Als der Bauer Libero Parri 1903 seine Kühe verkauft, um eine Garage im Piemont einzurichten, halten ihn alle für verrückt. Auch dann noch, als sich tatsächlich ein Rennfahrer, Graf D'Ambrosio, in die gottverlassene Gegend verirrt und das Schicksal seinen Lauf nimmt. Liberos schöne Frau findet eine zweite Liebe, und sein Sohn Ultimo zieht in die furchtbare Schlacht von Caporetto. Nach dem Ersten Weltkrieg verschlägt es Ultimo nach Amerika, wo er sich in Elizaveta, eine russische Prinzessin, verliebt. Seine große Leidenschaft bleibt jedoch die Jagd nach der vollkommenen Rennbahn ... Abenteuer und Geschwindigkeit, Liebe und Mythos, Träume und Visionen: Baricco verwebt sie zu einer Saga, die fast das ganze kurze 20. Jahrhundert umfasst und sich auf zwei Kontinenten abspielt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2008Räumliche Unzucht mit 140 Sachen!
Kann man den Plan einer Rennstrecke als Liebesbrief lesen? Man kann. Alessandro Baricco bündelt die Kinetik von Geschwindigkeit, Krieg und Sexualität in einem beeindruckenden Roman.
Wie kann die langsame Sprache des Romans sich gegen den Film und seine schlagenden Bilder behaupten? Gewiss, das Buch ist überall stets bereit. Doch ohne wirksame Effekte keine konkurrenzfähigen Affekte. Wer deshalb Literatur mit Auflage machen will, kann es nicht eigentlich gegen die Unterhaltungsformate, sondern nur mit ihnen, als Mittel zum Zweck, tun. Aus ihrem Milieu ist ein Medienartist hervorgegangen, der sich, etwa mit "Die Seide" (deutsch 1997), weltweit, auch in Deutschland, einen Namen gemacht hat: Alessandro Baricco.
Jetzt ist sein jüngstes Buch in deutscher Sprache erschienen: "Diese Geschichte"; auch dies in Italien (und Spanien) bereits ein Bestseller. Ganz offensichtlich gibt Baricco dem Leser, was heute des Lesers ist. Das lässt - zunächst - nicht unbedingt tief blicken. Denn der Appetit wird mit deftigen Grundnahrungsmitteln der Belletristik gestärkt, raffiniert als erzählerische Event-Gastronomie aufgeboten.
Als ob es Krisen, Selbstzweifel und Freitodreflexe des Romans nie gegeben hätte - hier wird mit Wollust fabuliert; der totgesagte Held kehrt in einer prall gefüllten Geschichte mit neuen Abenteuern wieder, episch weit in die Welt hinausgeschickt, im Bann grausam-schöner Wunder der modernen Technik; verstrickt in ewig junge Kämpfe um Liebe und Tod, Sex und Gewalt, brutalen Krieg und große Historie. Es ist, als wollte Baricco den mittelalterlichen Spielmann wiederauferstehen lassen. An Virtuosität jedenfalls fehlt es ihm nicht: Sein Philosophiestudium hat er mit Adorno abgeschlossen; er war Musik- und Kunstredakteur; moderiert im Fernsehen populäre Kultursendungen, rezitiert auf Lesungen die "Ilias" (und "Moby Dick") und betreibt seit 1994 eine Schule für kreatives Schreiben aller Art.
Kreativ setzt er deshalb auch seine Wirkmittel ein. Erste Maßnahme: Er spielt sie dort aus, wo sie ihm schon historisch entgegenkommen, in der großen kulturgeschichtlichen Erregung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, gleichermaßen als Aufbruch und Untergang des Abendlandes empfunden. Geschichten brauchen Gesichter: Libero Parri und sein Sohn Ultimo (der Letztgeborene). Sie sind gezeichnet von der fatalen Macht der Modernolatria. Zunächst kommt der neue Dämon aus Metall über sie, das Auto. Die Geschwindigkeit wirft sie aus der Bahn; ihr Lebensgefühl wird veloziferisch. Libero verkauft seine sechsundzwanzig Stück Vieh und eröffnet eine Garage, obwohl es noch so gut wie keine Autos gibt. Doch die Panne eines reichen Grafen führt zwei Motorverrückte zusammen. Sie fahren Rennen, teilen sich das Fahrzeug (und die Frau) und zahlen den Preis dafür: ein Unfall tötet den Grafen, verstümmelt Libero. Baricco zieht durchaus Seitenblicke mit ins Spiel: auf Scorseses Kinofilm "The Aviator" und das 1. Futuristische Manifest mit seiner umstürzenden Autofahrt.
Selbst die dort beschworene Wiedergeburt des Menschen aus dem Geist der Maschine kehrt, subtil vertieft, wieder. Mit der Unabwendbarkeit eines Schicksals fährt er auch in Ultimo, den Jungen, der, aber anders als die anderen, den "goldenen Schatten" hat. Deshalb geht er mit dem heiligen Ernst eines Erwählten auf ihn ein. Im Bilde des Vaters nimmt er den Rausch der Geschwindigkeit auf; im Rennfahrer, wohin das führt: zu geradezu räumlicher Unzucht, mit 140 km/h die Fesseln der Langsamkeit zu sprengen; um jeden Preis sich die Weite der Erde untertan zu machen - ein tödlicher Wahn. Da lässt der Erzähler den Jungen die Frage dieses Romans schlechthin ahnen: Wie wäre dieses neue wilde Tier zu bezähmen? Und die Antwort. Die Lösung liegt nicht im Auto, sondern auf der Straße.
Dann: Schnitt; Erster Weltkrieg, die andere große historische Deviation der Epoche. Baricco tut ein Übriges: Er zeigt ihn von seiner verheerenden, meistens unterschlagenen Seite, dem Zusammenbruch der italienischen Armee bei Caporetto; 300 000 Gefangene, zahllose Tote am Isonzo, übersetzt in die bewegende Geschichte eines Vaters, der das Drama rekonstruiert, warum sein Sohn, Hauptmann, als Deserteur erschossen wurde. Dieser, Ultimo (!) und ein Dritter hatten nichts anderes versucht, als im allgemeinen Zerfall der Front-, Feind- und Geländeordnung wieder Raum - zum Leben - zu gewinnen. Vergeblich. Sie verlieren sich in Tod, Gefängnis und Exil. Da ist sie wieder, Ultimos Romanfrage, in historischer Großaufnahme: wie in einer aus der Bahn geratenen Welt seinen Weg finden? Wieder Schnitt; spießige amerikanische Provinz, nach der geschichtlichen nun Schauplatz vehementer sentimentaler Unwegsamkeiten. Elizaveta, russische Prinzessin, Opfer der Oktoberrevolution, zieht durchs Land und vertreibt einfache Steinway-Pianos, inklusive Klavierunterricht. Ein italienischer Kriegsflüchtling, Ultimo, assistiert ihr. Ihre gegenseitige Anziehungskraft ist ebenso groß wie die Scheu, sie zu bekennen. Was folgt, ist eine Hommage an den Vater der Verdrängungstheorie, Sigmund Freud: Ihr unterdrücktes Begehren kehrt entstellt zu ihnen zurück. Elizaveta hält es im Tagebuch fest. Dort entlädt es sich hinter dem Rücken ihres Wohlverhaltens in "bösen" Phantasien. Es drängt sie, die Familien, die sie besucht, zu korrumpieren, vornehmlich sexuell. Ihr Einfallsreichtum ist beträchtlich. Schließlich kommen ihre kreisenden Vorstellungen dort an, von wo sie im Grunde ausgehen, bei Ultimo, dem sie - im Tagebuch - eine erhitzte Liebesnacht bereitet. Er liest es; wollte wohl darauf reagieren, mit fatalem Ausgang. Eines Tages ist er verschwunden. Sie werden sich niemals wieder sehen, aber doch niemals voneinander lassen können. Und hier beginnt die Geschichte hinter dieser Geschichte. Die Kinetik von Geschwindigkeit, Krieg und zuletzt Sexualität reißt die Figuren gänzlich über äußere und innere Grenzen hinaus, in die Anderwelt der Phantasie. Dort herrschen umstürzend andere Gesetze. An ihnen führt Baricco eine verdeckte Ermittlung zu Last und Lust der Kreativität. Elizaveta überschreitet die Schwelle, indem sie das Wort - ihres Tagebuchs - Fleisch werden lässt. Sie nimmt einen Mann, zwei Kinder und vor allem dessen Reichtum in Kauf. Damit materialisiert sie ihre sexuellen Phantasien bis hin zur Perversion. Das Vexierbild Ultimos lässt sie dennoch nicht los. Ihm ergeht es im Grunde nicht anders. Nur dass er seine unvollendete Liebe in der Sprache realisiert, die ihm auf den Leib geschrieben ist: im Bilde von Auto, Straße und Ziel, zusammengefügt in einer Rennstrecke, die am Ende wieder zurückfindet zum Anfang.
Und dann setzt die Geschichte zu einem so illusionären wie zeichenschweren Happy End in Cinemascope an. Ultimo hinterlegt ihr einen der ungewöhnlichsten Liebesbriefe, die je verfasst wurden: den kommentierten Plan einer - Rennstrecke. Jahre später spürt ihn Elizaveta auf. Sie begreift sofort: Das ist in seinem Tagebuch der entscheidende Eintrag für sie. Gegen jeden Anschein weiß sie, dass auch er seine Liebe phantastisch materialisiert haben muss. Mit Unsummen lässt sie jede noch so abgelegene Rennstrecke überprüfen. In England, auf einem ehemaligen Militärflugplatz, wird man fündig. Sie ist in einem geradezu tiefenpsychologischen Zustand: halb im Moor versunken, großenteils verschüttet. Elizaveta ist bereit, sich zu ruinieren, um sie wiederherstellen zu lassen; mietet, allein für sich, einen Rennwagen mit Chauffeur und gibt sich der Bahn hin, bis sie am eigenen Leibe das Phantasma Ultimos vollkommen erfahren hat - ein sinnlich-übersinnlicher Liebesakt, der ultimative ihres Lebens.
Baricco hat jedoch von Anfang an zu erkennen gegeben, dass die Verwerfungen in den Lebensläufen seiner Helden über sich hinausweisen auf eine Signatur des ganzen Jahrhunderts. Wer so wie sie aus der Bahn gerät, liefert sich seiner animalischen Natur aus. Ihre äußeren Symptome sind chaotische Verhältnisse; ihre inneren wahnhafte Phantasien, gewissermaßen die Sexualität des Denkens. Deren Entladungen bleiben ziellos. Die Kunst besteht darin, sich vom Chaos nicht auszehren zu lassen, sondern es "in einer einzigen vollendeten Figur auszudrücken": die gewundene Skulptur der Rennstrecke. Dann verwandelt sich zügellose Kreatürlichkeit in Kreativität.
Zuletzt erklärt dies auch den kurvenreichen Rundkurs dieser Geschichte selbst. In einem überaus animierten Vortrag materialisiert sie auf ihre - verbale - Weise die Ab- und Umwege ihrer Helden und macht sie so zur Leseerfahrung. Baricco bietet damit höchst anspruchsvolles und unterhaltsames Sprachkino. Es ist zugleich ein vitaler Versuch, mit der Illusionsmacht des Wortes sich gegen die Bildherrschaft des Films zur Wehr zu setzen.
WINFRIED WEHLE
Alessandro Baricco: "Diese Geschichte". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki. Carl Hanser Verlag, München 2008. 308 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kann man den Plan einer Rennstrecke als Liebesbrief lesen? Man kann. Alessandro Baricco bündelt die Kinetik von Geschwindigkeit, Krieg und Sexualität in einem beeindruckenden Roman.
Wie kann die langsame Sprache des Romans sich gegen den Film und seine schlagenden Bilder behaupten? Gewiss, das Buch ist überall stets bereit. Doch ohne wirksame Effekte keine konkurrenzfähigen Affekte. Wer deshalb Literatur mit Auflage machen will, kann es nicht eigentlich gegen die Unterhaltungsformate, sondern nur mit ihnen, als Mittel zum Zweck, tun. Aus ihrem Milieu ist ein Medienartist hervorgegangen, der sich, etwa mit "Die Seide" (deutsch 1997), weltweit, auch in Deutschland, einen Namen gemacht hat: Alessandro Baricco.
Jetzt ist sein jüngstes Buch in deutscher Sprache erschienen: "Diese Geschichte"; auch dies in Italien (und Spanien) bereits ein Bestseller. Ganz offensichtlich gibt Baricco dem Leser, was heute des Lesers ist. Das lässt - zunächst - nicht unbedingt tief blicken. Denn der Appetit wird mit deftigen Grundnahrungsmitteln der Belletristik gestärkt, raffiniert als erzählerische Event-Gastronomie aufgeboten.
Als ob es Krisen, Selbstzweifel und Freitodreflexe des Romans nie gegeben hätte - hier wird mit Wollust fabuliert; der totgesagte Held kehrt in einer prall gefüllten Geschichte mit neuen Abenteuern wieder, episch weit in die Welt hinausgeschickt, im Bann grausam-schöner Wunder der modernen Technik; verstrickt in ewig junge Kämpfe um Liebe und Tod, Sex und Gewalt, brutalen Krieg und große Historie. Es ist, als wollte Baricco den mittelalterlichen Spielmann wiederauferstehen lassen. An Virtuosität jedenfalls fehlt es ihm nicht: Sein Philosophiestudium hat er mit Adorno abgeschlossen; er war Musik- und Kunstredakteur; moderiert im Fernsehen populäre Kultursendungen, rezitiert auf Lesungen die "Ilias" (und "Moby Dick") und betreibt seit 1994 eine Schule für kreatives Schreiben aller Art.
Kreativ setzt er deshalb auch seine Wirkmittel ein. Erste Maßnahme: Er spielt sie dort aus, wo sie ihm schon historisch entgegenkommen, in der großen kulturgeschichtlichen Erregung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, gleichermaßen als Aufbruch und Untergang des Abendlandes empfunden. Geschichten brauchen Gesichter: Libero Parri und sein Sohn Ultimo (der Letztgeborene). Sie sind gezeichnet von der fatalen Macht der Modernolatria. Zunächst kommt der neue Dämon aus Metall über sie, das Auto. Die Geschwindigkeit wirft sie aus der Bahn; ihr Lebensgefühl wird veloziferisch. Libero verkauft seine sechsundzwanzig Stück Vieh und eröffnet eine Garage, obwohl es noch so gut wie keine Autos gibt. Doch die Panne eines reichen Grafen führt zwei Motorverrückte zusammen. Sie fahren Rennen, teilen sich das Fahrzeug (und die Frau) und zahlen den Preis dafür: ein Unfall tötet den Grafen, verstümmelt Libero. Baricco zieht durchaus Seitenblicke mit ins Spiel: auf Scorseses Kinofilm "The Aviator" und das 1. Futuristische Manifest mit seiner umstürzenden Autofahrt.
Selbst die dort beschworene Wiedergeburt des Menschen aus dem Geist der Maschine kehrt, subtil vertieft, wieder. Mit der Unabwendbarkeit eines Schicksals fährt er auch in Ultimo, den Jungen, der, aber anders als die anderen, den "goldenen Schatten" hat. Deshalb geht er mit dem heiligen Ernst eines Erwählten auf ihn ein. Im Bilde des Vaters nimmt er den Rausch der Geschwindigkeit auf; im Rennfahrer, wohin das führt: zu geradezu räumlicher Unzucht, mit 140 km/h die Fesseln der Langsamkeit zu sprengen; um jeden Preis sich die Weite der Erde untertan zu machen - ein tödlicher Wahn. Da lässt der Erzähler den Jungen die Frage dieses Romans schlechthin ahnen: Wie wäre dieses neue wilde Tier zu bezähmen? Und die Antwort. Die Lösung liegt nicht im Auto, sondern auf der Straße.
Dann: Schnitt; Erster Weltkrieg, die andere große historische Deviation der Epoche. Baricco tut ein Übriges: Er zeigt ihn von seiner verheerenden, meistens unterschlagenen Seite, dem Zusammenbruch der italienischen Armee bei Caporetto; 300 000 Gefangene, zahllose Tote am Isonzo, übersetzt in die bewegende Geschichte eines Vaters, der das Drama rekonstruiert, warum sein Sohn, Hauptmann, als Deserteur erschossen wurde. Dieser, Ultimo (!) und ein Dritter hatten nichts anderes versucht, als im allgemeinen Zerfall der Front-, Feind- und Geländeordnung wieder Raum - zum Leben - zu gewinnen. Vergeblich. Sie verlieren sich in Tod, Gefängnis und Exil. Da ist sie wieder, Ultimos Romanfrage, in historischer Großaufnahme: wie in einer aus der Bahn geratenen Welt seinen Weg finden? Wieder Schnitt; spießige amerikanische Provinz, nach der geschichtlichen nun Schauplatz vehementer sentimentaler Unwegsamkeiten. Elizaveta, russische Prinzessin, Opfer der Oktoberrevolution, zieht durchs Land und vertreibt einfache Steinway-Pianos, inklusive Klavierunterricht. Ein italienischer Kriegsflüchtling, Ultimo, assistiert ihr. Ihre gegenseitige Anziehungskraft ist ebenso groß wie die Scheu, sie zu bekennen. Was folgt, ist eine Hommage an den Vater der Verdrängungstheorie, Sigmund Freud: Ihr unterdrücktes Begehren kehrt entstellt zu ihnen zurück. Elizaveta hält es im Tagebuch fest. Dort entlädt es sich hinter dem Rücken ihres Wohlverhaltens in "bösen" Phantasien. Es drängt sie, die Familien, die sie besucht, zu korrumpieren, vornehmlich sexuell. Ihr Einfallsreichtum ist beträchtlich. Schließlich kommen ihre kreisenden Vorstellungen dort an, von wo sie im Grunde ausgehen, bei Ultimo, dem sie - im Tagebuch - eine erhitzte Liebesnacht bereitet. Er liest es; wollte wohl darauf reagieren, mit fatalem Ausgang. Eines Tages ist er verschwunden. Sie werden sich niemals wieder sehen, aber doch niemals voneinander lassen können. Und hier beginnt die Geschichte hinter dieser Geschichte. Die Kinetik von Geschwindigkeit, Krieg und zuletzt Sexualität reißt die Figuren gänzlich über äußere und innere Grenzen hinaus, in die Anderwelt der Phantasie. Dort herrschen umstürzend andere Gesetze. An ihnen führt Baricco eine verdeckte Ermittlung zu Last und Lust der Kreativität. Elizaveta überschreitet die Schwelle, indem sie das Wort - ihres Tagebuchs - Fleisch werden lässt. Sie nimmt einen Mann, zwei Kinder und vor allem dessen Reichtum in Kauf. Damit materialisiert sie ihre sexuellen Phantasien bis hin zur Perversion. Das Vexierbild Ultimos lässt sie dennoch nicht los. Ihm ergeht es im Grunde nicht anders. Nur dass er seine unvollendete Liebe in der Sprache realisiert, die ihm auf den Leib geschrieben ist: im Bilde von Auto, Straße und Ziel, zusammengefügt in einer Rennstrecke, die am Ende wieder zurückfindet zum Anfang.
Und dann setzt die Geschichte zu einem so illusionären wie zeichenschweren Happy End in Cinemascope an. Ultimo hinterlegt ihr einen der ungewöhnlichsten Liebesbriefe, die je verfasst wurden: den kommentierten Plan einer - Rennstrecke. Jahre später spürt ihn Elizaveta auf. Sie begreift sofort: Das ist in seinem Tagebuch der entscheidende Eintrag für sie. Gegen jeden Anschein weiß sie, dass auch er seine Liebe phantastisch materialisiert haben muss. Mit Unsummen lässt sie jede noch so abgelegene Rennstrecke überprüfen. In England, auf einem ehemaligen Militärflugplatz, wird man fündig. Sie ist in einem geradezu tiefenpsychologischen Zustand: halb im Moor versunken, großenteils verschüttet. Elizaveta ist bereit, sich zu ruinieren, um sie wiederherstellen zu lassen; mietet, allein für sich, einen Rennwagen mit Chauffeur und gibt sich der Bahn hin, bis sie am eigenen Leibe das Phantasma Ultimos vollkommen erfahren hat - ein sinnlich-übersinnlicher Liebesakt, der ultimative ihres Lebens.
Baricco hat jedoch von Anfang an zu erkennen gegeben, dass die Verwerfungen in den Lebensläufen seiner Helden über sich hinausweisen auf eine Signatur des ganzen Jahrhunderts. Wer so wie sie aus der Bahn gerät, liefert sich seiner animalischen Natur aus. Ihre äußeren Symptome sind chaotische Verhältnisse; ihre inneren wahnhafte Phantasien, gewissermaßen die Sexualität des Denkens. Deren Entladungen bleiben ziellos. Die Kunst besteht darin, sich vom Chaos nicht auszehren zu lassen, sondern es "in einer einzigen vollendeten Figur auszudrücken": die gewundene Skulptur der Rennstrecke. Dann verwandelt sich zügellose Kreatürlichkeit in Kreativität.
Zuletzt erklärt dies auch den kurvenreichen Rundkurs dieser Geschichte selbst. In einem überaus animierten Vortrag materialisiert sie auf ihre - verbale - Weise die Ab- und Umwege ihrer Helden und macht sie so zur Leseerfahrung. Baricco bietet damit höchst anspruchsvolles und unterhaltsames Sprachkino. Es ist zugleich ein vitaler Versuch, mit der Illusionsmacht des Wortes sich gegen die Bildherrschaft des Films zur Wehr zu setzen.
WINFRIED WEHLE
Alessandro Baricco: "Diese Geschichte". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki. Carl Hanser Verlag, München 2008. 308 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Kai Wiegandt kommt nach der Lektüre dieses neuen Romans von Alessandro Baricco zu einem durchwachsenen Fazit. Zwar will er dem italienischen Bestseller-Autor nicht absprechen, dass er sein Handwerk versteht. Auch seine Recherche hat er nach Einschätzung des Rezensenten ordentlich erledigt, und einige seiner Stilmittel ergeben in den Augen des Rezensenten durchaus "interessante Perspektiven". Doch unterm Strich gibt es in dem Roman zu viel, was Wiegandt stört: die ständige "Überhöhung von Alltäglichkeiten" oder die "Gier nach Drastik" zum Beispiel. Auch steckt nach Meinung des Rezensenten eine Überdosis Kitsch in der Geschichte. Und richtig unangenehm wird es in den Augen des Rezensenten, wenn Baricco sich dem "leeren Mystizismus Paulo Coelhos" annähere
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"Merkwürdig im besten Sinne: Sie werden staunen, sich immer wieder wundern über seine Wendungen. Und der Klang seiner Sprache wird weiter in Ihrem Kopf wirken." Brigitte, 13.02.08 "Ein prachtvolles Buch. Baricco hat einen Roman geschrieben, in dem fragiler Chronistenhumor einer schonungslosen Poesie der Tragödie begegnet. Beide Haltungen erzählen vom Versagen der Liebe, aber auch sehr tröstlich von der erlösenden Kraft der Fantasie." Lars L. von der Gönna, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 16.02.08 "Alessandro Baricco bündelt die Kinetik von Geschwindigkeit, Krieg und Sexualität in einem beeindruckenden Roman. ... Höchst anspruchvolles und unterhaltsames Sprachkino." Winfried Wehle, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.05.08 "Schon mit seinem Debütroman ... hat Alessandro Baricco in seiner italienischen Heimat Aufsehen erregt - und bald weit darüber hinaus." Ulrich Baron, Die Zeit, 13.03.08 "In seiner typischen verträumten Erzählweise lässt Baricco ein Europa der Jahrhundertwende auferstehen und berichtet von den Pionieren der Autorennfahrt." Maike Albath, Neue Zürcher Zeitung, 09.04.08