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Orhan Pamuk erzählt vom schillernden Leben eines Straßenverkäufers, als Istanbul sich in eine moderne Metropole verwandelt. Kann man die falsche Frau heiraten und trotzdem die große Liebe finden? Mevlut ist Straßenverkäufer in Istanbul, als er sich Ende der 60er Jahre auf der Hochzeit seines Cousins in die jüngere Schwester der Braut verliebt. Drei Jahre lang schreibt er ihr Liebesbriefe nach Anatolien. Doch dann schickt man ihm die ältere Schwester. Pflichtbewusst heiratet Mevlut sie, und ausgerechnet ein Jugendfreund nimmt seine Angebetete zur Frau. Die beiden Familien leben drei Jahrzehnte…mehr

Produktbeschreibung
Orhan Pamuk erzählt vom schillernden Leben eines Straßenverkäufers, als Istanbul sich in eine moderne Metropole verwandelt.
Kann man die falsche Frau heiraten und trotzdem die große Liebe finden? Mevlut ist Straßenverkäufer in Istanbul, als er sich Ende der 60er Jahre auf der Hochzeit seines Cousins in die jüngere Schwester der Braut verliebt. Drei Jahre lang schreibt er ihr Liebesbriefe nach Anatolien. Doch dann schickt man ihm die ältere Schwester. Pflichtbewusst heiratet Mevlut sie, und ausgerechnet ein Jugendfreund nimmt seine Angebetete zur Frau. Die beiden Familien leben drei Jahrzehnte in enger Verbundenheit, doch dann nimmt ihr Schicksal eine dramatische Wende. Istanbul aus der Sicht kleiner Leute, vor allem aber eine großartige Liebesgeschichte.
Autorenporträt
Orhan Pamuk, 1952 in Istanbul geboren, studierte Architektur und Journalismus und lebte mehrere Jahre in New York. Für seine Romane erhielt er 1990 den Independent Foreign Fiction Award, 1991 den Prix de la découverte européenne, 2003 den International IMPAC Dublin Literary Award, 2005 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und in demselben Jahr den Ricarda-Huch-Preis, 2006 den Nobelpreis für Literatur und 2007 die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin als 'Ausnahmeerscheinung der Weltliteratur'.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

"Bozaaa" ruft Mevlut abends durch die Gassen von Istanbul und bietet mit einem schweren Tragjoch auf den Schultern als ambulanter Händler dieses altosmanische Getränk aus fermentiertem Getreide an. Orhan Pamuks Held scheint einem europäischen Schelmenroman entsprungen zu sein: Er ist gutmütig, klug und naiv zugleich, stammt aus der unteren Schicht und verstrickt sich in vielerlei Abenteuer. So verliebt er sich bei der Hochzeit seines Cousins in die jüngste Schwester der Braut, schreibt jahrelang Liebesbriefe, bis er sich entschließt, die junge Schöne zu entführen. Beim ersten direkten Blick in ihr Gesicht begreift er jedoch, dass es sich um eine andere Schwester handeln muss. Daraus entwickelt sich eine bezaubernde Liebesgeschichte. Dem Genre gemäß schreitet die Handlung angenehm leicht und mit viel Ironie erzählt voran. Hinter den Geschehnissen verbirgt sich aber erboste Kritik am zeitgenössischen Istanbul. Der Ausverkauf der Stadt an rücksichtslose Investoren wird deutlich: Seelenlose Betonklötze verdrängen alte Häuser, Fertigprodukte ersetzen selbst gekochte Speisen. Im Zangengriff zwischen westlichen Einflüssen und fundamentalistisch-islamischen Normen geht hier vor den Augen des Lesers eine einst multikulturelle, individuelle Identität der Stadt verloren.

© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Im landläufigen Sinne "gut geschrieben" ist das Buch nicht, schreibt Ulrich Greiner. Aber er kann es trotz mancher sprachlichen Holprigkeit, die vielleicht auch der Übersetzung geschuldet sei, wärmstens empfehelen. Eine Menge hat Greiner aus der figurenreichen Geschichte über die letzten fünfzig Jahre in Istanbul gelernt, in der die Stadt von 1,3 auf 13 Millionen Einwohner wuchs. Alle großen Ereignisse spiegeln sich in den Personen wider. Wohl zwei Dutzend Dramatis personae gibt es, und am Ende kennt Greiner sie so gut, dass er nicht mal mehr im hilfreichen Personenregister des Bandes nachschlagen muss. Dieser Roman scheint also alles zu sein, was ein Roman sein soll: Lehrreich, und "traurig und amüsant".

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.01.2016

Kleiner Drink, große Stadt
Als das alte Istanbul verschwand: Orhan Pamuks
neuer Roman „Diese Fremdheit in mir“
VON CHRISTOPH BARTMANN
Als Orhan Pamuk 2006 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ehrte ihn die Jury als einen Autor, „der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Geburtsstadt neue Symbole für den Zusammenprall und die Verflechtung der Kulturen“ gefunden habe. Ausgezeichnet wurde ein Schriftsteller, der souverän über die Mittel des zeitgenössischen westlichen Romans verfügt und in seinen besten Büchern („Schnee“, „Rot ist mein Name“, „Das schwarze Buch“) an Kafka oder Nabokov anschließt. Erst die Verbindung von beidem, von Istanbuler Melancholie und literarischer Kühnheit, hat Pamuks Rang begründet, jedenfalls in der westlichen Welt. Dass man in zwei Kulturen bewandert und dabei zugleich „absolut modern“ sein konnte, war eine Vorstellung, die nicht nur die Schwedische Akademie bezauberte.
  Diese Vorgeschichte muss man in Erinnerung rufen, wenn man Pamuks neuen Roman „Diese Fremdheit in mir“ zur Hand nimmt. Etwas hat sich verändert in Pamuks Schreiben seit dem Nobelpreis vor zehn Jahren. Mehr denn je ist jetzt die Klage um die Verwandlung und Zerstörung des alten Istanbul ins Zentrum gerückt. Stärker als früher auch scheint Pamuks Hang zum Melodram zu sein. In Pamuks Roman „Das Museum der Unschuld“ trat noch eine dritte Tendenz hinzu. Die Dinge der Vergangenheit sollen vor dem Vergessen bewahrt, sie sollen aufbewahrt und gezeigt werden, nicht mehr nur im Roman, sondern im Museum. So baute sich Pamuk eine private Institution für seine eigenen Memorabilien, als wolle er den eigenen Landsleuten eine Lektion in Melancholie erteilen. Seine Bücher sollen und wollen nun, so scheint es, vor allem im eigenen Land verstanden werden und Wirkung erzielen.
  Auf den ersten Blick wirkt der neue Roman freilich wie eines jener komplexen fiktionalen Bauwerke, wie sie Pamuk berühmt machten. Ein ganzes Ensemble von Erzählstimmen trägt eine Handlung vor, die der barocke Untertitel sogleich in ihrer Absicht erläutert: „Abenteuer und Träume von Mevlut Karatas, einem Boza-Verkäufer, und seiner Freunde, zugleich ein Porträt des Lebens in Istanbul von 1969 bis 2012 aus vielen verschiedenen Perspektiven“. „A Strangeness in My Mind“, heißt die Gedichtzeile von Wordsworth, die dem Roman den Titel gibt.
  Man tut sich schwer, bei Mevlut, dem Protagonisten, tatsächlich Spuren dieser Fremdheit zu entdecken. Und wenn, dann ist es nur eine sehr leichte Fremdheit, so wie Boza, das Mevlut über vier Jahrzehnte mit seinem Lastjoch durch Istanbul trägt, ein sehr leichtes alkoholisches Getränk ist. Boza, gemacht aus fermentiertem Weizen, war, wie man lernt, ein beliebtes Getränk zu Zeiten des Sultanats, als Alkohol verpönt, aber ein kleiner Drink trotzdem willkommen war. Zur Zeit des Romans will in Istanbul kaum einer mehr Boza trinken, weshalb Mevlut sein Angebot auf Joghurt, Eis, Hähnchen mit Pilav und manch anderes ausdehnt. Boza, der Alkohol, der je nach Betrachtungsweise gar keiner ist, der die Gläubigen so froh stimmt wie die Ungläubigen, der so leicht ist, dass er niemandem schadet – Boza ist hier ein Symbol für gelebte Toleranz und friedvolles Miteinander, und sei es auch um den Preis eines ordentlichen Alkoholgehalts. Boza, so könnte man auch sagen, ist die Super-Metapher für diesen Roman selbst.
  Pamuk lässt ihn mit einem melodramatischen Auftakt par excellence beginnen. „Von der Schwierigkeit, ein Mädchen zu entführen“ heißt das erste Kapitel: Auf einer Hochzeit hat sich „unser Held“ in eine glutäugige Schönheit aus dem Nachbardorf verliebt, der er fortan schmachtende Briefe schreibt, die natürlich unbeantwortet bleiben. Eines Nachts verschleppt er sie, mit tatkräftiger Hilfe seines Neffen, nach Istanbul, um noch vor Ankunft festzustellen, dass er versehentlich statt der schönen Samiha deren ältere Schwester Rayiha entführt hat. Macht nichts, sagt sich Mevlut, und auch die überrumpelte Rayiha findet sich schnell mit ihrem Schicksal ab.
  Mevlut, der Mann mit dem Lastjoch, ist ein gutmütiger Held, den so schnell nichts aus der Bahn wirft. Zum ersten Mal hat Pamuk einen Roman vollständig aus der Perspektive eines sogenannten einfachen Mannes geschrieben. Auch wenn Mevluts Abenteuer und Träume von verschiedenen Figuren erzählt und kommentiert werden, geht die Erzählung kaum je über seinen Gesichtskreis und seine Vorstellungswelt hinaus. Das führt, bei aller Buntheit der geschilderten Umstände, zu einer gewissen Eintönigkeit. Gemildert wird sie durch vielerlei Wissenswertes über Stadt, Land und Welt zwischen 1969 und 2012. Der groß angelegte Stadthistorienroman verlangt nach solchen Hinweisen und Kontexten, nur bleiben sie als allgemeine Sachverhalte den Figuren fremd.
  Pamuk will erkennbar dem Leser mehr mitteilen, als es die Lebenswelt seiner Figuren glaubhaft vermitteln kann. „Eine Fremdheit in mir“ – man meint bisweilen zu spüren, dass Pamuk mit seinen eigenen Figuren fremdelt. Alles soll so lebensnah wirken und könnte es vielleicht auch sein, wenn Pamuk seine Figuren wirklich von der Leine ließe. Das Problem ist nicht, dass Mevlut ein Simplex oder ein Schelm ist und deswegen die großen Zusammenhänge nicht durchschaut. Das Problem ist vielmehr, dass er so schrecklich gutmütig ist oder sein muss, eine Eigenschaft, die selten große Literatur nach sich zieht.
  Vielleicht steht diese allzu offensichtliche Gutmütigkeit eines Helden, der ein bisschen religiös und ein bisschen säkular ist, der den überall lauernden Gefahren und Konflikten nach Kräften aus dem Weg geht, mit Pamuks pädagogischen Neigungen in Zusammenhang. Dies ist ein erstaunlich mildes, heiteres Buch geworden, erstaunlich deshalb, weil Pamuk auch anders kann und weil er auf 600 Seiten die Ursachen und Urheber der Zerstörung des alten Istanbul deutlich genug beim Namen nennt. Ist es vielleicht nicht nur vorsichtiger, sondern auch klüger und wirkungsvoller, wenn er sein Lebensthema diesmal auf eine Weise instrumentiert, die weder in ihrer Form noch in ihrer Botschaft mögliche Leser vor den Kopf stößt?
  In diesem Roman jedenfalls präsentiert sich Pamuk als Aufklärer, der sein „J’accuse“ in menschenfreundlicher Form unter die Leute bringt. Wer verstehen will, warum Istanbul heute nicht mehr die tolerante, multikulturelle, kosmopolitische Stadt ist, an die Pamuk sein Herz verloren hat, findet in diesem Roman Erklärungen genug. Lange Passagen, und vielleicht die besten, sind einem Thema gewidmet, mit dem sich Pamuk, der gelernte Architekt, auskennt wie ein Profi: dem illegalen Bauen. „Gecekondu“ heißen solche provisorischen Bauten, Wohnkomplexe und -viertel, die jetzt die Hügel rings um die Stadt überziehen. Gebaut haben sie Leute wie Hadschi Hamit Vural.
  Vielleicht ist er der heimliche Held des Romans, weder ein Schelm noch ein Schurke, aber einer, der in Mevluts Straßenhändlerwelt die Fäden zieht. Wie Mevlut und all die anderen ist er aus Anatolien nach Istanbul gekommen, aber anders als Mevlut hat er bald eine Moschee gestiftet und sich dann als Bauunternehmer etabliert. Hadschi Hamit Vural ist kein Fundamentalist oder Islamist, beides Wörter, die in Mevluts Welt kaum eine Rolle spielen, er ist ein Anführer der „Frommen“, der „Religiösen“, der sich mit Jobs, Wohnungen und anderen guten Werken die Gefolgschaft der Zuwanderer vom Lande verschafft.
  Illegales Bauen und religiöses Eiferertum sind zwei Seiten derselben Medaille, verkörpert in Figuren wie Hadschi Hamit Vural, der sich ins Istanbuler Establishment vorarbeitet, ohne je ein Bürger sein zu wollen. Bei der Schilderung all dieser Machenschaften ist Pamuk spürbar in seinem Element, genauso wie in den Kapiteln, die Mevlut, nachdem er alle möglichen Jobs durchlaufen hat, als Stromableser zeigen. Was gibt es nicht alles an Möglichkeiten, den Stromableser zu täuschen? Und welche Einsichten ins Innerste der Stadt gewährt das Stromablesen dem wachsamen Ableser. In Mevluts ambulanten Tätigkeiten, dem Boza-Verkäufer oder dem Stromableser, hat Pamuk sich selbst, dem ambulanten Schriftsteller, ein Denkmal gesetzt.
  Wie in Baudelaires Gedicht „Der Schwan“ wird dem Wanderer alles, was er sieht, zur Allegorie, aber die Melancholie raubt ihm nichts von seiner Wachsamkeit. „Diese Fremdheit in mir“ ist ein Buch geworden, das es seinen Lesern vordergründig zu leicht macht. Sein tatsächlicher Gehalt erschließt sich erst, wenn man die Handlung Handlung sein lässt und, wie der Stromableser, ein bisschen hinter die Fassaden schaut.
Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2016. 592 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Der heimliche Held ist der
Bauunternehmer – er tritt auf
als Architekt der Zerstörung
„,Die Liebe ist eine Krankheit‘, dozierte der Hodscha. ,Und als Notfallmedizin hilft dagegen,
da hast du schon recht, die Ehe‘“: Zu Beginn des Romans entführt Pamuks Held gleich mal ein Mädchen von einer Hochzeit.
Foto: Regina Schmeken
Orhan Pamuk
Foto: picture alliance / dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2016

Das Glück lag auf der Straße

Orhan Pamuks neuer Roman "Diese Fremdheit in mir" handelt von einem Mann, der in den Altstadtvierteln Istanbuls türkisches Hirsebier verkauft - und von seinen Ehefrauen, Vettern, Freunden und Bekannten. Ein Panorama, das besser ein Porträt geblieben wäre

Hier sind sie wieder, all die Namen, die bei Orhan Pamuk das Paradies der Erinnerung beschwören: Kurtulus, Feriköy, Besiktas. Sisli, Mediciyeköy, Çarsamba, Edirnekapi, Kustepe. Harmantepe, Gültepe, Oktepe, Kadirga, Kumkapi, Balat, Fatih, Sultanahmet, Karagümruk, Aksaray. So heißen die Stadtviertel von Istanbul, der türkischen Metropole, der Pamuk sein Leben und Schreiben geweiht hat. Und so heißen auch die Gegenden, in denen Mevlut, der Held von Pamuks neuem Roman, jedes Jahr vom Herbst bis zum Frühling mit seinem Traggestell auf der Schulter durch die Straßen läuft und seine Ware ausruft: "Boza! Boza!"

Boza ist ein aus Hirse und anderem Getreide gebrautes, dickflüssiges, schwach alkoholhaltiges Bier, das auf dem ganzen Balkan und im Nahen Osten konsumiert wird. Die Janitscharen, die Elitesoldaten der osmanischen Sultane, tranken es auf ihren Kriegszügen, der arabische Weltreisende Ibn Battuta bekam es an der Seidenstraße in Zentralasien ausgeschenkt. "Vor der Einführung der Kühltechnik", heißt es auf Wikipedia, sei Boza "ein typisches Wintergetränk" gewesen. Ein Wintergetränk, das auf der Straße verkauft wird, ist das Boza-Bier auch in Pamuks Roman, obwohl seine Handlung bis fast an die heutige Gegenwart heranreicht. Denn Mevlut, der Held, ist das, was Pasolini als forza del passato bezeichnet hat, eine "Kraft der Vergangenheit": ein Straßenverkäufer in einer Zeit, die keine Straßenverkäufer mehr braucht.

Das gibt der Geschichte eine Tonart vor, die aus anderen Büchern Pamuks wohlbekannt ist: das h-Moll der Melancholie. Im "Museum der Unschuld" blickt der Fabrikantensohn Kemal mit den Augen des unglücklich Verliebten auf seine Jugend zurück. In "Schnee" trauert der Dichter Ka im Frankfurter Exil um das Glück, das er in einer osttürkischen Provinzstadt gefunden hat. In "Das neue Leben" reist der Student Osman auf der Suche nach seiner verschwundenen Flamme durch das ganze Land. Reisen, Suchen, Lieben, das sind die Leitmotive bei Pamuk, die Grundbewegungen seines Erzählens. Meistens sind sie vergebens: Das Land gibt seine Geheimnisse nicht preis, die alte Liebe ist buchstäblich alt geworden, der Schnee, der auf die Dinge gefallen ist, kehrt nicht zum Himmel zurück. Meistens. Nur hier nicht. In "Diese Fremdheit in mir" ist alles anders.

Das Buch beginnt mit einer Szene wie von Gabriel García Márquez: Ein junger Mann kehrt in sein anatolisches Provinznest zurück, entführt ein Mädchen aus dem Nachbardorf und merkt erst auf der Fahrt zurück nach Istanbul, dass er die Falsche mitgenommen hat. Bei Márquez wäre das der Anfang eines Dramas gewesen. Bei Pamuk ist es eine Fahrt ins Glück. Denn Mevlut findet in Rayiha tatsächlich die Liebe seines Lebens, obwohl sie nicht diejenige ist, an die er drei Jahre lang Liebesbriefe geschrieben hat. Und als Rayiha später auf tragische Weise stirbt, erringt er, nach gebührender Trauerzeit, doch noch die Gunst ihrer jüngeren Schwester Samiha, von deren Augen er damals geträumt hat. Mevlut, der arme Boza- und Pilav-Verkäufer, der von Hunden gehetzt, von Gaunern ausgeraubt, von der Polizei geschröpft und von seinen Kunden immer mehr im Stich gelassen wird, zieht in der Liebe zweimal das große Los. Seine Taschen bleiben leer, doch er hat das Glück des tüchtigen Toren.

Darin besteht der zweite große Unterschied zu Pamuks früheren Romanen. Bisher hat unser Erzähler immer durch den Mund von Intellektuellen und Großbürgern gesprochen: Journalisten, Rechtsanwälten, Gelehrten, Ingenieuren. Diesmal stellt er einen Mann aus dem Volk, einen Schulabbrecher, Parkplatzwächter, Geringverdiener, ins Zentrum der Geschichte. Deshalb ist "Diese Fremdheit in mir" auch nicht als Ich-Erzählung geschrieben. Nicht nur Mevlut und die Welt, auch Mevlut und sein Autor bleiben sich ein wenig fremd.

Damit diese Distanz aber nicht den Blick auf das Geschehen trübt, hat Pamuk eine ganze Reihe von Ich-Erzählern als Vermittler zwischen uns und Mevlut eingesetzt: seine Frau, ihre Schwestern, seine Vettern und Freunde, seinen Schwiegervater und selbst Randfiguren wie den Paten des Viertels, in dem Mevlut in Istanbul bei seinem Vater aufwächst. Der Roman ist also wie ein Filmporträt aufgebaut, in dem Zeitzeugen das Leben des Porträtierten, das den Hauptstrang bildet, kommentieren: "ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012", wie es im Untertitel heißt.

In dieser zweigeteilten Struktur, diesem Wechsel von Ich und Er, Statement und Erzählung, steckt der Haken von Pamuks Buch. Es ist nämlich, anders als sein Autor uns verspricht, gerade kein Epochenpanorama (wie "Das schwarze Buch" und "Das Museum der Unschuld"), auch wenn Ereignisse wie der türkische Militärputsch von 1980 oder der 11. September 2001 darin mittönen. Es ist die Geschichte eines Mannes und seiner Familie, seines privaten und beruflichen Lebens, seines Glücks und seiner Trauer. Ein Solo für Mevlut. Aber Pamuk hat es zum Oratorium ausgebaut, ohne dass die erzählerische Substanz dabei mitgewachsen wäre. Man muss nicht durch den Mund Rayihas erfahren, dass sie mit Mevlut glücklich und über die Entdeckung, dass seine Liebesbriefe an ihre Schwester gerichtet waren, unglücklich ist: Die Art, wie der Erzähler seine Figuren in der Manier eines Staatsanwalts in den Zeugenstand ruft, entrückt sie uns erst recht. Sie wirken wie Marionetten, die der Puppenspieler Pamuk durch seine Kulisse bewegt. Manchmal wird darin geschossen, ein Liebespaar brennt durch und trennt sich wieder, ein islamistischer Sektenchef nimmt Mevlut in seiner Wohnung die Beichte ab. Aber ein großes Zeitbild entsteht so nicht, eher die Vorlage für eine zartbittere Familienserie über Väter und Söhne, Schwestern und Schwager. Kein schlechter Stoff und doch so viel weniger, als man von Orhan Pamuk erwarten darf.

Am Ende zieht Mevlut wieder mit seinen Boza-Behältern los, kreuz und quer durch die abendlichen Straßen Istanbuls. "Nun begriff er so recht, was er all die Jahre über schon irgendwie geahnt hatte, nämlich dass er auf seinen Streifzügen durch die Stadt das Gefühl hatte, sich im eigenen Kopf zu bewegen." Über diesen Kopf und seine Fremdheit in der Welt hätte man gern mehr erfahren. Aber sein Autor und Erfinder malt in "Diese Fremdheit in mir" lieber ein Gruppenbild als ein Porträt. In diesem kleinteiligen Roman steckt ein großer, der nicht zu Ende gedacht und geschrieben worden ist.

ANDREAS KILB

Orhan Pamuk: "Diese Fremdheit in mir". Übersetzt von Gerhard Meier. Hanser, 592 Seiten, 26 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Pamuks Roman ist alles zugleich: präzise recherchierte Migrations- und Stadtgeschichte, ausufernder Familienroman über vier Generationen und Entwicklungsgeschichte eines glücklichen Träumers und Versagers namens Mevlut." Sigrid Löffler, Deutschlandradio Kultur, 21.04.16

"Die Wirkkraft des Wortes spielt in diesem Roman eine ganz große Rolle. ... Ein vielstimmiges Mosaik über den Modernisierungsprozess in der Türkei und in Istanbul. ... Die Ruhe, mit der erzählt wird, hat mir sehr gefallen." Meike Feßmann, Deutschlandfunk Büchermarkt, 11.04.16

"Mit einem Wort, er hat vieles an der gegenwärtigen Türkei verständlicher gemacht." Barbara Frischmuth, Die Presse, 09.04.16

"Es ist schon grandios, was Pamuk alles zusammengetragen hat in seinem neuen Roman. Wie sich Istanbul im Verlauf der Lektüre dieser über 44 Jahre sich erstreckenden Geschichte verändert und vergrößert; wie man mit Pamuks unheroischem Helden Mevlut Karatas nach vorn lebt und nach hinten versteht. ... Bei Pamuk geht es darum, wie wir essen, ins Kino gehen, uns in Städten bewegen, wie wir lieben, einander bekriegen und heiraten. Und bei bestimmten Szenen überträgt sich ein so schönes Gefühl auf den Leser, dass er das Buch sofort zuklappen möchte, um das Wohlbehagen ganz auszukosten, damit es nie endet. Vielleicht vergisst man ja genau die Bücher nicht, die von so vielem handeln, dass man gar nicht mehr weiß, wovon im Einzelnen." Finn Canonica, Das Magazin, 09.04.16

"Dieses Buch bietet das erhellende, das detailliert ausgemalte Panorama nicht allein von Pamuks Vaterstadt Istanbul, sondern auch der türkischen Geschichte von den späten sechziger Jahren bis in die Gegenwart. ... Dieses Buch ist eine traurige und amüsante, eine bewegende und kritische Liebeserklärung an diese fantastische Stadt Istanbul. Wer die Türkei verstehen will, sollte es lesen." Ulrich Greiner, Die Zeit, 23.03.16

"Die Feinnervigkeit, mit der er lodernde Leidenschaften schildert, zeugt von sehr viel Menschenkenntnis, vor allem aber von genauem Wissen um psychologische Mechanismen. Darin gleicht er Stefan Zweig, mit dem er sich vor allem in punkto Authentizität auf ähnlichem Niveau bewegt. ... Orhan Pamuk gehört zu den weltbesten Schriftstellern. Für mich zählt er zu den Top Ten." Ulf Heise, MDR Figaro, 09.02.16

"Wie Marcel Proust ist Pamuk 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit'. ... Pamuk gelingt es meisterlich, in beschaulichem Tempo für seine Figuren einzunehmen. Er ist das literarische Gedächtnis der Türkei. In diesem melancholischen Roman skizziert der Schriftsteller das gewandelte, verschandelte Istanbul, ja eigentlich den Untergang eines Mythos." Stefan Berkholz, WDR3 Mosaik, 02.02.16

"Eine fabelhafte Geschichte, die Zauber und Realismus, Fantasie und konkrete Beobachtung mischt. Es ist ein verträumter Liebesroman, der über fast 600 Seiten das Hin und Her der Leidenschaften erzählt." Rüdiger Suchsland, SWR2 Kultur, 02.02.16

"'Diese Fremdheit in mir' ist ein großartiger Liebesroman, ein melancholischer kluger Blick hinter die Kulissen der Millionenmetropole Istanbul - erzählt mit großer Sympathie für die kleinen Leute." Ute Büsing, rbb inforadio, 01.02.16

"Orhan Pamuk hat einen der anrührendsten und erhellendsten Romane unserer Zeit geschrieben, strotzend vor Kraft und farbenfroh bis zum Schluss." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 01.02.16

"Ein Traum für Nostalgiker." Peter Pisa, Kurier, 30.01.16

"Es ist das erste Mal, dass Orhan Pamuk, der aus reichem Hause stammt, über einen Jedermann schreibt. ... Und Pamuk schaut nicht auf ihn herab, er beschreibt ihn voller Liebe und Menschlichkeit: ein unpolitischer Held, der bei seinen Verkaufstouren ständig in politische Gespräche hineingezogen wird und der sich aber nirgendwo hineinziehen lässt, ein türkischer Hans Castorp, der alles hörenswert findet, linkes Ohr, rechtes Ohr, der Kopf bleibt in der Mitte." Volker Weidemann, DER SPIEGEL, 25.01.16
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