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»Der Generalrat trank, trank und trank wieder. Er bot jedesmal auch mir an. Ich begoß mit meinem Gläschen unbemerkt den verkümmerten Blumentopf auf dem Schreibtisch. Er erzählte von seinem Leben, wie er früher Priester gewesen sei und später geheiratet habe. Und dann beschrieb er alle Einzelheiten der Bestialitäten der Deutschen, wie sie die Juden in den Provinzstädten umgebracht haben. Dabei sah er immer wieder auf das schlafende Gretchen. >Dies Kind soll leben!Dies Kind soll leben!

Produktbeschreibung
»Der Generalrat trank, trank und trank wieder. Er bot jedesmal auch mir an. Ich begoß mit meinem Gläschen unbemerkt den verkümmerten Blumentopf auf dem Schreibtisch. Er erzählte von seinem Leben, wie er früher Priester gewesen sei und später geheiratet habe. Und dann beschrieb er alle Einzelheiten der Bestialitäten der Deutschen, wie sie die Juden in den Provinzstädten umgebracht haben. Dabei sah er immer wieder auf das schlafende Gretchen. >Dies Kind soll leben!Dies Kind soll leben!< Er hing ihr ein Amulett an silbernem Kettchen um und mahnte, wenn sie gerettet werde, katholisch zu werden.
Autorenporträt
Reinhard Kaiser, geb. 1950 in Viersen. 1968 Beginn des Studiums der Germanistik, Romanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie. Seit 1975 Übersetzer und Lektor für verschiedene Verlage. Seit 1989 Arbeit als freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitungen und Rundfunkanstalten. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. Ernst Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis 1993, Deutscher Jugendliteraturpreis 1997, Geschwister-Scholl-Preis 2000. Der Autor lebt mit seiner Familie in Frankfurt/Main.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2000

Helfershelferinnen
„Dies Kind soll leben” – Geschwister-Scholl-Preis für die Tagebücher 1941–1944 der Helene Holzman
Der Völkermord war kein leichtes Geschäft. Auch nicht für die Einsatzkommandos, die im Sommer 1941 die baltischen Staaten mit Tod und Vernichtung überzogen. Zwölf Stunden an der Grube stehen, Morden im Akkord – ohne Alkohol war das nicht zu schaffen. Die Truppe, die hilfswilligen Milizen wurden reichlich mit Schnaps versorgt. Er floss wie Blut; schaltete das Gewissen aus. Auch in den Dienststellen, bei den höheren Chargen, die sich die Hände nicht selbst besudeln wollten, scheint es noch so etwas wie Restspuren von Skrupeln gegeben zu haben – in Promille gemessen.
In den Aufzeichnungen der Helene Holzman über die Zeit der deutschen Besetzung Litauens heißt der als Mensch getarnte Herrenmensch Rauca oder Baumgärtel; wirkt als SS-Hauptscharführer mit bei der Selektion von Juden in arbeitsfähige und zum sofortigen Tod bestimmte oder tut Dienst in der Zivilverwaltung; lässt sich rühren – aber eher zum eigenen Spaß; verspricht Hilfe – und ist dann doch zu feige. Dank Rauca wird der Komponist Edward Geist aus dem Ghetto von Kaunas entlassen – ein halbes Jahr später aber draußen in Fort IX. umgebracht. Bei Rechtsanwalt Baumgärtel hat Helene Holzman vorgesprochen, damit er ihrer Tochter Marie helfe. Er will sich einsetzen, aber als sie zwei Tage später nachfragt, lässt er sich verleugnen. Marie wird als „gefährliche Kommunistin” erschossen. Und als Helene Holzman, deren Mann schon in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Litauen Opfer des Naziterrors geworden ist, einen Generalrat namens Jurgutis anfleht, ihre jüngste Tochter zu retten, sie zu bewahren vor dem Zwangsumzug ins Ghetto, hat der offenbar seine schwache Stunde. Jurgutis, Mitglied der von den Deutschen eingesetzten litauischen „Selbstverwaltung”, als Judenhasser bekannt, umnebelt vom Alkohol, lässt sich erweichen. Während er in einem mit Cognacflaschen gut ausgestatteten Schränkchen kramt, verkündet er mit lallendem Pathos: „Dieses Kind muss gerettet werden. ”
Nun, dieses Kind, die damals 17-jährige Grete Holzman, wird gerettet. Nicht weil sich ein larmoyanter Säufer für sie einsetzt, sondern dank des Muts, der Unerschrockenheit, der reinen unbestechlichen Menschlichkeit von vielen, vielen Helfern. Von Frauen und Männern, die bei hoher Selbstgefährdung, gegen eine Welt von Feinden – deutschen und litauischen Antisemiten –, gegen Feigheit, Habgier und Gleichgültigkeit wenigstens einige der zum Tod in den Kasematten von Fort VII. und Fort IX. , in den Gräben draußen vor der Stadt, in den Vernichtungslagern von Birkenau und Majdanek zum Tod Bestimmten den Mördern entreißen wollten.
Der Einsatz, den Helene Holzman selbst wagte, war nicht gering. Sie war, wenn sie auch in ihrer Umgebung als Deutsche galt, nach den Rassegesetzen Jüdin. Nach Litauen hatte es die 1891 in Jena geborene, in gutbürgerlichem Hause aufgewachsene Malerin Helene Czapski, Schülerin von Max Beckmann, durch ihren Mann verschlagen, den Buchhändler Max Holzman, der 1925 in der Vielvölkerstadt Kaunas, damals Hauptstadt Litauens, eine Buchhandlung aufmachte. 1936 hatten beide die litauische Staatsbürgerschaft angenommen. Das gab Helene Holzman einigen Schutz; hoch gefährdet war sie dennoch, und ständig voller Angst. Einer Angst indes, die nicht lähmte, nicht gleichgültig machte gegenüber dem Leid anderer, sondern im Gegenteil sie beflügelte. Und sie fand Helfer und Helferinnen. Ihr zur Seite standen die beiden „russischen Nataschas”, die in ihrem kleinen Häuschen bis zu einem Dutzend Juden beherbergten; eine litauische Ärztin und die Schauspielerin Sofia Binkis, die jüdischen Frauen zu falschen Papieren und zur Flucht verhalfen; eine Gutsbesitzerin, die allein acht Kinder vor dem sicheren Tod rettete; ein Fabrikdirektor, der sich nicht scherte um den geforderten Ariernachweis; ein Musiker, der Pässe fälschte . . . „Eine kleine Verschwörergruppe arbeitet eifrig an ihrem unterirdischen Werk”, heißt es dazu in Holzmans Aufzeichnungen. Und diesen Verschwörern gilt der dem Buch „Dies Kind soll leben” verliehene Geschwister-Scholl-Preis ebenso wie der Schreiberin.
Die Jury stellt in ihrer Begründung diese Aufzeichnungen neben die Tagebücher von Anne Frank und Victor Klemperer. Gut, daneben lässt sich einiges stellen; eine Gleichsetzung aber wäre nicht statthaft. Schon deshalb nicht, weil Helene Holzman ihre Erinnerungen im Nachhinein schrieb. Sie kennt das Ende. Die quälende, fast nicht zu ertragende Spannung, mit der Klemperer das ständige Weiterdrehen der Garotte, welche die Nazis ihm um den Hals gelegt haben, beschreibt, darf man in dieser Retrospektive also nicht erwarten. Klemperer schrieb im Präsens. Holzman im Imperfekt. Sie führt kein Selbstgespräch, geht auf Distanz – steht, obwohl selbst Opfer, immer auch draußen, als Beobachterin, die Fakten einordnet, manchmal fast kühl, jedenfalls nie ich-bezogen. Gleichzeitig steckt sie ganz drin in den Geschehnissen. Sie entwirft die Innenansicht einer Stadt, einer Zeit, von der selbst der an Zeitgeschichte Interessierte kaum etwas weiß; die man, wenn überhaupt, aus der Sicht der Historiker kennt – als Tätergeschichte in Form der „Erfolgsbilanzen” des SD über seine blutige Ernte. Aufzeichnungen aus der Perspektive der Opfer bilden ein notwendiges Korrektiv zu dieser offiziellen Geschichtsschreibung nach Aktenlage, zumal wenn sie so differenziert sind wie Holzmans Bericht, in dem Litauer nicht im pauschalisierenden Kollektiv einer mörderischen Hilfstruppe agieren, sondern als trotz des Drucks der deutschen Sieger zum moralischen Handeln befähigte Individuen.
Wollte man aber in der Direktheit der Tagebuchform Vergleichbares suchen, es wäre zum Beispiel in den Tagebüchern des Breslauer Handlungsreisenden Walter Tausk zu finden. Dessen im Aufbau-Verlag wieder aufgelegte Notizen sind das tragische, traurige Gegenstück zu Klemperers Rettungsgeschichte; ohne glückliches Ende (Tausk wurde 1941 nach Kaunas deportiert und dort ermordet. ) Das kümmerliche Leben eines literarisch ambitionierten, aber recht erfolglosen Mannes breitet sich da vor dem Leser aus. Einzige Tröstung: dass dieser Verzweifelte zwar nicht sein Leben retten konnte, aber wenigstens ein Stück ewigen Lebens erwarb durch die Veröffentlichung des Tagebuchfragments. Anderen war nicht einmal dies vergönnt, ihre Geschichten sind verloren, vernichtet; und wenn nicht vernichtet, so besteht doch nur eine geringe Chance, dass sich für solche Texte – obwohl jede einzelne Geschichte es verdiente, erzählt zu werden – auch ein Verlag findet. Auch bei Helene Holzmans 1944/45 in drei Kladden festgehaltenen Erinnerungen hat es lange gebraucht, bis sie publiziert wurden. Sie selbst, die 1965, drei Jahre vor ihrem Tod, mit der Tochter Margarete von Litauen nach Deutschland ausreisen durfte, hat sich darum nicht bemüht. Dass ihre Aufzeichnungen jetzt erscheinen, ist ein später Dank – und ein Appell an zukünftige Helfershelfer.
ELISABETH BAUSCHMID
HELENE HOLZMAN: Dies Kind soll leben. Die Aufzeichnungen 1941–1944. Hrsg. Reinhard Kaiser und Margarete Holzman. Schöffling Verlag, Frankfurt/M. 2000. 384 Seiten, 44 Mark.
Die Tagebuchschreiberin Helene Holzman in jungen Jahren
Foto: Verlag
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