»Das Schreiben hört nicht auf, es quält mich, endloser Schneefall«, heißt es an einer Stelle in diesem Band. An einer anderen: »Aus Platzgründen schreibe ich Gedichte« - und man kann sich fragen, weil sie kürzer sind oder weil darin mehr Platz hat? Mehr Schnee, mehr Hinterland mit Bahnübergängen, Fahrradständern, Löschteichen und den Wolken darin, mehr Unstillbares, mehr Sehnsucht. Eine Notiz lautet: »Einsamkeit: Die erste Person Singular ist in der Mehrzahl« - also immerhin nicht allein. Und das trifft auch auf diese Gedichte zu: Sie schauen einander ähnlich, sie würden einander erkennen können, auch an dem Ich, von dem sie handeln. Es versöhnt einen, vielleicht auch mit der eigenen Einsamkeit, von diesem Ich zu wissen, von seinem Alltag, den es nüchtern beobachtet und dem es gleichzeitig Bilder und Verse von überraschender Leuchtkraft abgewinnt. Diese Gedichte sind groß, groß genug für Gegensätze und Selbstwidersprüche, und sie nehmen sich zurück, als hätten sie sich gekürzt. Sie sind das, was übrig bleibt, wenn das Ich - »Ein Niemand / Unvergessen« - gestrichen ist.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Björn Hayer fühlt sich wohl in den Gedichten des Lyrikers Ulrich Koch, die eine ganze Welt in sich aufzunehmen vermögen, Menschen, Tiere und sogar die Toten. Von der morbiden Stimmung, die durchaus auch ins Depressive kippen kann, lässt Hayer sich nicht abschrecken. Er folgt dem verlassenen lyrischen Ich auf der Suche nach einem Dasein, denn der lakonische Ton und das zarte Sentiment lassen ihn das "rettende Gestade der Poesie" immer ahnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2021Wirklichkeit neu denken
Gelassen spielen: Zur Lyrik von Ulrich Koch
Vergessen Sie alles, was Sie über unseren Alltag zu wissen meinen. Vergessen Sie alles, was Sie sich über Menschen und Dinge jemals angeeignet haben. Vergessen Sie, was Sie über sich selbst herausgefunden haben. Sie befinden sich im Reich des Ulrich Koch, und damit wird das Dasein noch einmal neu verhandelt.
Wirklichkeit ist eine unbekannte Größe von geringem Stabilitätswert. Deshalb die ewig neuen Versuche, sie zu benennen, sie einigermaßen dingfest zu machen. Und wenn dann einer wie Ulrich Koch die Karten noch einmal neu mischt, kommt zur Verunsicherung noch der Faktor Überraschung dazu. Aufzuräumen mit der Sicherheit, in der wir uns trügerisch eingerichtet haben, gelingt Koch spielend. Dabei ist spielend tatsächlich auch im wörtlichen Sinn gemeint, denn man sieht dieser Lyrik nahezu an, dass sie sich einem hohen Maß an sinnlicher Beteiligung verdankt.
"Ob ich schon in ihre alten Sachen passe?" Diese Frage der Schwester hat zur Folge, dass der Jugendliche ungewohnt ausstaffiert vor dem Haus sitzt: "abgeschnittene Levis-Hose", so nimmt er sich nun wahr, "abgeschnittene Levis-Hose, Lederweste, Stöckelschuhe, fünfte Klasse, / und rauche Schokozigaretten, aber filterlose". Eine Einübung ins Erwachsenenalter findet hier statt von einem, der in der Provinz von aufregenden Ereignissen weitgehend verschont bleibt. Ein Fahndungsplakat ist jedenfalls ausgehängt, und das erinnert an die wilden, terrorgeschüttelten Jahre der Bundesrepublik. Sonst ist alles ruhig im Ort. Dass sich der träge Alltag ins Fantastische und Besondere weiten lässt, lernt einer früh, der mit Abenteuern im Leben sonst so haushalten musste. Die Gedichte jedenfalls erkennen jene Wirklichkeit, in der zu leben wir uns angewöhnt haben, nicht an. Es kann alles ganz anders sein, und als Transportmittel fürs Absonderliche ins Normale bietet sich die Sprache auf ideale Weise an. Sie macht nie gesehene Räume für einen wendigen Geist kraft seiner Vorstellungskraft betretbar.
Gelassenheit zeichnet diese Gedichte aus, Sanftmut und eben eine Melancholie, die nicht verwunderlich ist für einen, der Gedicht für Gedicht nachweist, dass er in der Welt nicht so recht beheimatet ist. Das lässt sich an der Methode ablesen, die Koch anwendet, wenn er uns in seine Wirklichkeit hineinführt. Sätze stehen ja nie für sich allein, in der Folge bilden sie größere Sinneinheiten, schaffen eine eigene Welt. Wie aber gehen wir mit einem Gedicht von Koch um, wenn aufeinanderfolgende Sätze sich voneinander abzugrenzen scheinen, gleichsam eine Mauer aufbauen gegenüber den anderen, die sie flankieren?
"Nichts trauriger als diese Nächte" heißt eines der neuen Gedichte, Melancholie kündigt sich schon im Vorfeld an. Ein lyrisches Ich spricht, an dessen flanierendes Bewusstsein wir uns zu halten haben. Eine Szene daheim, leicht nachzuvollziehen. Das Ich verheizt die Frühstücksbrettchen der Eltern im Kachelofen, und wenn es schon dabei ist, schließen sich einige Beobachtungen über diese Brettchen an. Schnitt, schon befindet sich dieses Ich in einem neuen Denkraum. Die Natur bildet jetzt den Anstoß für kühne Überlegungsszenarien. Die Traurigkeit einer Welt ohne Menschen überwältigt dieses Ich, Bienen, Seen, Schneefall und nirgends jemand, der davon Zeugnis ablegen könnte - ein klassischer Topos des anthropozentrischen Weltbildes. Schnitt. Das Motiv der Traurigkeit wird übernommen, von einem Paar ist jetzt die Rede, das miteinander eine Nacht verbracht hat. Von Nähe ist nicht viel spürbar, wenn sie einander "in den Nacken atmen / wie einer Kerze / ins Genick". Schnitt. Gerade wurde die Leserschaft auf eine Wintersituation eingestimmt mit Kachelofen, Schnee und Streusalz, schon stellen sich Bilder ein, die mit dem Vorangegangenen gar nichts zu schaffen haben: "Spinnennetze an einem sonnigen Oktobermorgen. / Kirchenfenster, von einem Betrunkenen eingeworfen." Eine Stimmung hält diese kleinen Sinneinheiten zusammen, die als traurig schon im Titel definiert ist. Das sagt etwas aus über die Anlage des ganzen Buches, das in starken Bildern von Verlust und Veränderung spricht. Dabei kommt die Kombination von Bereichen, die nicht zusammengehören, gerade recht.
Eigentlich sollte Ulrich Koch bekannter sein, als er es heute ist. Es macht sich bemerkbar, dass ihm die Gschaftlhuber-Rolle nicht liegt. So entsteht Buch um Buch ein Werk, das sich immer fantastischer ausnimmt in der gegenwärtigen Lyrikszene, doch die große Bühne bleibt ihm verwehrt. Was tun? Koch lesen, was sonst! ANTON THUSWALDNER.
Ulrich Koch: "Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text". Gedichte. Jung und Jung, Salzburg 2021. 151 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gelassen spielen: Zur Lyrik von Ulrich Koch
Vergessen Sie alles, was Sie über unseren Alltag zu wissen meinen. Vergessen Sie alles, was Sie sich über Menschen und Dinge jemals angeeignet haben. Vergessen Sie, was Sie über sich selbst herausgefunden haben. Sie befinden sich im Reich des Ulrich Koch, und damit wird das Dasein noch einmal neu verhandelt.
Wirklichkeit ist eine unbekannte Größe von geringem Stabilitätswert. Deshalb die ewig neuen Versuche, sie zu benennen, sie einigermaßen dingfest zu machen. Und wenn dann einer wie Ulrich Koch die Karten noch einmal neu mischt, kommt zur Verunsicherung noch der Faktor Überraschung dazu. Aufzuräumen mit der Sicherheit, in der wir uns trügerisch eingerichtet haben, gelingt Koch spielend. Dabei ist spielend tatsächlich auch im wörtlichen Sinn gemeint, denn man sieht dieser Lyrik nahezu an, dass sie sich einem hohen Maß an sinnlicher Beteiligung verdankt.
"Ob ich schon in ihre alten Sachen passe?" Diese Frage der Schwester hat zur Folge, dass der Jugendliche ungewohnt ausstaffiert vor dem Haus sitzt: "abgeschnittene Levis-Hose", so nimmt er sich nun wahr, "abgeschnittene Levis-Hose, Lederweste, Stöckelschuhe, fünfte Klasse, / und rauche Schokozigaretten, aber filterlose". Eine Einübung ins Erwachsenenalter findet hier statt von einem, der in der Provinz von aufregenden Ereignissen weitgehend verschont bleibt. Ein Fahndungsplakat ist jedenfalls ausgehängt, und das erinnert an die wilden, terrorgeschüttelten Jahre der Bundesrepublik. Sonst ist alles ruhig im Ort. Dass sich der träge Alltag ins Fantastische und Besondere weiten lässt, lernt einer früh, der mit Abenteuern im Leben sonst so haushalten musste. Die Gedichte jedenfalls erkennen jene Wirklichkeit, in der zu leben wir uns angewöhnt haben, nicht an. Es kann alles ganz anders sein, und als Transportmittel fürs Absonderliche ins Normale bietet sich die Sprache auf ideale Weise an. Sie macht nie gesehene Räume für einen wendigen Geist kraft seiner Vorstellungskraft betretbar.
Gelassenheit zeichnet diese Gedichte aus, Sanftmut und eben eine Melancholie, die nicht verwunderlich ist für einen, der Gedicht für Gedicht nachweist, dass er in der Welt nicht so recht beheimatet ist. Das lässt sich an der Methode ablesen, die Koch anwendet, wenn er uns in seine Wirklichkeit hineinführt. Sätze stehen ja nie für sich allein, in der Folge bilden sie größere Sinneinheiten, schaffen eine eigene Welt. Wie aber gehen wir mit einem Gedicht von Koch um, wenn aufeinanderfolgende Sätze sich voneinander abzugrenzen scheinen, gleichsam eine Mauer aufbauen gegenüber den anderen, die sie flankieren?
"Nichts trauriger als diese Nächte" heißt eines der neuen Gedichte, Melancholie kündigt sich schon im Vorfeld an. Ein lyrisches Ich spricht, an dessen flanierendes Bewusstsein wir uns zu halten haben. Eine Szene daheim, leicht nachzuvollziehen. Das Ich verheizt die Frühstücksbrettchen der Eltern im Kachelofen, und wenn es schon dabei ist, schließen sich einige Beobachtungen über diese Brettchen an. Schnitt, schon befindet sich dieses Ich in einem neuen Denkraum. Die Natur bildet jetzt den Anstoß für kühne Überlegungsszenarien. Die Traurigkeit einer Welt ohne Menschen überwältigt dieses Ich, Bienen, Seen, Schneefall und nirgends jemand, der davon Zeugnis ablegen könnte - ein klassischer Topos des anthropozentrischen Weltbildes. Schnitt. Das Motiv der Traurigkeit wird übernommen, von einem Paar ist jetzt die Rede, das miteinander eine Nacht verbracht hat. Von Nähe ist nicht viel spürbar, wenn sie einander "in den Nacken atmen / wie einer Kerze / ins Genick". Schnitt. Gerade wurde die Leserschaft auf eine Wintersituation eingestimmt mit Kachelofen, Schnee und Streusalz, schon stellen sich Bilder ein, die mit dem Vorangegangenen gar nichts zu schaffen haben: "Spinnennetze an einem sonnigen Oktobermorgen. / Kirchenfenster, von einem Betrunkenen eingeworfen." Eine Stimmung hält diese kleinen Sinneinheiten zusammen, die als traurig schon im Titel definiert ist. Das sagt etwas aus über die Anlage des ganzen Buches, das in starken Bildern von Verlust und Veränderung spricht. Dabei kommt die Kombination von Bereichen, die nicht zusammengehören, gerade recht.
Eigentlich sollte Ulrich Koch bekannter sein, als er es heute ist. Es macht sich bemerkbar, dass ihm die Gschaftlhuber-Rolle nicht liegt. So entsteht Buch um Buch ein Werk, das sich immer fantastischer ausnimmt in der gegenwärtigen Lyrikszene, doch die große Bühne bleibt ihm verwehrt. Was tun? Koch lesen, was sonst! ANTON THUSWALDNER.
Ulrich Koch: "Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text". Gedichte. Jung und Jung, Salzburg 2021. 151 S., geb., 23,- Euro.
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Was für ein ungeheuer klares, ungeheuer einfaches, ungeheuer kompliziertes Schreiben. Weitab von den sonstigen aufregenden Entwicklungen jetziger Lyrik und mit langen Pausen hat Ulrich Koch nun über viele Bände hinweg seine völlig eigene Poetik einer schwierigen Einfachheit entwickelt.Florian Kessler