Simon ist auf der Suche nach einer Farbexplosion im Alltagsgrau. Mit der Hoffnung, eine Zugbekanntschaft wiederzufinden, fährt er kurzerhand in eine fremde Stadt. Antonia hat das Suchen aufgegeben und treibt ziellos durch ihr Leben. Zufällig kommen sie an einer Parkbank miteinander ins Gespräch. Obwohl oder gerade weil sie sich nicht kennen, können sie über Dinge sprechen, die sie sonst für sich behalten. Können für ein paar Tage Erinnerungen und Tagträume miteinander teilen. Als ihre Wege sich wieder trennen, scheint alles möglich.Eine Momentaufnahme der Veränderung - leicht und berührend wie ein guter Song!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Im Grunde wirken beide verloren
Elisabeth Steinkellner erspart ihren jugendlichen Helden nichts, schont ihre Leser kaum und schenkt ihnen dadurch einiges.
Von Arne Rautenberg
Als meine neunzehn Jahre alte Tochter mir sagte, sie würde niemals auf die Idee kommen, ein "Jugendbuch" zu lesen, sondern würde stets normale Erwachsenenliteratur bevorzugen, weil dort mehr möglich sei, wurde ich nachdenklich. Noch nachdenklicher wurde ich, als ich Elisabeth Steinkellners Jugendbuch mit dem blumigen Titel "Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen" las und feststellte, dass die darin verhandelten Themen ziemlich nah an dem sind, was meine Tochter derzeit beschäftigt. Das ist so ähnlich wie beim Otto-Katalog, dachte ich, wo die Models zehn Jahre jünger sind als die potentiellen Käufer, damit sich diese via Kleidung etwas frischer fühlen dürfen - im Jugendbuch ist es halt nur umgekehrt: Die potentiellen Leser sind ein paar Jahre jünger als die Protagonisten; sie lesen, damit sie schon mal einen Blick auf das schon irgendwie spürbar Kommende werfen können. Denn es ist die schwerste Übung für einen jungen Menschen, seinen Platz in der Welt zu finden.
In Steinkellners temporeich geschriebenem Kurzkapitel-Roman begegnen sich die beiden Sechzehnjährigen Simon und Antonia. Beide haben ihr Päckchen zu tragen: Simon ist der passive, schweigsame, irgendwie verloren scheinende Typ, der sich aufgerafft hat, seine letzte Ferienwoche zu nutzen, um in der großen Stadt einen flüchtigen Reisebekannten zu suchen. Der hat ihm nämlich den Kopf verdreht. Antonia hat zwar einen Freund, auf den sie sich jedoch nicht einlassen kann, weil ihr großer Bruder Joel mit seinen Depressionen und Psychosen die Familienstimmung in dunkles Fahrwasser gezogen hat; nach seinem Suizid fühlen sich alle schuldig und machen dicht.
Ein existentielles Grundrauschen zieht sich also durchs Buch. Der Blick nach vorn scheint vernebelt. Der problematischen, auch lähmenden Stimmung begegnet Steinkellner mit einer vital-sprühenden Sprache, poetischen Kapitelüberschriften und schnellen Perspektivwechseln der beiden Ich-Erzähler, die sich natürlich begegnen und gegenseitig ihre Offenheit schenken. Die ist auch nötig, denn bei der Krisenbewältigung rund um die ersten sexuellen Erfahrungen, das Thema Freundschaft und die Loslösung vom Elternhaus kann ein verständnisvolles und ratgebendes Gegenüber nicht schaden. Dabei spart Steinkellner, eine Qualität dieses Buches, nicht mit schonungslosen und heiklen Stellen: Sexuelle Episoden werden nicht ausgeblendet, sondern gehören wie selbstverständlich dazu, ohne zu viel und ohne zu wenig zu sagen. Schmerzhafte Innenansichten in Antonias Familie am Rande des Abgrunds werden geschildert, inklusive Entmystifizierung der Eltern, die auch nur Menschen sind: Der Vater etwa wird beim Internetpornogucken erwischt. Der vollen Breitseite Krise darf mit Wut und Tränen, Witz und Coolness begegnet werden, um sie durchzustehen. Und die dräuende Frage "Was fange ich eigentlich mit meinem Leben an?" wird erst einmal hintangestellt.
Bei allen Turbulenzen bewerten innere Monologe das Geschehen und ordnen es für die Leserschaft ein. Etwa, als Antonia die Nähe zu ihrer Mutter sucht: "Aber es geht nicht. Weil wir uns fremd geworden sind. Weil zwischen uns Mauern gewachsen sind, die nichts durch-dringt, keine Freude und kein Leid. Weil wir es verabsäumt haben, über die schlimmen Dinge offen zu reden, und es verlernt haben, einander von den schönen Dingen zu erzählen. Wenn man das gemeinsame Weinen tunlichst vermeidet, klappt auch das gemeinsame Lachen nicht mehr." Immerhin das Weinen klappt später doch gemeinsam.
Wunderbar erscheint die Einsicht Simons nach der Begegnung mit seiner Amour fou, dass das ewige Warten auf das vermeintlich Große, was kommen soll, es allein auch nicht bringt. In einer läuternden Bestandsaufnahme vergewissert er sich, dass doch schon ziemlich viel in seinem Leben mehr als o.k. ist. Das Selbstverständliche als Gewinn zu erkennen, das ist eine gute Botschaft. Apropos gute Botschaft, hier sind wir wieder beim Thema Jugendbuch, in dem das dunkle Rätsel Leben nicht dunkel bleiben darf, sondern sich mit einem Silberstreif am Horizont erhellt.
Elisabeth Steinkellner: "Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen". Roman.
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2018. 236 S., br., 13,95 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elisabeth Steinkellner erspart ihren jugendlichen Helden nichts, schont ihre Leser kaum und schenkt ihnen dadurch einiges.
Von Arne Rautenberg
Als meine neunzehn Jahre alte Tochter mir sagte, sie würde niemals auf die Idee kommen, ein "Jugendbuch" zu lesen, sondern würde stets normale Erwachsenenliteratur bevorzugen, weil dort mehr möglich sei, wurde ich nachdenklich. Noch nachdenklicher wurde ich, als ich Elisabeth Steinkellners Jugendbuch mit dem blumigen Titel "Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen" las und feststellte, dass die darin verhandelten Themen ziemlich nah an dem sind, was meine Tochter derzeit beschäftigt. Das ist so ähnlich wie beim Otto-Katalog, dachte ich, wo die Models zehn Jahre jünger sind als die potentiellen Käufer, damit sich diese via Kleidung etwas frischer fühlen dürfen - im Jugendbuch ist es halt nur umgekehrt: Die potentiellen Leser sind ein paar Jahre jünger als die Protagonisten; sie lesen, damit sie schon mal einen Blick auf das schon irgendwie spürbar Kommende werfen können. Denn es ist die schwerste Übung für einen jungen Menschen, seinen Platz in der Welt zu finden.
In Steinkellners temporeich geschriebenem Kurzkapitel-Roman begegnen sich die beiden Sechzehnjährigen Simon und Antonia. Beide haben ihr Päckchen zu tragen: Simon ist der passive, schweigsame, irgendwie verloren scheinende Typ, der sich aufgerafft hat, seine letzte Ferienwoche zu nutzen, um in der großen Stadt einen flüchtigen Reisebekannten zu suchen. Der hat ihm nämlich den Kopf verdreht. Antonia hat zwar einen Freund, auf den sie sich jedoch nicht einlassen kann, weil ihr großer Bruder Joel mit seinen Depressionen und Psychosen die Familienstimmung in dunkles Fahrwasser gezogen hat; nach seinem Suizid fühlen sich alle schuldig und machen dicht.
Ein existentielles Grundrauschen zieht sich also durchs Buch. Der Blick nach vorn scheint vernebelt. Der problematischen, auch lähmenden Stimmung begegnet Steinkellner mit einer vital-sprühenden Sprache, poetischen Kapitelüberschriften und schnellen Perspektivwechseln der beiden Ich-Erzähler, die sich natürlich begegnen und gegenseitig ihre Offenheit schenken. Die ist auch nötig, denn bei der Krisenbewältigung rund um die ersten sexuellen Erfahrungen, das Thema Freundschaft und die Loslösung vom Elternhaus kann ein verständnisvolles und ratgebendes Gegenüber nicht schaden. Dabei spart Steinkellner, eine Qualität dieses Buches, nicht mit schonungslosen und heiklen Stellen: Sexuelle Episoden werden nicht ausgeblendet, sondern gehören wie selbstverständlich dazu, ohne zu viel und ohne zu wenig zu sagen. Schmerzhafte Innenansichten in Antonias Familie am Rande des Abgrunds werden geschildert, inklusive Entmystifizierung der Eltern, die auch nur Menschen sind: Der Vater etwa wird beim Internetpornogucken erwischt. Der vollen Breitseite Krise darf mit Wut und Tränen, Witz und Coolness begegnet werden, um sie durchzustehen. Und die dräuende Frage "Was fange ich eigentlich mit meinem Leben an?" wird erst einmal hintangestellt.
Bei allen Turbulenzen bewerten innere Monologe das Geschehen und ordnen es für die Leserschaft ein. Etwa, als Antonia die Nähe zu ihrer Mutter sucht: "Aber es geht nicht. Weil wir uns fremd geworden sind. Weil zwischen uns Mauern gewachsen sind, die nichts durch-dringt, keine Freude und kein Leid. Weil wir es verabsäumt haben, über die schlimmen Dinge offen zu reden, und es verlernt haben, einander von den schönen Dingen zu erzählen. Wenn man das gemeinsame Weinen tunlichst vermeidet, klappt auch das gemeinsame Lachen nicht mehr." Immerhin das Weinen klappt später doch gemeinsam.
Wunderbar erscheint die Einsicht Simons nach der Begegnung mit seiner Amour fou, dass das ewige Warten auf das vermeintlich Große, was kommen soll, es allein auch nicht bringt. In einer läuternden Bestandsaufnahme vergewissert er sich, dass doch schon ziemlich viel in seinem Leben mehr als o.k. ist. Das Selbstverständliche als Gewinn zu erkennen, das ist eine gute Botschaft. Apropos gute Botschaft, hier sind wir wieder beim Thema Jugendbuch, in dem das dunkle Rätsel Leben nicht dunkel bleiben darf, sondern sich mit einem Silberstreif am Horizont erhellt.
Elisabeth Steinkellner: "Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen". Roman.
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2018. 236 S., br., 13,95 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Antje Weber lernt bei Elisabeth Steinkellner viel über das Chaos der Gefühle von Jugendlichen um die 17. Wie ein Junge seine Liebe zum gleichen Geschlecht entdeckt und ein Mädchen zarte Gefühle für einen Jungen, bringt die Autorin über zwei unterschiedliche Handlungssträngen aus kurzen Episoden schließlich gekonnt zusammen, erklärt Weber. Jugendliche Gefühlswirren und den Halt durch Freundschaft vermag sie dabei mit viel Gespür darzustellen, findet die Rezensentin. Für das Thema Sexualität unter Jugendlichen findet Steinkeller den richtigen Ton und die richtigen Bilder, meint Weber.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Die ungeschickten Suchbewegungen ihrer Figuren schildert Elisabeth Steinkellner ohne jede Herablassung. Sie schält im Gegenteil aus deren Gefühl des Unverstandenseins die existenzielle Einsamkeit heraus, die wir als Jugendliche oft zum ersten, aber nicht zum letzten Mal spüren.« Anja Robert, DIE ZEIT, 6.9.2018 »Elisabeth Steinkellner erspart ihren jugendlichen Helden nichts, schont ihre Leser kaum und schenkt ihnen dadurch einiges.« Arne Rautenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.10.2018 »Ein Roman über Zufälligkeiten und die Suche nach sich selbst. Leicht und berührend!« Deutschlandfunk, 6.10.2018 »Ein Roman über Zufälligkeiten und den Mut, offen zu sein. Leicht und berührend.« Schweizer Familie, 4.10.2018 »Es ist ein schönes und hartes Buch, ein Buch wie das Leben.« Gerlinde Pölsler, Falter, 10.10.2018 »Zwei wunderbar differenziert gezeichnete Hauptfiguren, eine stimmige Komposition, die großen Lebensthemen: Elisabeth Steinkellners neuer Roman hat alles, was ein guter Text braucht...« Kathrin Wexberg, 1001 Buch, 4/2018 »...blenden und dazu glaubwürdig erzählt.« Ulla Hanselmann, Stuttgarter Zeitung, 1.12.2018 »...Elisabeth Steinkellner rast in den kurzen, perspektivisch wechselnden Kapiteln in lässiger, virtuoser Hochgeschwindigkeit durch das Universum jugendlicher Existenznöte und Grundsatzfragen - ohne Scheu vor den einschlägigen Problemzonen.« Bettina Kugler, Luzerner Zeitung, 18.12.2018 »'Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen' ist ein kleines Meisterwerk der Jugendliteratur, das in seiner Art und Tiefgründigkeit an Werke von Wolfgang Herrndorf, John Green oder Stephen Chbosky erinnert und durchaus mit ihnen mithalten kann. Die Autorin fordert das Mitdenken und vor allem das Mitwachsen des Lesers ein, womit sie ein intensiveres Leseerlebnis erreicht.« Queerbuch, 23.1.2019 »Wie [die] beiden sehr unterschiedlichen Ich-Erzähler Simon und Antonia zusammentreffen und einander in ein paar schwierigen Momenten tatsächlich Halt geben können, schildert die Autorin mit viel Gespür für jugendliche Gefühlswirren.« Antje Weber, Süddeutsche Zeitung, 12.4.2019