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"Sie müssen mit ihm reden, hat der Arzt gesagt. Hören Sie nicht auf, mit ihm zu reden. Stellen Sie sich vor, Ihre Stimme sei eine akustische Nabelschnur, die ihn mit dem Leben verbindet." Vera ist in eine Klinik gerufen worden: Zott, ihr Freund seit langem, liegt nach einem Unfall im Koma, und niemand weiß, ob er zurückkehren wird. Wie Orpheus mit seinem Gesang die Götter bewog, ihm Eurydike aus der Unterwelt freizugeben, so versucht Vera, Zott mit ihrer Stimme ins Bewußtsein zurückzuholen. Sie läßt ihre gemeinsame Zeit wieder lebendig werden, eine Geschichte, die in der Jugend beginnt und…mehr

Produktbeschreibung
"Sie müssen mit ihm reden, hat der Arzt gesagt. Hören Sie nicht auf, mit ihm zu reden. Stellen Sie sich vor, Ihre Stimme sei eine akustische Nabelschnur, die ihn mit dem Leben verbindet." Vera ist in eine Klinik gerufen worden: Zott, ihr Freund seit langem, liegt nach einem Unfall im Koma, und niemand weiß, ob er zurückkehren wird. Wie Orpheus mit seinem Gesang die Götter bewog, ihm Eurydike aus der Unterwelt freizugeben, so versucht Vera, Zott mit ihrer Stimme ins Bewußtsein zurückzuholen. Sie läßt ihre gemeinsame Zeit wieder lebendig werden, eine Geschichte, die in der Jugend beginnt und irgendwann im Erwachsenenalter eine dramatische Wende erfährt. Er, Einzelgänger und Künstler, der sich der Öffentlichkeit verweigert; sie, Journalistin, erfolgreich und ruhelos - zwei anspruchsvolle, schwierige Lebensentwürfe. Eine ganze Nacht lang sitzt Vera an Zotts Bett. Sie mahnt und schmeichelt ihm, sie flüstert, fragt und murmelt ihm ins Ohr. Sie zieht alle Register, und auch der Leser wird hineingezogen in eine dramatische, intime Geschichte aus unseren Tagen - in einen Sog, einen Lockgesang ins Leben zurück.
Autorenporträt
Ulrike Kolb, geb. 1942, lebt als freie Schriftstellerin in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2003

Meine Stimme, seine Nabelschnur
Wortmächtig: Ulrike Kolb spricht den Geliebten zurück ins Leben

Die mythische Geschichte ist hinreichend bekannt: Als Orpheus, dem berühmten Sänger der Antike, die Gattin Eurydike durch einen tödlichen Schlangenbiß geraubt worden ist, steigt er in den Hades hinab, Eurydike wieder zurückzuholen. Mit der magischen Macht seines Gesangs erweicht er sogar den Herrscher der Unterwelt; er darf seine Gattin auf die Erde zurückführen. Da er sich aber, gegen das strenge Verbot, auf dem Weg ans Tageslicht nach Eurydike umschaut, bleibt sie ihm für immer verloren.

Nicht einmal eine Anspielung auf Orpheus und Eurydike gibt es in Ulrike Kolbs neuem Roman "Diese eine Nacht". Und doch entdeckt man in der modernen Romanfabel einen verkapselten Splitter der mythischen Geschichte. Eine lange Nacht sitzt Vera in der Klinik am Bett des geliebten Mannes, des Künstlers Zott, der im Koma liegt. Er hat bei einem Autounfall eine Art Schlaganfall erlitten, einen Thalamusinfarkt, der das Tor zum Bewußtsein verschließt; so ist er schon nicht mehr unter den Lebenden. Jemand müsse ihn zurückholen, hat der Arzt gesagt. "Hören Sie nicht auf, mit ihm zu reden, stellen Sie sich vor, Ihre Stimme sei eine akustische Nabelschnur, die ihn mit dem Leben verbindet."

Und wie Orpheus zu singen begann - nur die männliche und die weibliche Rolle sind vertauscht -, so beginnt Vera zu erzählen. Sie folgt auch dem Rat der Krankenschwester: "Streicheln Sie ihn, regen Sie alle seine Sinne an, singen Sie ihm etwas vor!" Vor allem aber sucht sie das Tor zur Erinnerung wieder zu öffnen. Zwei Leitmotive durchpulsen den Roman, die Frage "Zott, weißt du noch?" und das beschwörende "Wach auf! Wach auf!" Der Roman ist ein nicht abreißender Monolog, der endlich zum Dialog werden möchte. Wie Scheherazade in "Tausendundeiner Nacht" erzählend um ihr Leben kämpft, so erzählt Vera um das Leben des geliebten Mannes. Kein Atemholen gönnt sich die Erzählung, keine einschneidenden Satzzäsuren.

Obwohl der Versuch, Zotts Erinnerungsvermögen wiederzubeatmen, bei der gemeinsamen Jugend, zumal der Schulzeit in einem protestantischen Internat, einsetzt, folgt die Erzählung nicht dem Gesetz der Chronologie. Sie hält sich immer offen für die "frei flottierenden Gedächtnisteilchen". Und der Erzählerin gelingt es, die Ratschläge der Schwester zur Wiedererweckung der Sinne so suggestiv in eine Sprache der Sinnesverschmelzung umzusetzen, daß "das Glitzern zu hören ist, der Geruch zu sehen, das Rauschen auf der Haut zu spüren".

Die Wege Veras und Zotts haben sich getrennt und doch immer wieder magnetisch angezogen und gekreuzt, keine Trennung hat die innere Nähe aufheben können. Vera wurde eine die Welt bereisende Journalistin, Zott ein vielseitiger bildender Künstler, Zeichner, Bildhauer, Schöpfer von Installationen, Bühnenbildner und Filmemacher. Seine Kunst zielt auf den Schock, will "wie ein Nackenschlag sein". Und eine preisgekrönte Arbeit hat sogar das bestürzende Ereignis des Komas, seinen Gang in den Hades, schon bildlich vorweggenommen: "Treppen und Wände, die tief in die Erde hineinreichen", abgründige und labyrinthische Stufen.

Aber Zott hat auch dem Grotesken eine ironische Seite abgewonnen, etwa durch die Verfremdung des Erotischen. Angeregt durch Veras Bericht über den Massagetisch im physiotherapeutischen Institut, hat er riesige Platten durchlöchern lassen, dreiunddreißig großbrüstige Frauen engagiert und sie sich bäuchlings darauf leben lassen, "so daß ihre Brüste durch die runden Öffnungen nach unten fielen, leicht schaukelnd, zitternd, wabernd, du filmtest das Ganze, von oben und von unten . . . hochblickend in den Fetischwald, der sich immer tiefer zu dir heruntersenkte".

In den Wiederbelebungsversuchen, in der Reizung der Sinne wird auch das sprachliche Aphrodisiakum gereicht. Die Erzählweise kennt keine Scheu vor erogenen Zonen und keine Phallusfeindlichkeit. Von der Scham in der Pubertätszeit und der Neugier nach der verbotenen Frucht berichtet sie ebenso unbefangen wie von der späteren Praxis sexueller Lust. Aber wie leicht und locker ist das alles in Sprache verwandelt: weder penetrant noch verblümt, weder vulgär noch verklemmt. Immer wieder flüstert die Erzählerin dem Regungslosen das Hohelied der lebendigen Körperlichkeit zu.

Dabei ist die Geschichte dieser Liebenden auch eine Geschichte der Versagungen und der Verspätungen. Dreißig Jahre lang sind sie einander nur gute Freunde. Beide heiraten, haben Kinder (Vera besucht in Persien ihren Sohn Jens, der in einer esoterischen Gruppe von Sufis lebt). Erst nach Veras Trennung von ihrem Mann fällt die letzte Barriere zwischen ihnen, ereignet sich, was so lange verzögert wurde, als Explosion, als die Zündung einer Rakete, nach der sie sich schwerelos fühlt: "Mir war, als trudele ich als verschwindender Punkt auf der Umlaufbahn meiner Wahrnehmung."

Eingelagert in die Zweiergeschichte sind Veras Erinnerungen an die Freundschaft und Ehe mit Franz, zumal an ihr gemeinsames Studium in Berlin und ihr Mitgerissenwerden von der Studentenbewegung, an das Attentat auf Rudi Dutschke und an die Protestdemonstrationen, an das Leben in der Wohngemeinschaft. Hier hat der Leser ein Déjà-vu-Erlebnis, gibt sich Ulrike Kolb als Autorin des Romans "Frühstück mit Max" (F.A.Z. vom 21. Februar 2000) zu erkennen, in dem eine Wohngemeinschaft in der Berliner Mommsenstraße schon einmal einen Abschlag auf die Wonnen des erhofften Gesellschaftsparadieses genießt. Was Zott damals an Vera abstieß, war ein aufgeblasener Fanatismus, dem denn auch bald die Luft ausging. Damit endet die einzige politische Episode des Romans.

Namen von Schriftstellern und Künstlern, von Büchern, Kunstwerken oder Filmen und Gespräche über sie verknüpfen sich zu einem Assoziationsgitter, das Banalität vom Roman fernhält. Dies ist ein Werk für Liebhaber sinnlich-kultivierten Erzählens. Trotz der bedrohlichen Rahmensituation bewährt sich wieder jene unaufdringliche Magie der Sprache, die man schon an früheren Romanen Ulrike Kolbs gerühmt hat. Dies ist ein Buch, dessen Sprache den Leser in eine Gefangenschaft bannt, aus der er nicht entlassen werden möchte.

Am Ende des Romans kommt wieder Leben in die Leichenstarre. Zott drückt Veras Hand, will den Kopf heben. Ist es das letzte Aufbäumen vor dem endgültigen Aus oder die Rückkehr in die Welt? Die Schwestern und der Arzt stürmen ins Krankenzimmer und drängen Vera beiseite. Wir sollten die Analogie zur Geschichte von Orpheus und Eurydike nicht überreizen. Aber es mag nicht ganz ohne Bedeutung sein, daß die um das Bett Gescharten Vera das Zurückschauen auf den Erwachten verwehren.

WALTER HINCK

Ulrike Kolb: "Diese eine Nacht". Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003. 189 S., geb., 19,- [Euro].

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