Der Band mit neuen Gedichten aus den letzten beiden Jahren erscheint, Karl Krolows achtzigsten Geburtstag zu ehren: Fünfundfünfzig Jahre einer von Grund auf dichterischen Existenz, die sich nicht nur ermessen läßt "an der Fülle der Welt und dem Notstand der Zeit", auch an der Fülle und am Notstand des eigenen Lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.1995Ruhende Libelle in der Luft
Nichts weiter als Gedichte: Karl Krolows zweite Zeit
Über die Vorzüge und Nachteile des langen Gedichtes, verglichen mit dem kurzen, hat man in den sechziger Jahren einmal durchaus ernsthaft gestritten; auch Karl Krolow zählte damals zu den Disputanten. Wann jedoch wären jemals die Unterschiede zwischen dem schnell geschriebenen und dem lange erarbeiteten Gedicht zum Gegenstand fachlicher Abwägung geworden? Auch zu einer solchen lange ausstehenden Diskussion hätte Karl Krolow etwas beizusteuern: "Ich bin nicht der Mann der langsamen Arbeit, des geduldigen Bosseln (. . .). Ich möchte es eher eine ,Überrumpelung' des Stoffes nennen, die ich treibe. Assoziationen müssen genötigt werden. Dadurch kommt eine gewisse Intensivierung des Arbeitsprozesses zustande. Ich will nicht leugnen, daß er dadurch gelegentlich etwas Hektisches bekommt."
Ob man dem heute achtzigjährigen Krolow unrecht tut, wenn man ihn so zitiert? Vielleicht gilt ja für diese Äußerung aus dem Jahr 1955, was der Lyriker im Eingangsgedicht seines neuen Bandes "Die zweite Zeit" über "Die Worte" schreibt: "Glaubt man sie lange vergessen, / tauchen sie wieder auf, / wird man an ihnen gemessen / im sterblichen Lebenslauf." Andererseits scheint die gewaltige lyrische Produktion Krolows über ihre surrealistischen, alltagssprachlichen und altersthematischen Schaffensphasen hinweg durch nichts so sehr gekennzeichnet wie jene "Überrumpelung des Stoffes" und die ihr vorausgehende nervöse Reizbarkeit in Wahrnehmungsbelangen.
Unverstelltheit und die Frische des spontanen Zugriffs einerseits, Flüchtigkeit und der (bei Krolow kaum zu hörende) Aufschrei der genötigten Assoziation andererseits sind die Licht- und Schattenseiten des Verfahrens. Das Risiko, mit eher kurzlebigen Wortschöpfungen der Vergangenheit in Verbindung gebracht zu werden, hat Krolow dabei stets auf sich genommen. Auch daß "Die zweite Zeit" eine Kapitelüberschrift des frühen Bandes "Heimsuchung" (1948) zum Titel hat, deutet auf ein ungebrochenes Verhältnis zum eigenen Werk.
"Leichtigkeit" lautet der bekannte Schlüsselbegriff, mit dem Krolow selbst den transitorischen Aspekt seines Schreibens bezeichnete. Der Leichtigkeit Gewicht beizumessen heißt im Falle dieses Dichters, daß auch dem Flüchtigen seiner Bedeutung für das Bleibende wegen Platz eingeräumt wurde. So war Krolow immer schon sich selbst historisch, ehe er es für die Fachwelt werden konnte; seinen Lesern präsentierte er sich aus sicherer Selbstdistanz. Das Gedicht "Die Worte", welches "Die zweite Zeit" einleitet, formuliert dies als eine unter vielen poetologischen Äußerungen Krolows mit bezeichnender Schärfe. Hier haben wir sie also wieder, die für diesen Autor typische Mischung aus Kälte und Vitalität, Virtuosität und Geläufigkeit:
Wider alle Vernunft
lebte am Ende er so:
von einer geistigen Brunft,
die in Geschriebenes floh,
in eine zweite Zeit,
der er die Worte lieh,
Worte und Sätze von weit,
wie ein Echo oder wie
etwas, das sonderbar
aus einer Fremde kam,
in der alles anders war
und ihm die Sinne benahm.
Es hat seine Richtigkeit mit "Worten und Sätzen wie Echos". Der Nachhall einer jahrhundertealten deutschen Reimtradition ist in rund fünfzig dieser mehr als hundert Stücke unüberhörbar. Wie kaum ein zweiter hat Krolow seit seiner Wiederentdeckung der gebundenen Form in "Herbstsonett mit Hegel" (1981) dem Reim die Exklusivität auszutreiben und die heimliche Komik zu nehmen gewußt.
Es geschah dies um den Preis einer gewissen Gewöhnlichkeit: Auch in den neuen Gedichten finden nur die nächstliegenden Gleichklänge Platz. Die Distanz zum schlichten Volksliedton schafft ein Metrum, das der Satzmelodie planmäßig zuwiderläuft. Ein scheinbar selbstvergessenes, trancehaftes Dahinmurmeln, neben dem sich gelegentliche Schärfe um so wirkungsvoller entfaltet, ist das Resultat solcher Synkopierung. Selbst seinen ältesten Themen gewinnt Krolow auf diese Weise überraschend neue Substanz ab - und sei es die Substanz der Luft:
Der Sommer - eine jagende Libelle
ruht plötzlich auf der unbewegten Luft.
Ich will
es so: mein Auge. Auf der Stelle
verhält sich eine heiße Landschaft still.
"Die zweite Zeit" bricht bei soviel jagendem Stillstand allerdings nicht an, und ein Vers wie "Ich spüre: meine Sprache wird fremd" bleibt ein uneingelöstes Versprechen. Vorerst wartet Krolow mit Altvertrautem auf. Dazu zählt die nüchterne Bilanz eines Lebens am Rande des Todes ("von Tisch und Stuhl und Buch / vorm Sterbetag umgeben"), dazu zählt die paradigmatisch zugespitzte Zeiterfahrung des Ennui ("Immer dieselbe Wand gegenüber / von unverändertem Grau") und der befremdete Blick auf das Treiben der Zeitgenossen ("Körperöffnungen / bieten überall sich an, / und jeder nimmt sein Teil vom Weiterleben") ebenso wie die Erinnerung an eigene Zeitgenossenschaft ("Was man ,früher' nennt, / war schließlich auch deine Zeit, / mit Gespräch und Genuß, den man kennt, / und noch nicht mit dir entzweit") sowie ein siebenteiliger Zyklus, der das "Vergessen" all dieser Themen zum Inhalt hat.
Auf Krolows fast schon sedativ wirkende Diskretion ist dabei meistens Verlaß. Nicht die Drastik des körperlichen Verfalls à la Ernst Jandl ist sein Gegenstand, sondern der sanfte Überdruß dessen, der weiß, daß ihn nur wenig Neues noch erwartet. Es gereicht dem Band nicht ausnahmslos zum Vorteil, daß sich dieses Gefühl zumindest auf den langjährigen Leser Krolows fast bruchlos überträgt:
Ade und wie oft noch: Ade.
Ich merke, daß es stimmt,
wenn mit der Zeit ich vergeh'
und die Zeit kein Ende nimmt.
Eine Ausnahme von der Diskretion machen, wie bereits in "Ich höre mich sagen", die zeitkritischen Gedichte. "Die Buchhalter mit Blut an den Händen" gehören nicht erst seit dem Langgedicht "Herodot oder der Beginn von Geschichte" zum festen Personal Krolowscher Lyrik. Was mit Blick auf den historischen Prozeß seine pathetische Bedeutung haben mag, wirkt als Gegenwartsanalyse aber allenfalls oberflächlich und beifallheischend: "Über alles in der Welt // die D-Mark, die richtigen Zinsen / und das richtige Kapital / Verstecke lieber dein Grinsen, / die Arbeitslosenzahl // ist hinter verschlossenen Tü-
ren, / wo jeder es besser weiß, / kein Thema (. . .)".
Man ist versucht, Krolow eingedenk solcher Verse seine eigene Poetologie ins Gedächtnis zu rufen: "Ich war nicht für diese schweißgebadeten, absichtsvollen Gedichte, die sich mit dem jeweils Notwendigen befaßten", hieß es 1971 in dem Aufsatz "Nichts weiter als Gedichte". Aber er entzieht sich eben auch hier allen Festlegungen und entflieht versiert ins Flüchtige. Mit "Ich höre mich sagen" hat Krolow 1992 seinen definitiven Altersband vorgelegt. Mit "Die zweite Zeit" zeigt er nun, daß es Definitives bei ihm nicht gibt. Karl Krolow bleibt in Bewegung selbst dort, wo er stagniert. Er hält sein Schreiben in Gang. STEFFEN JACOBS
Karl Krolow: "Die zweite Zeit". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 126 S., geb., 32,- DM.
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Nichts weiter als Gedichte: Karl Krolows zweite Zeit
Über die Vorzüge und Nachteile des langen Gedichtes, verglichen mit dem kurzen, hat man in den sechziger Jahren einmal durchaus ernsthaft gestritten; auch Karl Krolow zählte damals zu den Disputanten. Wann jedoch wären jemals die Unterschiede zwischen dem schnell geschriebenen und dem lange erarbeiteten Gedicht zum Gegenstand fachlicher Abwägung geworden? Auch zu einer solchen lange ausstehenden Diskussion hätte Karl Krolow etwas beizusteuern: "Ich bin nicht der Mann der langsamen Arbeit, des geduldigen Bosseln (. . .). Ich möchte es eher eine ,Überrumpelung' des Stoffes nennen, die ich treibe. Assoziationen müssen genötigt werden. Dadurch kommt eine gewisse Intensivierung des Arbeitsprozesses zustande. Ich will nicht leugnen, daß er dadurch gelegentlich etwas Hektisches bekommt."
Ob man dem heute achtzigjährigen Krolow unrecht tut, wenn man ihn so zitiert? Vielleicht gilt ja für diese Äußerung aus dem Jahr 1955, was der Lyriker im Eingangsgedicht seines neuen Bandes "Die zweite Zeit" über "Die Worte" schreibt: "Glaubt man sie lange vergessen, / tauchen sie wieder auf, / wird man an ihnen gemessen / im sterblichen Lebenslauf." Andererseits scheint die gewaltige lyrische Produktion Krolows über ihre surrealistischen, alltagssprachlichen und altersthematischen Schaffensphasen hinweg durch nichts so sehr gekennzeichnet wie jene "Überrumpelung des Stoffes" und die ihr vorausgehende nervöse Reizbarkeit in Wahrnehmungsbelangen.
Unverstelltheit und die Frische des spontanen Zugriffs einerseits, Flüchtigkeit und der (bei Krolow kaum zu hörende) Aufschrei der genötigten Assoziation andererseits sind die Licht- und Schattenseiten des Verfahrens. Das Risiko, mit eher kurzlebigen Wortschöpfungen der Vergangenheit in Verbindung gebracht zu werden, hat Krolow dabei stets auf sich genommen. Auch daß "Die zweite Zeit" eine Kapitelüberschrift des frühen Bandes "Heimsuchung" (1948) zum Titel hat, deutet auf ein ungebrochenes Verhältnis zum eigenen Werk.
"Leichtigkeit" lautet der bekannte Schlüsselbegriff, mit dem Krolow selbst den transitorischen Aspekt seines Schreibens bezeichnete. Der Leichtigkeit Gewicht beizumessen heißt im Falle dieses Dichters, daß auch dem Flüchtigen seiner Bedeutung für das Bleibende wegen Platz eingeräumt wurde. So war Krolow immer schon sich selbst historisch, ehe er es für die Fachwelt werden konnte; seinen Lesern präsentierte er sich aus sicherer Selbstdistanz. Das Gedicht "Die Worte", welches "Die zweite Zeit" einleitet, formuliert dies als eine unter vielen poetologischen Äußerungen Krolows mit bezeichnender Schärfe. Hier haben wir sie also wieder, die für diesen Autor typische Mischung aus Kälte und Vitalität, Virtuosität und Geläufigkeit:
Wider alle Vernunft
lebte am Ende er so:
von einer geistigen Brunft,
die in Geschriebenes floh,
in eine zweite Zeit,
der er die Worte lieh,
Worte und Sätze von weit,
wie ein Echo oder wie
etwas, das sonderbar
aus einer Fremde kam,
in der alles anders war
und ihm die Sinne benahm.
Es hat seine Richtigkeit mit "Worten und Sätzen wie Echos". Der Nachhall einer jahrhundertealten deutschen Reimtradition ist in rund fünfzig dieser mehr als hundert Stücke unüberhörbar. Wie kaum ein zweiter hat Krolow seit seiner Wiederentdeckung der gebundenen Form in "Herbstsonett mit Hegel" (1981) dem Reim die Exklusivität auszutreiben und die heimliche Komik zu nehmen gewußt.
Es geschah dies um den Preis einer gewissen Gewöhnlichkeit: Auch in den neuen Gedichten finden nur die nächstliegenden Gleichklänge Platz. Die Distanz zum schlichten Volksliedton schafft ein Metrum, das der Satzmelodie planmäßig zuwiderläuft. Ein scheinbar selbstvergessenes, trancehaftes Dahinmurmeln, neben dem sich gelegentliche Schärfe um so wirkungsvoller entfaltet, ist das Resultat solcher Synkopierung. Selbst seinen ältesten Themen gewinnt Krolow auf diese Weise überraschend neue Substanz ab - und sei es die Substanz der Luft:
Der Sommer - eine jagende Libelle
ruht plötzlich auf der unbewegten Luft.
Ich will
es so: mein Auge. Auf der Stelle
verhält sich eine heiße Landschaft still.
"Die zweite Zeit" bricht bei soviel jagendem Stillstand allerdings nicht an, und ein Vers wie "Ich spüre: meine Sprache wird fremd" bleibt ein uneingelöstes Versprechen. Vorerst wartet Krolow mit Altvertrautem auf. Dazu zählt die nüchterne Bilanz eines Lebens am Rande des Todes ("von Tisch und Stuhl und Buch / vorm Sterbetag umgeben"), dazu zählt die paradigmatisch zugespitzte Zeiterfahrung des Ennui ("Immer dieselbe Wand gegenüber / von unverändertem Grau") und der befremdete Blick auf das Treiben der Zeitgenossen ("Körperöffnungen / bieten überall sich an, / und jeder nimmt sein Teil vom Weiterleben") ebenso wie die Erinnerung an eigene Zeitgenossenschaft ("Was man ,früher' nennt, / war schließlich auch deine Zeit, / mit Gespräch und Genuß, den man kennt, / und noch nicht mit dir entzweit") sowie ein siebenteiliger Zyklus, der das "Vergessen" all dieser Themen zum Inhalt hat.
Auf Krolows fast schon sedativ wirkende Diskretion ist dabei meistens Verlaß. Nicht die Drastik des körperlichen Verfalls à la Ernst Jandl ist sein Gegenstand, sondern der sanfte Überdruß dessen, der weiß, daß ihn nur wenig Neues noch erwartet. Es gereicht dem Band nicht ausnahmslos zum Vorteil, daß sich dieses Gefühl zumindest auf den langjährigen Leser Krolows fast bruchlos überträgt:
Ade und wie oft noch: Ade.
Ich merke, daß es stimmt,
wenn mit der Zeit ich vergeh'
und die Zeit kein Ende nimmt.
Eine Ausnahme von der Diskretion machen, wie bereits in "Ich höre mich sagen", die zeitkritischen Gedichte. "Die Buchhalter mit Blut an den Händen" gehören nicht erst seit dem Langgedicht "Herodot oder der Beginn von Geschichte" zum festen Personal Krolowscher Lyrik. Was mit Blick auf den historischen Prozeß seine pathetische Bedeutung haben mag, wirkt als Gegenwartsanalyse aber allenfalls oberflächlich und beifallheischend: "Über alles in der Welt // die D-Mark, die richtigen Zinsen / und das richtige Kapital / Verstecke lieber dein Grinsen, / die Arbeitslosenzahl // ist hinter verschlossenen Tü-
ren, / wo jeder es besser weiß, / kein Thema (. . .)".
Man ist versucht, Krolow eingedenk solcher Verse seine eigene Poetologie ins Gedächtnis zu rufen: "Ich war nicht für diese schweißgebadeten, absichtsvollen Gedichte, die sich mit dem jeweils Notwendigen befaßten", hieß es 1971 in dem Aufsatz "Nichts weiter als Gedichte". Aber er entzieht sich eben auch hier allen Festlegungen und entflieht versiert ins Flüchtige. Mit "Ich höre mich sagen" hat Krolow 1992 seinen definitiven Altersband vorgelegt. Mit "Die zweite Zeit" zeigt er nun, daß es Definitives bei ihm nicht gibt. Karl Krolow bleibt in Bewegung selbst dort, wo er stagniert. Er hält sein Schreiben in Gang. STEFFEN JACOBS
Karl Krolow: "Die zweite Zeit". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 126 S., geb., 32,- DM.
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