie das Tier-Werden in Kafkas Erzählungen mehr mit dem materialistischen aristotelischen Werden-Begriff zu tun hat als mit den Mythologien, die man dort anzutreffen sucht.
Jüdisch ist im Griechischen an Fichte wie Kafka "der anarchische Impetus gegenweltlicher Gottesvergewisserung in einer gottverlassenen Welt", wie Aleida Assmann einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt hat. Das ist, wenn man es mit Sprache zu tun hat, anstrengend, weil "Formen entstehen, wie sie die Gezeiten im Watt hervorrufen, für ein paar Stunden. Und die Tide nimmt sie wieder zurück." (Fichte) Vielleicht kann man sich deshalb weder Kafka noch Fichte alt und weise vorstellen. Der Schönheit schadet das nicht.
CORD RIECHELMANN
Hubert Fichte: "Die zweite Schuld". Glossen. Hrsg. von Roland Kay. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 339 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Helmut Böttiger sagt "wow!" Erst scheint es gar nicht so sicher, ob ihm dieser letzte Band von Hubert Fichtes postum veröffentlichter mächtiger "Geschichte der Empfindlichkeit" überhaupt gefallen hat. Schließlich erkennt er in in der "zweiten Schuld" zunächst eine "bloße Materialsammlung", herausgeberisch ungepflegt sozusagen, und die im Untertitel angekündigten Glossen sucht Böttiger auch vergebens. Bei Fichte ist eben alles anders. Doch nicht schlechter. Böttiger wühlt sich durch die fragmentarischen Tonbandprotokolle und Interviews und entdeckt schließlich nicht nur "Ansätze zu einer Selbstvergewisserung", sondern auch "unschätzbare Einblicke" in die Frühzeit des deutschen Literaturzirkus. Direkt und subjektiv geht das vonstatten und enthüllt - Böttiger traut seinen Augen kaum - einen frühen Generationenkonflikt zwischen Fichte und Grass. Das große Interview mit Walter Höllerer ist für Böttiger nichts weniger als "eine Sensation", ein Vademekum über Kunst und Moral. Das Buch als Ganzes erscheint ihm dann auch als "außergewöhnliches" historisches Dokument und erstrangige Quelle.
© Perlentaucher Medien GmbH
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