Zwei Mädchen, Zwillinge, hübsch, unzertrennlich, begabt, die "Sterntaler" genannt.
Sie wachsen im Kassel der Fünfziger auf, studieren Kunst und machen Filme in den
Sechzigern, gewinnen Preise, stürzen sich in die Politik und ziehen weiter nach Rom,
Anfang der Siebziger. Dort tauchen sie ein in die Tempel der High Society und in
Abbruchhäuser, die der Mafia gehören. Sie sind die Musen von Künstlern und selbst
Künstlerinnen, ergriffen von der Vision, "Geist und Geld zu küssen".
Da begegnen die beiden ihrem amerikanischen Traum: Paul Getty, dem Enkel eines
Milliardärs. Sie ziehen mit ihm zusammen, aber bald danach wird der junge Getty
entführt, ihm wird, um die Zahlung von Lösegeld zu erpressen, das Ohr abgeschnitten,
und das Leben der Zwillinge ändert sich über Nacht.
Zwischen Amerika und Europa begeben sich die beiden Frauen, Sucherinnen, auf
verwegene Reisen - von einem Abenteuer zum anderen, von einer Herausforderung zur
nächsten, getrieben von der Sehnsucht, sich ausschweifend endlich selbst zu finden.
Dieses Buch erzählt ein Leben, das sich ein Romancier nicht hätte ausdenken können, er-
zählt von der Macht und Tragik des Zwilling-Seins und davon, dass es von der Hölle zum
Himmel und umgekehrt nicht weit ist.
Sie wachsen im Kassel der Fünfziger auf, studieren Kunst und machen Filme in den
Sechzigern, gewinnen Preise, stürzen sich in die Politik und ziehen weiter nach Rom,
Anfang der Siebziger. Dort tauchen sie ein in die Tempel der High Society und in
Abbruchhäuser, die der Mafia gehören. Sie sind die Musen von Künstlern und selbst
Künstlerinnen, ergriffen von der Vision, "Geist und Geld zu küssen".
Da begegnen die beiden ihrem amerikanischen Traum: Paul Getty, dem Enkel eines
Milliardärs. Sie ziehen mit ihm zusammen, aber bald danach wird der junge Getty
entführt, ihm wird, um die Zahlung von Lösegeld zu erpressen, das Ohr abgeschnitten,
und das Leben der Zwillinge ändert sich über Nacht.
Zwischen Amerika und Europa begeben sich die beiden Frauen, Sucherinnen, auf
verwegene Reisen - von einem Abenteuer zum anderen, von einer Herausforderung zur
nächsten, getrieben von der Sehnsucht, sich ausschweifend endlich selbst zu finden.
Dieses Buch erzählt ein Leben, das sich ein Romancier nicht hätte ausdenken können, er-
zählt von der Macht und Tragik des Zwilling-Seins und davon, dass es von der Hölle zum
Himmel und umgekehrt nicht weit ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2008Versuch über das geglückte Leben
Sie hatten die Mission, Schönheit in die Welt zu bringen: Jutta Winkelmann und Gisela Getty erinnern sich
Sie heißen Schmidt und kommen aus Kassel. Schon früh im Leben ist ihnen klar: die Welt wird sie kennenlernen. Denn sie sind die absolute Schönheit, der Wahnsinn und der Glanz. Sie sind unendlich selbstverliebt und deswegen absolut sicher, dass auch die Welt sie lieben wird. Und sie sind zu zweit; Gisela und Jutta Schmidt, bald schon Gisela Getty und Jutta Winkelmann, die Zwillinge mit einer Mission. Ihren Auftrag erhalten sie nach einer visionären Nacht des Glücks und der Erlösung am Strand von Sperlonga: "Nach dieser Erfahrung verstanden sich die Zwillinge als die Auserwählten. Sie mussten jetzt die Liebe und die Schönheit, die am Verschwinden waren, wieder in die Welt bringen. Die Tür, die sich Achtundsechzig geöffnet hatte, war ins Schloss gefallen. Nun hielten die beiden den Schlüssel in Händen. Sie waren die Lieblingskinder Gottes. Er hatte sie mit einer Mission betraut. Deren Erfüllung stand aus."
Gisela Getty und Jutta Winkelmann haben, mit der Unterstützung des Kasseler Schriftstellers Jamal Tuschik, die Geschichte ihres Lebens aufgeschrieben. Es ist die Geschichte der Sonnenseite von 1968, die Geschichte einer Welteroberung, die Geschichte von Glanz und Glamour und Glück, von Elend, Drogen, Selbstsucht und Selbstüberschätzung, von der Liebe der Welt zu einem eitlen Zwillingspaar aus Deutschland. Und von der Liebe dieses Zwillingspaars zu sich selbst.
Der Roman einer Epoche.
Er beginnt mit jener Vision am Strand von Sperlonga, und sofort ist der Leser mittendrin in diesem Rausch aus Glück, Selbstentblößung, Wahnsinn und Esoterik: "Wir sind aufgehoben in der Ewigkeit. Und Ewigkeit, das ist Liebe, Schönheit, Gott. Ewigkeit ist absolute Stille. So trete ich denn vor Gott. Es gibt mich nicht mehr." Ja - diese Erfahrung hat jetzt nicht nur etwas mit dem Meer zu tun und dem Glück in Italien, sondern vor allem mit den chemischen Substanzen, die die Zwillinge da vorher eingeworfen haben. Und man kann sagen, dass Drogen auf den nächsten 380 Seiten ihres Lebens eine gewisse Rolle spielen werden.
Die doppelten Sterntaler
Aber erst mal geht es ab nach Kassel, in die ewige Kleinbürgerwelt der Familie Schmidt. Der Vater hängt dem alten Nazideutschland nach, malt Soldatenbilder aus der alten Zeit und weigert sich, im neuen, gründlich verachteten Staat eine Arbeit anzunehmen. Die Mutter hält heldenhaft Familie und Geld zusammen. Die Zwillinge - lieben sich von Anfang an: "Nach ihren eigenen Begriffen sind die Zwillinge vollendet auf die Welt gekommen . . . ungemein heil . . . als illuminierte Wesen, die wie Kinder bloß aussehen. Die menschlichen Sterntaler brauchen allein sich, nur sich."
Ihr Unglück heißt Kassel, und leider muss sich der Leser die ersten hundert Seiten mit den Zwillingen quälen. Sicher war es lebensdramaturgisch notwendig, eine lange Leidenszeit in einer verachteten Umgebung durchlebt zu haben. Dem Leser hätte man gut die Hälfte davon ersparen dürfen. Vor allem angesichts der unendlichen Erlebnisfülle, die sich im weiteren Verlauf des Buchs zusammendrängt. Aber irgendwann dringt eine Stimme aus einer Drogerie in Kassel ans Ohr. Eine Zauberstimme aus einer anderen Welt. Aus einer Welt, die beide ruft. "Zu der wir gehören, immer schon, wir haben es nur nicht gewusst, aber unsere Sehnsucht nach ihr hat uns genau zu diesem Zeitpunkt an diese Stelle von Kassel, also zur Braunsbergstraße geführt."
Es ist die Stimme von Bob Dylan, die sie da zum ersten Mal im Radio hören. Und es ist der Moment ihrer Erweckung. Und wie die Zwillinge hier einerseits das zufällige Vorbeischlendern an einem Drogeriemarkt mit Radiomusik zu einem schicksalhaften Moment heraufmystifizieren (sie hätten die Stimme Bob Dylans sonst mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in den nächsten Tagen auch an einem anderen Ort hören können); und wie sie dies andererseits so entschlossen als Zeichen deuten und gegen Ende des Buches tatsächlich eines Nachts auf einer Party Bob Dylan treffen, der augenblicklich von beiden verzaubert sein wird - das ist der Irrsinn dieses Buches.
Aber zunächst geht es nach Berlin, das Jahr 1967, das Erlebnis der Befreiung und der Gemeinschaft, Politik und Demonstrationen, erste Gewalt und immer die Sehnsucht nach Liebe und dem Süden, nach einem anderen Leben im Glanz. Die Freiheit wird schnell durch erste Schwangerschaften bedroht. Jutta lässt bei einem brutalen Engelsmacher eine Abtreibung vornehmen. Gisela wird ihr Kind bekommen. Kaum ist es da, gibt sie es bei ihren Eltern in Kassel ab und zieht weiter über die Schweiz nach Italien. Sie gibt es ab bei jenen Eltern, die die Zwillinge zuvor immer wieder als Nazis beschimpft und dem Vater mit dem Hinweis "ihr habt Millionen Juden vergast, von dir lasse ich mir überhaupt nichts sagen" jedes Erziehungsrecht abgesprochen haben. Jetzt überlässt man ihnen den frischen Säugling wie eine ausgespuckte Erbse. Sie haben schließlich eine Mission: "Wir müssen Verantwortung übernehmen und anderen zu erkennen helfen, wer sie in Wirklichkeit sind", heißt es nur wenige Seiten später.
Und natürlich ist das eine Bruchstelle im Buch und in den zwei Leben, die es beschreibt. Denn was soll das für eine lächerliche Weltverantwortung sein, die am Strand liegt, Drogen nimmt, von Welteinheit träumt und dabei das eigene Kind als lästigen Freiheitsräuber aus dem selbstbestimmten Leben schiebt? Wer die Welt erobern will, kann sich nicht mit Säuglingen aufhalten. Die Zwillinge schreiben das auf, ohne sich selbst zu schonen.
Und der Flug durch das All der Selbstverwirklichung geht jetzt erst richtig los. Sie fahren nach Rom, und alles scheint auf wundersame Weise von selbst zu gehen. Federico Fellini sucht Schauspielerinnen für einen neuen Film? Aus Tausenden werden die beiden auserwählt. Fellinis Assistent versucht verzweifelt, den Zwillingen aus Deutschland die Augen für das unfassbare Glück zu öffnen, das es bedeutet, von Fellini ausgewählt zu werden. Ihr Kommentar: "Er ahnt nicht, dass wir gerade in Spelonga von Gott auserwählt worden sind. Warum dann nicht von Fellini?"
So geht es weiter, von Glück zu Glück. Man liest immer weiter und fasst es nicht. Es ist wie ein Zaubermärchen aus den Jahren nach 1968, die Zwillinge treffen die Stars der Welt, die sie magisch anzuziehen scheinen. Der Multimillionärsenkel Paul Getty III tritt auf und verliebt sich in Gisela. Die beiden heiraten, Jutta lässt die Schwester gewähren, unter der Bedingung, dass sie dafür später Bob Dylan bekommt. Dylan bleibt das Licht in der Ferne, das große Ziel.
Hopper mit Gewehr
Weiter also, nach Amerika. Auf einer Party treffen sie Dennis Hopper, und die Liebesszenen mit ihm gehören in diesem an Abgründen reichen Buch zu den abgründigsten. Von drei nackten Frauen umgeben, verliert er beinahe den Verstand, brüllt Verwünschungen und Mordphantasien heraus. "Holt mir mein Maschinengewehr, na los, macht schon!", was Gisela sogleich erledigt. Und Hopper bricht heulend zusammen: "Du bleibst immer cool, nichts berührt dich. Du und deine Schwester, ihr denkt, ihr seid was ganz Besonderes", schreit er das Kasseler Mädchen an. Und trifft damit ins Herz. Die Kälte der totalen Selbstliebe, die sich nur in der Schwester spiegeln kann, ist eines der Dramen dieses Buches. Von allen geliebt zu werden und doch selbst nicht lieben zu können, ist die Hölle, die dieser doppelte Lebensroman beschreibt
Und schließlich endlich: Dylan. Eine Nacht, eine Party, ein Pool: "Bobs Interesse an mir ist so unmittelbar wie mein Interesse an ihm. Wir versenken uns ineinander - und ich habe die erregende Empfindung, Jakobs Leiter hinaufzusteigen, Sprosse für Sprosse immer weiter und höher, bis ich das Leben ungeteilt sehen kann . . ." Die Vision vom Strand von Sperlonga, die Zauberstimme aus der Drogerie - alles wird wahr. Alles erfüllt sich. Aber wie? "Meine Hand nähert sich seinem Gesicht - das sehe ich selbst mit Erstaunen - und berührt kurz seinen Schmetterlingsmund. Plötzlich ist Dylans Stimme ganz nah: ,Ihr seid natürlich Nazis.'" Sagt er. Die Stimme. Die Sehnsuchtsstimme. Was für ein Schock! Nein, nein, beeilt sich Jutta zu erklären. "Tochter Hitlers" erklärt sie. Andere Generation, unsere Eltern, die Alten, doch nicht wir! "Ich spüre meine Hand, gehalten von einem jüdischen Sänger. Ich schwitze und meine Zähne schlagen jetzt hörbar auf. ,Hörst du? Ich kann nichts dafür.'" Doch Dylan bleibt dabei: "You have to be anti-semite", beharrt er. Und Jutta: ",Yeah, I have to be . . .', stammle ich. Es ist ungeheuerlich. Ich kann nicht antworten. Wie ein Blitz fährt es in mich. Haben wir aus dem Hass der Eltern gelernt und sind wir wirklich bessere Menschen? Plötzlich friere ich und werde unsicher. Dylan ergreift meine Hand: ,No fear. You get through that. With me. I've seen something deeper.'"
Doch sie werden da nicht gemeinsam hindurchgehen. Es bleibt das einzige Treffen mit dem so lang Verehrten. Der Rausch vergeht. Die Sonnenzwillinge der 68er-Generation sind von Glück zu Glück gerast, von Liebe zu Liebe, die "einsetzende Depression einer ekstatischen Generation" steht am Ende des Buches. Und ein Rat des Kommunarden Rainer Langhans, den sie verehrten wie Bob Dylan und zu dessen "Harem" sie heute noch gehören: "Erzähl dir deine Geschichte, bis sie schön ist, bis du die Handelnde bist, die alles genauso wollte, wie es geschehen ist. Dann ist es eine gute Geschichte." Den Rat haben sie befolgt.
VOLKER WEIDERMANN
Gisela Getty, Jutta Winkelmann, Jamal Tuschik: "Die Zwillinge oder Vom Versuch Geist und Geld zu küssen". Weissbooks 2008, 385 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sie hatten die Mission, Schönheit in die Welt zu bringen: Jutta Winkelmann und Gisela Getty erinnern sich
Sie heißen Schmidt und kommen aus Kassel. Schon früh im Leben ist ihnen klar: die Welt wird sie kennenlernen. Denn sie sind die absolute Schönheit, der Wahnsinn und der Glanz. Sie sind unendlich selbstverliebt und deswegen absolut sicher, dass auch die Welt sie lieben wird. Und sie sind zu zweit; Gisela und Jutta Schmidt, bald schon Gisela Getty und Jutta Winkelmann, die Zwillinge mit einer Mission. Ihren Auftrag erhalten sie nach einer visionären Nacht des Glücks und der Erlösung am Strand von Sperlonga: "Nach dieser Erfahrung verstanden sich die Zwillinge als die Auserwählten. Sie mussten jetzt die Liebe und die Schönheit, die am Verschwinden waren, wieder in die Welt bringen. Die Tür, die sich Achtundsechzig geöffnet hatte, war ins Schloss gefallen. Nun hielten die beiden den Schlüssel in Händen. Sie waren die Lieblingskinder Gottes. Er hatte sie mit einer Mission betraut. Deren Erfüllung stand aus."
Gisela Getty und Jutta Winkelmann haben, mit der Unterstützung des Kasseler Schriftstellers Jamal Tuschik, die Geschichte ihres Lebens aufgeschrieben. Es ist die Geschichte der Sonnenseite von 1968, die Geschichte einer Welteroberung, die Geschichte von Glanz und Glamour und Glück, von Elend, Drogen, Selbstsucht und Selbstüberschätzung, von der Liebe der Welt zu einem eitlen Zwillingspaar aus Deutschland. Und von der Liebe dieses Zwillingspaars zu sich selbst.
Der Roman einer Epoche.
Er beginnt mit jener Vision am Strand von Sperlonga, und sofort ist der Leser mittendrin in diesem Rausch aus Glück, Selbstentblößung, Wahnsinn und Esoterik: "Wir sind aufgehoben in der Ewigkeit. Und Ewigkeit, das ist Liebe, Schönheit, Gott. Ewigkeit ist absolute Stille. So trete ich denn vor Gott. Es gibt mich nicht mehr." Ja - diese Erfahrung hat jetzt nicht nur etwas mit dem Meer zu tun und dem Glück in Italien, sondern vor allem mit den chemischen Substanzen, die die Zwillinge da vorher eingeworfen haben. Und man kann sagen, dass Drogen auf den nächsten 380 Seiten ihres Lebens eine gewisse Rolle spielen werden.
Die doppelten Sterntaler
Aber erst mal geht es ab nach Kassel, in die ewige Kleinbürgerwelt der Familie Schmidt. Der Vater hängt dem alten Nazideutschland nach, malt Soldatenbilder aus der alten Zeit und weigert sich, im neuen, gründlich verachteten Staat eine Arbeit anzunehmen. Die Mutter hält heldenhaft Familie und Geld zusammen. Die Zwillinge - lieben sich von Anfang an: "Nach ihren eigenen Begriffen sind die Zwillinge vollendet auf die Welt gekommen . . . ungemein heil . . . als illuminierte Wesen, die wie Kinder bloß aussehen. Die menschlichen Sterntaler brauchen allein sich, nur sich."
Ihr Unglück heißt Kassel, und leider muss sich der Leser die ersten hundert Seiten mit den Zwillingen quälen. Sicher war es lebensdramaturgisch notwendig, eine lange Leidenszeit in einer verachteten Umgebung durchlebt zu haben. Dem Leser hätte man gut die Hälfte davon ersparen dürfen. Vor allem angesichts der unendlichen Erlebnisfülle, die sich im weiteren Verlauf des Buchs zusammendrängt. Aber irgendwann dringt eine Stimme aus einer Drogerie in Kassel ans Ohr. Eine Zauberstimme aus einer anderen Welt. Aus einer Welt, die beide ruft. "Zu der wir gehören, immer schon, wir haben es nur nicht gewusst, aber unsere Sehnsucht nach ihr hat uns genau zu diesem Zeitpunkt an diese Stelle von Kassel, also zur Braunsbergstraße geführt."
Es ist die Stimme von Bob Dylan, die sie da zum ersten Mal im Radio hören. Und es ist der Moment ihrer Erweckung. Und wie die Zwillinge hier einerseits das zufällige Vorbeischlendern an einem Drogeriemarkt mit Radiomusik zu einem schicksalhaften Moment heraufmystifizieren (sie hätten die Stimme Bob Dylans sonst mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in den nächsten Tagen auch an einem anderen Ort hören können); und wie sie dies andererseits so entschlossen als Zeichen deuten und gegen Ende des Buches tatsächlich eines Nachts auf einer Party Bob Dylan treffen, der augenblicklich von beiden verzaubert sein wird - das ist der Irrsinn dieses Buches.
Aber zunächst geht es nach Berlin, das Jahr 1967, das Erlebnis der Befreiung und der Gemeinschaft, Politik und Demonstrationen, erste Gewalt und immer die Sehnsucht nach Liebe und dem Süden, nach einem anderen Leben im Glanz. Die Freiheit wird schnell durch erste Schwangerschaften bedroht. Jutta lässt bei einem brutalen Engelsmacher eine Abtreibung vornehmen. Gisela wird ihr Kind bekommen. Kaum ist es da, gibt sie es bei ihren Eltern in Kassel ab und zieht weiter über die Schweiz nach Italien. Sie gibt es ab bei jenen Eltern, die die Zwillinge zuvor immer wieder als Nazis beschimpft und dem Vater mit dem Hinweis "ihr habt Millionen Juden vergast, von dir lasse ich mir überhaupt nichts sagen" jedes Erziehungsrecht abgesprochen haben. Jetzt überlässt man ihnen den frischen Säugling wie eine ausgespuckte Erbse. Sie haben schließlich eine Mission: "Wir müssen Verantwortung übernehmen und anderen zu erkennen helfen, wer sie in Wirklichkeit sind", heißt es nur wenige Seiten später.
Und natürlich ist das eine Bruchstelle im Buch und in den zwei Leben, die es beschreibt. Denn was soll das für eine lächerliche Weltverantwortung sein, die am Strand liegt, Drogen nimmt, von Welteinheit träumt und dabei das eigene Kind als lästigen Freiheitsräuber aus dem selbstbestimmten Leben schiebt? Wer die Welt erobern will, kann sich nicht mit Säuglingen aufhalten. Die Zwillinge schreiben das auf, ohne sich selbst zu schonen.
Und der Flug durch das All der Selbstverwirklichung geht jetzt erst richtig los. Sie fahren nach Rom, und alles scheint auf wundersame Weise von selbst zu gehen. Federico Fellini sucht Schauspielerinnen für einen neuen Film? Aus Tausenden werden die beiden auserwählt. Fellinis Assistent versucht verzweifelt, den Zwillingen aus Deutschland die Augen für das unfassbare Glück zu öffnen, das es bedeutet, von Fellini ausgewählt zu werden. Ihr Kommentar: "Er ahnt nicht, dass wir gerade in Spelonga von Gott auserwählt worden sind. Warum dann nicht von Fellini?"
So geht es weiter, von Glück zu Glück. Man liest immer weiter und fasst es nicht. Es ist wie ein Zaubermärchen aus den Jahren nach 1968, die Zwillinge treffen die Stars der Welt, die sie magisch anzuziehen scheinen. Der Multimillionärsenkel Paul Getty III tritt auf und verliebt sich in Gisela. Die beiden heiraten, Jutta lässt die Schwester gewähren, unter der Bedingung, dass sie dafür später Bob Dylan bekommt. Dylan bleibt das Licht in der Ferne, das große Ziel.
Hopper mit Gewehr
Weiter also, nach Amerika. Auf einer Party treffen sie Dennis Hopper, und die Liebesszenen mit ihm gehören in diesem an Abgründen reichen Buch zu den abgründigsten. Von drei nackten Frauen umgeben, verliert er beinahe den Verstand, brüllt Verwünschungen und Mordphantasien heraus. "Holt mir mein Maschinengewehr, na los, macht schon!", was Gisela sogleich erledigt. Und Hopper bricht heulend zusammen: "Du bleibst immer cool, nichts berührt dich. Du und deine Schwester, ihr denkt, ihr seid was ganz Besonderes", schreit er das Kasseler Mädchen an. Und trifft damit ins Herz. Die Kälte der totalen Selbstliebe, die sich nur in der Schwester spiegeln kann, ist eines der Dramen dieses Buches. Von allen geliebt zu werden und doch selbst nicht lieben zu können, ist die Hölle, die dieser doppelte Lebensroman beschreibt
Und schließlich endlich: Dylan. Eine Nacht, eine Party, ein Pool: "Bobs Interesse an mir ist so unmittelbar wie mein Interesse an ihm. Wir versenken uns ineinander - und ich habe die erregende Empfindung, Jakobs Leiter hinaufzusteigen, Sprosse für Sprosse immer weiter und höher, bis ich das Leben ungeteilt sehen kann . . ." Die Vision vom Strand von Sperlonga, die Zauberstimme aus der Drogerie - alles wird wahr. Alles erfüllt sich. Aber wie? "Meine Hand nähert sich seinem Gesicht - das sehe ich selbst mit Erstaunen - und berührt kurz seinen Schmetterlingsmund. Plötzlich ist Dylans Stimme ganz nah: ,Ihr seid natürlich Nazis.'" Sagt er. Die Stimme. Die Sehnsuchtsstimme. Was für ein Schock! Nein, nein, beeilt sich Jutta zu erklären. "Tochter Hitlers" erklärt sie. Andere Generation, unsere Eltern, die Alten, doch nicht wir! "Ich spüre meine Hand, gehalten von einem jüdischen Sänger. Ich schwitze und meine Zähne schlagen jetzt hörbar auf. ,Hörst du? Ich kann nichts dafür.'" Doch Dylan bleibt dabei: "You have to be anti-semite", beharrt er. Und Jutta: ",Yeah, I have to be . . .', stammle ich. Es ist ungeheuerlich. Ich kann nicht antworten. Wie ein Blitz fährt es in mich. Haben wir aus dem Hass der Eltern gelernt und sind wir wirklich bessere Menschen? Plötzlich friere ich und werde unsicher. Dylan ergreift meine Hand: ,No fear. You get through that. With me. I've seen something deeper.'"
Doch sie werden da nicht gemeinsam hindurchgehen. Es bleibt das einzige Treffen mit dem so lang Verehrten. Der Rausch vergeht. Die Sonnenzwillinge der 68er-Generation sind von Glück zu Glück gerast, von Liebe zu Liebe, die "einsetzende Depression einer ekstatischen Generation" steht am Ende des Buches. Und ein Rat des Kommunarden Rainer Langhans, den sie verehrten wie Bob Dylan und zu dessen "Harem" sie heute noch gehören: "Erzähl dir deine Geschichte, bis sie schön ist, bis du die Handelnde bist, die alles genauso wollte, wie es geschehen ist. Dann ist es eine gute Geschichte." Den Rat haben sie befolgt.
VOLKER WEIDERMANN
Gisela Getty, Jutta Winkelmann, Jamal Tuschik: "Die Zwillinge oder Vom Versuch Geist und Geld zu küssen". Weissbooks 2008, 385 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ungern gelesen, genussvoll verissen: Rainer Moritz hatte wenig Vergnügen mit der Autobiografie der Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann. Zu viel Selbstbeweihräucherung betreiben ihm die Schwestern in den Erinnerungen an ihre "wilden" 68er-Zeiten und dokumentieren damit unfreiwillig ihren "verblendeten Narzissmus", so Moritz. Selbstironie oder Selbstkritik konnte der Rezensent zu seinem Bedauern in diesem "eitlen, selbstgefälligen" Buch nicht finden. Das erzählerische Konstrukt des Buches sorgt ebenfalls für Unmut: Die dialogischen Passagen der Schwestern drehten sich im Kreis und der Außenperspektive von Co-Autor Tuschick fehle es an Distanz, so der Rezensent. Wo sich die Lieblingsvokabeln "mythisch" und "mystisch" häufen, gleiten die Erinnerungen für Rainer Moritz in den "sauren Kitsch" ab.
© Perlentaucher Medien GmbH
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