Der Diebstahl ist nicht nur eines der häufigsten Verbrechen überhaupt, sondern er ist eine Tat mit großer Geschichte: Schon Eva eignete sich den Apfel im Paradies auf diese Weise an, der listige Prometheus stahl das Feuer der Götter, der heilige Augustinus beschreibt sich in seiner Autobiografie als einen Dieb, und Jean-Jacques Rousseau folgte ihm darin mit seiner ebenfalls äußerst einflussreichen Autobiografie nach. Immer wieder stehen Diebe in der Literatur und in den Mythen für Neuanfänge und für Emanzipation: Wo gestohlen wird, geschieht eine kleine Rebellion, und es wird eine Ungerechtigkeit ausgeglichen. Während die Mechanismen der 'Gabe' im zwanzigsten Jahrhundert intensiv studiert wurden, hat der Diebstahl in den Kulturwissenschaften bisher keine Beachtung gefunden. Andreas Gehrlach zeichnet anhand zahlreicher Beispiele die westliche Kulturgeschichte des Diebstahls von der Antike bis in die postmoderne Philosophie nach.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungPrometheus kam doch noch frei
Andreas Gehrlach erklärt, warum der Dieb zur besonders verwerflichen Figur wurde
Diebstahl war in n meisten Epochen verwerflicher als gewaltsamer Raub: Der Räuber gehe zumindest noch das Risiko der Auseinandersetzung ein, der Dieb aber verfahre heimtückisch. Der Berliner Kulturwissenschaftler Andreas Gehrlach hat nun eine Abhandlung über Diebe geschrieben, die diesem harten Urteil nachspürt. Er nimmt den Faden beim Talmud auf, wo es heißt, ein Dieb gehöre härter bestraft als ein Räuber. Letzterer fürchte die Menschen so wenig wie Gott. Ersterer aber habe, und darin liegt der Skandal, vor den Menschen Angst, nicht aber vor Gott. Am korrekten Umgang mit Dieben wurde bereits im "Codex Hammurabi", einer Zusammenstellung babylonischer Rechtssprüche aus dem achtzehnten vorchristlichen Jahrhundert, kein Zweifel gelassen: Der Dieb und alle an seiner Tat Beteiligten sollen getötet werden.
Noch gut dreitausend Jahre später, als Eike von Repgow seinen "Sachsenspiegel" verfasste, leuchtete die Angemessenheit der Hinrichtung von Dieben unmittelbar ein: "Den Dieb soll man hängen." Wer nur wenig stiehlt, dürfe zudem keine mildere Behandlung erwarten, erspare jedoch Verwaltungsarbeit und lästige Nachforschungen. In einem solchen Fall solle der Dorfvorsteher den "Dieb wohl richten am selbigen Tag zu Haut und Haar". Inzwischen sehen wir das anders. Ein Mensch in Not, so der Kölner Erzbischof Josef Frings in seiner Silvesterpredigt aus dem Jahr 1946, dürfe stehlen. Fortan bezog man sich auf einen vollzogenen Mundraub mit dem Verb "fringsen".
Dennoch stellen Diebe eine Provokation dar, auch für Philosophen. Hegel spricht vom "Eigentum als dem Dasein der Persönlichkeit". Wenn aus dem Haben das Sein erwächst, wenn also das Subjekt zuerst als Eigentümer in Erscheinung tritt, dann erhält der Diebstahl eine spezielle Brisanz - wer dem anderen seinen Besitz wegnimmt, stellt ihn in Frage. Hegel planiert den Unterschied zwischen Räuber und Dieb, indem er beide als existentielle Bedrohung des Individuums entwirft. Anders verhält es sich im öffentlichen Leben. Während des neunzehnten Jahrhunderts verschwanden, die organisierten Räuberbanden und Diebe betraten massenhaft die Szene. Einer steigenden Anzahl von Eigentumsdelikten standen immer weniger Kapitalverbrechen gegenüber. Feudaler Besitz, gegen den die als Freiheitskämpfer gefeierten Räuber rebelliert hatten, verlor an Bedeutung. Spätestens mit der industriellen Revolution hatte die städtische Bevölkerung so viel Hab und Gut angehäuft, dass Leute, die es darauf abgesehen hatten, zwangsläufig die Bühne betraten.
Diebe waren keine Mitglieder berüchtigter Organisationen, sondern Individualisten, sie verfolgten keine politische Agenda, sondern betrieben Gelegenheitskriminalität. Eine Konsequenz ihres Auftauchens war die Entstehung der modernen Polizei. Von nun an wurde observiert und ermittelt. Man wollte die Diebe also mit genau dem Verhalten dingfest machen, das sie selbst an den Tag legten.
Auch Andreas Gehrlach ist ein Ermittler, der akribisch beobachtet und recherchiert. Er fragt nicht nur nach der sozialen und rechtlichen Rolle von Eigentum und Delinquenz, sondern auch, warum gestohlen wird und wie Diebe wahrgenommen werden. Seine These ist, dass Diebe mit ihrer Tat vielfach einen kulturellen oder persönlichen Neuanfang markieren. Das gilt für Diebstähle in der Mythologie und Literatur genauso wie in autobiographischen und sozialphilosophischen Texten. Wer Gehrlachs Buch liest, wird erstaunt feststellen, dass es in der westlichen Kulturgeschichte von Diebstählen nur so wimmelt. Wissenschaftlich blieb dieser Umstand bislang ohne nennenswerte Folgen, weil Forscher lieber über eine sympathischere Austauschpraxis nachgedacht haben - die Gabe. Gehrlach hält fest: "Das zwanzigste Jahrhundert war das Jahrhundert der Gabe."
Der Autor widmet sich in fünf Kapiteln schwerwiegenden Diebstählen und kleinen Mausereien. Neben Eva, die vor allem als unautorisierte Apfelpflückerin interessiert, kommt er unter anderen auf Hermes, Augustinus, Rousseau und Edgar Allan Poe. Mit Prometheus stellt er einen wichtigen Meisterdieb vor, der die Interpreten immer wieder in Wallung brachte. Dabei scheint zunächst alles ganz einfach: Prometheus entwendete den Göttern das Feuer und gab es den Menschen. Doch so unkompliziert ist es nicht. Das Feuer wurde in unterschiedlichen Epochen metaphorisch unterschiedlich aufgeladen, Prometheus selbst wurde mal als Dieb, mal als Diener der Götter gedeutet.
Wer Prometheus als Überbringer einer Gabe betrachtet - etwa Platon, Julian Apostata und Martin Heidegger -, mildert den peinlichen Aspekt, dass das, was den Menschen auszeichnet und privilegiert, gestohlen wurde. Dabei wird Prometheus, immerhin ein Titan, jedoch zum Kurier herabgestuft, was meist eine umso deutlichere Aufwertung des Feuers zur Folge hat. Jene Autoren, die es aushalten, Prometheus als Dieb zu charakterisieren (Hesiod, Hans Blumenberg), haben es andererseits nicht nötig, das Feuer höher, heißer und bedeutsamer lodern zu lassen. Die Auslegungen zum Prometheus-Mythos drehen sich stets um dasselbe Problem: Welche Rolle kommt uns zu? War das Feuer eine Gabe, haben wir uns dem göttlichen Willen zu fügen. Wurde es gestohlen, können wir uns selbstbewusst gegen die Götter auflehnen. So wird hier die Frage nach dem Dieb und seiner Tat zu einer nach dem menschlichen Selbstverständnis.
KAI SPANKE.
Andreas Gehrlach: "Diebe". Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
421 S., br., 54,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andreas Gehrlach erklärt, warum der Dieb zur besonders verwerflichen Figur wurde
Diebstahl war in n meisten Epochen verwerflicher als gewaltsamer Raub: Der Räuber gehe zumindest noch das Risiko der Auseinandersetzung ein, der Dieb aber verfahre heimtückisch. Der Berliner Kulturwissenschaftler Andreas Gehrlach hat nun eine Abhandlung über Diebe geschrieben, die diesem harten Urteil nachspürt. Er nimmt den Faden beim Talmud auf, wo es heißt, ein Dieb gehöre härter bestraft als ein Räuber. Letzterer fürchte die Menschen so wenig wie Gott. Ersterer aber habe, und darin liegt der Skandal, vor den Menschen Angst, nicht aber vor Gott. Am korrekten Umgang mit Dieben wurde bereits im "Codex Hammurabi", einer Zusammenstellung babylonischer Rechtssprüche aus dem achtzehnten vorchristlichen Jahrhundert, kein Zweifel gelassen: Der Dieb und alle an seiner Tat Beteiligten sollen getötet werden.
Noch gut dreitausend Jahre später, als Eike von Repgow seinen "Sachsenspiegel" verfasste, leuchtete die Angemessenheit der Hinrichtung von Dieben unmittelbar ein: "Den Dieb soll man hängen." Wer nur wenig stiehlt, dürfe zudem keine mildere Behandlung erwarten, erspare jedoch Verwaltungsarbeit und lästige Nachforschungen. In einem solchen Fall solle der Dorfvorsteher den "Dieb wohl richten am selbigen Tag zu Haut und Haar". Inzwischen sehen wir das anders. Ein Mensch in Not, so der Kölner Erzbischof Josef Frings in seiner Silvesterpredigt aus dem Jahr 1946, dürfe stehlen. Fortan bezog man sich auf einen vollzogenen Mundraub mit dem Verb "fringsen".
Dennoch stellen Diebe eine Provokation dar, auch für Philosophen. Hegel spricht vom "Eigentum als dem Dasein der Persönlichkeit". Wenn aus dem Haben das Sein erwächst, wenn also das Subjekt zuerst als Eigentümer in Erscheinung tritt, dann erhält der Diebstahl eine spezielle Brisanz - wer dem anderen seinen Besitz wegnimmt, stellt ihn in Frage. Hegel planiert den Unterschied zwischen Räuber und Dieb, indem er beide als existentielle Bedrohung des Individuums entwirft. Anders verhält es sich im öffentlichen Leben. Während des neunzehnten Jahrhunderts verschwanden, die organisierten Räuberbanden und Diebe betraten massenhaft die Szene. Einer steigenden Anzahl von Eigentumsdelikten standen immer weniger Kapitalverbrechen gegenüber. Feudaler Besitz, gegen den die als Freiheitskämpfer gefeierten Räuber rebelliert hatten, verlor an Bedeutung. Spätestens mit der industriellen Revolution hatte die städtische Bevölkerung so viel Hab und Gut angehäuft, dass Leute, die es darauf abgesehen hatten, zwangsläufig die Bühne betraten.
Diebe waren keine Mitglieder berüchtigter Organisationen, sondern Individualisten, sie verfolgten keine politische Agenda, sondern betrieben Gelegenheitskriminalität. Eine Konsequenz ihres Auftauchens war die Entstehung der modernen Polizei. Von nun an wurde observiert und ermittelt. Man wollte die Diebe also mit genau dem Verhalten dingfest machen, das sie selbst an den Tag legten.
Auch Andreas Gehrlach ist ein Ermittler, der akribisch beobachtet und recherchiert. Er fragt nicht nur nach der sozialen und rechtlichen Rolle von Eigentum und Delinquenz, sondern auch, warum gestohlen wird und wie Diebe wahrgenommen werden. Seine These ist, dass Diebe mit ihrer Tat vielfach einen kulturellen oder persönlichen Neuanfang markieren. Das gilt für Diebstähle in der Mythologie und Literatur genauso wie in autobiographischen und sozialphilosophischen Texten. Wer Gehrlachs Buch liest, wird erstaunt feststellen, dass es in der westlichen Kulturgeschichte von Diebstählen nur so wimmelt. Wissenschaftlich blieb dieser Umstand bislang ohne nennenswerte Folgen, weil Forscher lieber über eine sympathischere Austauschpraxis nachgedacht haben - die Gabe. Gehrlach hält fest: "Das zwanzigste Jahrhundert war das Jahrhundert der Gabe."
Der Autor widmet sich in fünf Kapiteln schwerwiegenden Diebstählen und kleinen Mausereien. Neben Eva, die vor allem als unautorisierte Apfelpflückerin interessiert, kommt er unter anderen auf Hermes, Augustinus, Rousseau und Edgar Allan Poe. Mit Prometheus stellt er einen wichtigen Meisterdieb vor, der die Interpreten immer wieder in Wallung brachte. Dabei scheint zunächst alles ganz einfach: Prometheus entwendete den Göttern das Feuer und gab es den Menschen. Doch so unkompliziert ist es nicht. Das Feuer wurde in unterschiedlichen Epochen metaphorisch unterschiedlich aufgeladen, Prometheus selbst wurde mal als Dieb, mal als Diener der Götter gedeutet.
Wer Prometheus als Überbringer einer Gabe betrachtet - etwa Platon, Julian Apostata und Martin Heidegger -, mildert den peinlichen Aspekt, dass das, was den Menschen auszeichnet und privilegiert, gestohlen wurde. Dabei wird Prometheus, immerhin ein Titan, jedoch zum Kurier herabgestuft, was meist eine umso deutlichere Aufwertung des Feuers zur Folge hat. Jene Autoren, die es aushalten, Prometheus als Dieb zu charakterisieren (Hesiod, Hans Blumenberg), haben es andererseits nicht nötig, das Feuer höher, heißer und bedeutsamer lodern zu lassen. Die Auslegungen zum Prometheus-Mythos drehen sich stets um dasselbe Problem: Welche Rolle kommt uns zu? War das Feuer eine Gabe, haben wir uns dem göttlichen Willen zu fügen. Wurde es gestohlen, können wir uns selbstbewusst gegen die Götter auflehnen. So wird hier die Frage nach dem Dieb und seiner Tat zu einer nach dem menschlichen Selbstverständnis.
KAI SPANKE.
Andreas Gehrlach: "Diebe". Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
421 S., br., 54,- [Euro].
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