Nachdenken, miteinander reden, die Welt sehen und einfach nur da sein. Das hat sich Shep für den Rest seines Lebens vorgenommen. Nach so vielen Jahren will er endlich seinen Job und die Staus auf dem Brooklyn-Queens-Expressway, all den Ärger des Alltags hinter sich lassen. Die knappe Million Dollar aus dem Verkauf seiner Firma soll diesen Traum Wirklichkeit werden lassen. Doch da teilt ihm seine Frau Glynis eine bestürzende Nachricht mit sie ist schwer krank, und Shep wird vermutlich all sein Geld brauchen, um sie nicht für immer zu verlieren. Mit Präzision und Anteilnahme beschreibt Lionel Shriver den tiefgreifenden Wandel einer Ehe, in der eine lebensbedrohliche Krankheit auch eine Chance für neue Zärtlichkeit, Nähe und sogar funkelnden Humor bietet. Ein literarischer Pageturner, dessen Kern nicht zuletzt die tragische Frage ist: Wie viel ist uns ein Menschenleben wert?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011Das Paradies wartet nicht
Lionel Shriver hat einen furios ehrlichen, fesselnden und tröstlichen Roman über ein Thema geschrieben, dem keiner entkommt: Krebs. Noch kein Autor hat sich der Krankheit so furchtlos gestellt.
Von Felicitas von Lovenberg
Mit Krebs wird heute jeder irgendwann konfrontiert, wenn nicht als Betroffener, dann als Angehöriger oder Freund. Zugleich ist die Krankheit in einer Zeit, da praktisch alles im Licht der Internet-Öffentlichkeit stattfindet, eines der letzten privaten Ereignisse. Sie offenbart die Scheu und Unsicherheit einer Zivilisation, "die nach strenger Etikette im Dezember Grußkarten versendet und die Gabel links neben den Teller legt - aber wenn die eigene Ehefrau unters Messer kommt, ist jeder auf sich gestellt". Während sich die zeitgenössische Literatur der Demenz, dem anderen großen Leiden unserer Zeit, bereits in so unterschiedlichen Werken zugewandt hat wie "Small World" von Martin Suter, Jonathan Franzens "Korrekturen" und aktuell Arno Geigers zärtlichem Vaterbuch "Der alte König in seinem Exil", waren die Krebserzählungen bisher vor allem autobiographisch, wie Christoph Schlingensiefs Tagebuch oder "Der Tod meiner Mutter" von Georg Diez. Trotz kleinerer Überraschungserfolge von Romanen wie "Glückliche Ehe" von Rafael Yglesias und "Das Zimmer" von Helen Garner blieb es bisher vor allem amerikanischen Fernsehserien wie "Breaking Bad" oder "The Big C" überlassen, das Thema weniger in seiner medizinischen als emotionalen und finanziellen Komplexität zu beleuchten.
Jetzt erscheint ein Roman, der keinem Aspekt der Krankheit ausweicht und dessen Lektüre dennoch seltsam glücklich macht. "So Much for That" heißt Lionel Shrivers Roman lakonisch im englischen Original. Da "So viel dazu" ihrem deutschen Verlag offenbar nicht gefühlig genug war, hat er das Werk dramatisch "Dieses Leben, das wir haben" getauft und ihm überdies einen Umschlag verpasst, der bestenfalls seichten Kitsch erwarten lässt. Man sollte sich von dieser Aufmachung nicht täuschen lassen. Zwar handelt alle große Literatur vom Tod - aber noch kein Buch so wie dieses.
Lionel Shrivers Romane waren noch nie etwas für Eskapisten, die lesend die Realität möglichst weit hinter sich lassen möchten. Die dreiundfünfzigjährige Amerikanerin, die seit langem mit Unterbrechungen in Großbritannien lebt und sich beim Treffen in ihrem Londoner Haus mit angenehm tiefer Stimme und amerikanischem Akzent als "committed expat", als überzeugte Auswanderin, bezeichnet, schreibt seit dreißig Jahren Romane. Herumgesprochen hat sich das allerdings erst, als vor sechs Jahren ihr beinharter, kluger und unbequemer Roman "Wir müssen über Kevin reden" über einen jugendlichen Amokläufer und seine Familie eine internationale Leserschaft aufschreckte. Es folgte "Liebespaarungen", ein nicht ganz so überzeugender, aber von der gedanklichen Anlage her ebenfalls brisanter Roman über die Schicksalsfragen jeglicher Partnerwahl.
"Dieses Leben, das wir haben" ist nicht nur Lionel Shrivers bisher gelungenstes Buch. Es ist ein Roman, der zentrale Fragen stellt nach dem - durchaus auch materiellen - Wert des Lebens, nach der Belastbarkeit von Bindungen und der Haltbarkeit von Charakter. Er fragt, welches Gewicht der Traum von einem anderen Leben besitzt, ob ein guter Tod nicht ebenso existentiell ist wie ein gutes Leben und ob Sterbende mehr davon verstehen, ob man über den Tod reden muss und ob wohl genug Gott in der Hand steckt, die unsere hält. Seine großen Themen verhandelt der Roman pragmatisch, auf sachlicher, sinnlicher, unmittelbarer Ebene. Lionel Shriver schildert die körperlichen Folgen der Krankheit, die Wirkung und Nebenwirkung von Medikamenten und Therapien, wie unterschiedlich Familie und Freunde mit dem Kranken umgehen und umgekehrt der Kranke mit ihnen. Die verschiedenen Arten der Anteilnahme, ob echt, bemüht oder geheuchelt, werden geradezu genüsslich durchdekliniert. Es sind die vermeintlich kleinen, beiläufigen Beobachtungen, die bei Shriver eine eigene Wucht entfalten. Zum Beispiel, dass schon das Wissen, dass man niemanden beschützen kann, anstrengend ist: "Wer hätte gedacht, dass etwas, das man nicht tun konnte und deshalb auch nicht tat, überhaupt Energie kosten konnte? Aber genau so war es."
Dass bei ihr ein Mesotheliom, ein seltener und aggressiver Bindegewebstumor, gefunden wurde, teilt Glynis ihrem Mann Shep just an dem Tag mit, da er beschlossen hat, dass nun endlich, komme, was wolle, sein zweites, sein eigentliches Leben beginnen soll. Den Traum von dem, was Shep bei sich "The Afterlife" getauft hat, eine Art diesseitiges Paradies, in dem er endlich nicht mehr nur schuften, funktionieren, Steuern zahlen, den Müll trennen, sich demütigen lassen muss, hegt er seit seiner Jugend. Über der Arbeit zu seiner Verwirklichung ist Shep achtundvierzig geworden und fürchtet, dass sein "Leben-B-Konstrukt" bald einfach nur noch nach gewöhnlicher Frührente aussehen wird. Zur Finanzierung des "Jenseits" hat er den Handwerksbetrieb "Der Allrounder" erst aufgebaut und dann für die magische Summe von einer Million Dollar verkauft. Jetzt will er mit seiner Frau und dem halbwüchsigen Sohn Zach (Tochter Amelia ist bereits aus dem Haus) auswandern - nach Pemba, Nachbarinsel von Sansibar vor der Küste Tansanias. Er glaubt fest daran, sich in einer Welt, in der alles einen Preis hat, auch die Freiheit irgendwann kaufen zu können.
Allerdings hat niemand außer ihm selbst diese Fluchtphantasie je ernst genommen, schon gar nicht seine Familie, die Nutznießer seines unermüdlichen Pflichtbewusstseins. Seine Frau Glynis, eine Silberschmiedin, hat mit ihrer Kunst nie Geld verdient, weil sie es nicht musste: "Jedes Familienmitglied hatte eine Rolle zu spielen, und Shep war eben derjenige, der zahlte." Und jetzt, da er mit den Flugtickets in der Hand verkündet, am nächsten Freitag aufbrechen zu wollen, lautet ihr einziger Kommentar: "Mir wäre es lieb, wenn du das nicht tätest. Ich fürchte, ich werde deine Krankenversicherung brauchen." Wie sich herausstellt, braucht sie nicht nur diese, sondern auch Sheps gesamte Ersparnisse, um den Kampf gegen den Tumor aufnehmen zu können.
In den Vereinigten Staaten hat man diesen Roman, der im Amerika der Jahre 2004 bis 2006 spielt, als geharnischte Kritik an einem Gesundheitssystem gelesen, dessen Reform nach wie vor aussteht. Aber explodierende Kosten im Gesundheitswesen sind beileibe kein isoliert amerikanisches Problem; allenthalben müssen in den westlichen Gesellschaften "hässliche Entscheidungen darüber getroffen werden, wie viel man für ein Leben ausgeben kann", sagt Lionel Shriver. Ihr sei wichtig gewesen, nicht nur die medizinischen Details, sondern auch die finanzielle Belastung einer Diagnose wie der von Glynis realistisch darzustellen. Während sie dieses Wissen aus erster Hand von einer Freundin bekam, die an einem Peritonealmesotheliom gestorben ist, waren die Recherchen für die zweite teure und tödliche Krankheit, die der Roman eindringlich porträtiert, wesentlich schwieriger. Flicka, die Tochter von Sheps Freund und Kollegen, hat familiäre Dysautonomie, eine erbliche unheilbare Störung des autonomen Nervensystems. Sie leidet unter Geh- und Sprechstörungen, dauerndem Auf und Ab des Blutdrucks, fehlender Tränenflüssigkeit; wegen der Schluck- und Atembeschwerden und der fehlenden Koordination des Verdauungssystems hat sie einen künstlichen Magenzugang. Doch ihr scharfer Verstand ist ungetrübt, und sie setzt ihn ein, um ihren Eltern die Unwürdigkeit ihrer Existenz immer wieder vorzuhalten - ein Umstand, den ihr Vater in ganz eigener Hinsicht ebenfalls akut fühlt. Und weil das Leben bekanntlich nicht auf den passenden Moment wartet, um einer zermürbenden Sorge die nächste hinzuzufügen, ist da auch noch Sheps Vater, ein presbyterianischer Geistlicher der nach einem Oberschenkelhalsbruch zum Pflegefall wird.
Bei aller medizinischen Gründlichkeit - und Lionel Shriver ist in ihren Beschreibungen nicht zimperlich - und trotz häufiger Diskussionen der Figuren etwa um die Wachkoma-Patientin Terri Schiavo, die während der Romanhandlung stirbt, ist dies aber alles andere als ein Thesenroman zum Gesundheitswesen. Während der Krebs sich in Glynis' Körper zwiebelartig in der Membran zwischen den Organen einnistet, legt Shriver wie ein Chirurg die psychologischen Schichten bloß, die befallen sind. Nicht zufällig nennt die Schriftstellerin, die in diesem Werk den erzählerischen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts mit der Zuspitzung zeitgenössischer Fernsehserien verbindet, gerade die beiden großen amerikanischen Desillusionisten Edith Wharton und Richard Yates als ihre Heroen, aber auch die Drehbuchautoren von "Mad Men". So direkt und gradlinig Shrivers Prosa daherkommt, so wahrhaftig ist ihre Charakterzeichnung. Und weil ausschließlich über die Charaktere erzählt wird, gesellen sich diese, allen voran Shep, ab sofort zum kollektiv erinnerten Romanpersonal.
Denn "Dieses Leben, das wir haben" ist auch ein großer Eheroman. "Die wahre Stärke einer Beziehung zeigt sich da, wo die romantische Liebe endet", stellt Lionel Shriver in typischer Ungerührtheit fest. Ob die eigene Ehe einer solchen Belastungsprobe standhält, erfahre man immer erst, wenn es so weit sei - ein Umstand, "der uns alle etwas nervös macht". Der seiner Frau rührend ergebene Shepherd A. Knacker ist tatsächlich der gute Hirte, der die Pflege von Glynis als Buße für seinen Pemba-Traum auffasst. Glynis hingegen, die "schon immer eine boshafte, dunkle Seite gehabt" hat, freut sich über Orkan Katrina, speit Gift und Galle über die Besucher und sieht nicht ein, warum sie in ihrem Zustand auch noch auf deren Befindlichkeiten Rücksicht nehmen sollte. Vor allem aber beschließt sie, den Krebs kleinzukriegen - ein Projekt, an dem Shep aber nur als "Dienstleister" beteiligt ist. ",Man ist sowieso allein.' - ,Nein, das bist du nicht.' Doch, sie war es."
Geschickt vermeidet Shriver das Ausbuchstabieren der Prognose, auch wenn sie deutlich macht, wie bewusst Shep die verrinnende Zeit ist, mit der Glynis noch rechnen darf. Einmal, nach der Operation, nennt er seinem Sohn die Frist, ein anderes Mal einer Freundin, doch der Leser bleibt, wie so oft in diesem furchtlosen, dabei immer diskreten Roman, außen vor: "Alle hatten Internet; wenn sie es denn wirklich wissen wollten, konnten sie ja nachsehen."
Dass die Lektüre, die vor unangenehmen Wahrheiten strotzt wie der, dass im Ernstfall "die Leute, die man für ,enge Freunde' gehalten hatte, nicht notwendigerweise dieselben Leute waren, auf die man sich verlassen konnte", dennoch erbaulich ist, zeugt von der Könnerschaft dieser Autorin, die ihre Figuren so wenig in Watte packt wie den Leser. Sheps Heißhungerattacken und Gewichtszunahme angesichts der Appetitlosigkeit und Magerkeit von Glynis sind nur einer ihrer Appelle, die eigene Gesundheit auszukosten, solange sie währt.
Wie Glynis und Shep den fast aussichtslosen Kampf gegen die Krankheit aufnehmen, was das für jeden von ihnen und für ihre Ehe bedeutet, wie Familie und Freunde damit umgehen und welche Rolle Pemba zum - sehr amerikanischen - Ende doch noch spielt, sollte man selbst lesen. Denn ehrlicher, fesselnder und tröstlicher ist dem großen K in der Gegenwartsliteratur noch niemand begegnet. So viel dazu.
Lionel Shriver: "Dieses Leben, das wir haben". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Monika Schmalz. Piper Verlag, München 2011. 542 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lionel Shriver hat einen furios ehrlichen, fesselnden und tröstlichen Roman über ein Thema geschrieben, dem keiner entkommt: Krebs. Noch kein Autor hat sich der Krankheit so furchtlos gestellt.
Von Felicitas von Lovenberg
Mit Krebs wird heute jeder irgendwann konfrontiert, wenn nicht als Betroffener, dann als Angehöriger oder Freund. Zugleich ist die Krankheit in einer Zeit, da praktisch alles im Licht der Internet-Öffentlichkeit stattfindet, eines der letzten privaten Ereignisse. Sie offenbart die Scheu und Unsicherheit einer Zivilisation, "die nach strenger Etikette im Dezember Grußkarten versendet und die Gabel links neben den Teller legt - aber wenn die eigene Ehefrau unters Messer kommt, ist jeder auf sich gestellt". Während sich die zeitgenössische Literatur der Demenz, dem anderen großen Leiden unserer Zeit, bereits in so unterschiedlichen Werken zugewandt hat wie "Small World" von Martin Suter, Jonathan Franzens "Korrekturen" und aktuell Arno Geigers zärtlichem Vaterbuch "Der alte König in seinem Exil", waren die Krebserzählungen bisher vor allem autobiographisch, wie Christoph Schlingensiefs Tagebuch oder "Der Tod meiner Mutter" von Georg Diez. Trotz kleinerer Überraschungserfolge von Romanen wie "Glückliche Ehe" von Rafael Yglesias und "Das Zimmer" von Helen Garner blieb es bisher vor allem amerikanischen Fernsehserien wie "Breaking Bad" oder "The Big C" überlassen, das Thema weniger in seiner medizinischen als emotionalen und finanziellen Komplexität zu beleuchten.
Jetzt erscheint ein Roman, der keinem Aspekt der Krankheit ausweicht und dessen Lektüre dennoch seltsam glücklich macht. "So Much for That" heißt Lionel Shrivers Roman lakonisch im englischen Original. Da "So viel dazu" ihrem deutschen Verlag offenbar nicht gefühlig genug war, hat er das Werk dramatisch "Dieses Leben, das wir haben" getauft und ihm überdies einen Umschlag verpasst, der bestenfalls seichten Kitsch erwarten lässt. Man sollte sich von dieser Aufmachung nicht täuschen lassen. Zwar handelt alle große Literatur vom Tod - aber noch kein Buch so wie dieses.
Lionel Shrivers Romane waren noch nie etwas für Eskapisten, die lesend die Realität möglichst weit hinter sich lassen möchten. Die dreiundfünfzigjährige Amerikanerin, die seit langem mit Unterbrechungen in Großbritannien lebt und sich beim Treffen in ihrem Londoner Haus mit angenehm tiefer Stimme und amerikanischem Akzent als "committed expat", als überzeugte Auswanderin, bezeichnet, schreibt seit dreißig Jahren Romane. Herumgesprochen hat sich das allerdings erst, als vor sechs Jahren ihr beinharter, kluger und unbequemer Roman "Wir müssen über Kevin reden" über einen jugendlichen Amokläufer und seine Familie eine internationale Leserschaft aufschreckte. Es folgte "Liebespaarungen", ein nicht ganz so überzeugender, aber von der gedanklichen Anlage her ebenfalls brisanter Roman über die Schicksalsfragen jeglicher Partnerwahl.
"Dieses Leben, das wir haben" ist nicht nur Lionel Shrivers bisher gelungenstes Buch. Es ist ein Roman, der zentrale Fragen stellt nach dem - durchaus auch materiellen - Wert des Lebens, nach der Belastbarkeit von Bindungen und der Haltbarkeit von Charakter. Er fragt, welches Gewicht der Traum von einem anderen Leben besitzt, ob ein guter Tod nicht ebenso existentiell ist wie ein gutes Leben und ob Sterbende mehr davon verstehen, ob man über den Tod reden muss und ob wohl genug Gott in der Hand steckt, die unsere hält. Seine großen Themen verhandelt der Roman pragmatisch, auf sachlicher, sinnlicher, unmittelbarer Ebene. Lionel Shriver schildert die körperlichen Folgen der Krankheit, die Wirkung und Nebenwirkung von Medikamenten und Therapien, wie unterschiedlich Familie und Freunde mit dem Kranken umgehen und umgekehrt der Kranke mit ihnen. Die verschiedenen Arten der Anteilnahme, ob echt, bemüht oder geheuchelt, werden geradezu genüsslich durchdekliniert. Es sind die vermeintlich kleinen, beiläufigen Beobachtungen, die bei Shriver eine eigene Wucht entfalten. Zum Beispiel, dass schon das Wissen, dass man niemanden beschützen kann, anstrengend ist: "Wer hätte gedacht, dass etwas, das man nicht tun konnte und deshalb auch nicht tat, überhaupt Energie kosten konnte? Aber genau so war es."
Dass bei ihr ein Mesotheliom, ein seltener und aggressiver Bindegewebstumor, gefunden wurde, teilt Glynis ihrem Mann Shep just an dem Tag mit, da er beschlossen hat, dass nun endlich, komme, was wolle, sein zweites, sein eigentliches Leben beginnen soll. Den Traum von dem, was Shep bei sich "The Afterlife" getauft hat, eine Art diesseitiges Paradies, in dem er endlich nicht mehr nur schuften, funktionieren, Steuern zahlen, den Müll trennen, sich demütigen lassen muss, hegt er seit seiner Jugend. Über der Arbeit zu seiner Verwirklichung ist Shep achtundvierzig geworden und fürchtet, dass sein "Leben-B-Konstrukt" bald einfach nur noch nach gewöhnlicher Frührente aussehen wird. Zur Finanzierung des "Jenseits" hat er den Handwerksbetrieb "Der Allrounder" erst aufgebaut und dann für die magische Summe von einer Million Dollar verkauft. Jetzt will er mit seiner Frau und dem halbwüchsigen Sohn Zach (Tochter Amelia ist bereits aus dem Haus) auswandern - nach Pemba, Nachbarinsel von Sansibar vor der Küste Tansanias. Er glaubt fest daran, sich in einer Welt, in der alles einen Preis hat, auch die Freiheit irgendwann kaufen zu können.
Allerdings hat niemand außer ihm selbst diese Fluchtphantasie je ernst genommen, schon gar nicht seine Familie, die Nutznießer seines unermüdlichen Pflichtbewusstseins. Seine Frau Glynis, eine Silberschmiedin, hat mit ihrer Kunst nie Geld verdient, weil sie es nicht musste: "Jedes Familienmitglied hatte eine Rolle zu spielen, und Shep war eben derjenige, der zahlte." Und jetzt, da er mit den Flugtickets in der Hand verkündet, am nächsten Freitag aufbrechen zu wollen, lautet ihr einziger Kommentar: "Mir wäre es lieb, wenn du das nicht tätest. Ich fürchte, ich werde deine Krankenversicherung brauchen." Wie sich herausstellt, braucht sie nicht nur diese, sondern auch Sheps gesamte Ersparnisse, um den Kampf gegen den Tumor aufnehmen zu können.
In den Vereinigten Staaten hat man diesen Roman, der im Amerika der Jahre 2004 bis 2006 spielt, als geharnischte Kritik an einem Gesundheitssystem gelesen, dessen Reform nach wie vor aussteht. Aber explodierende Kosten im Gesundheitswesen sind beileibe kein isoliert amerikanisches Problem; allenthalben müssen in den westlichen Gesellschaften "hässliche Entscheidungen darüber getroffen werden, wie viel man für ein Leben ausgeben kann", sagt Lionel Shriver. Ihr sei wichtig gewesen, nicht nur die medizinischen Details, sondern auch die finanzielle Belastung einer Diagnose wie der von Glynis realistisch darzustellen. Während sie dieses Wissen aus erster Hand von einer Freundin bekam, die an einem Peritonealmesotheliom gestorben ist, waren die Recherchen für die zweite teure und tödliche Krankheit, die der Roman eindringlich porträtiert, wesentlich schwieriger. Flicka, die Tochter von Sheps Freund und Kollegen, hat familiäre Dysautonomie, eine erbliche unheilbare Störung des autonomen Nervensystems. Sie leidet unter Geh- und Sprechstörungen, dauerndem Auf und Ab des Blutdrucks, fehlender Tränenflüssigkeit; wegen der Schluck- und Atembeschwerden und der fehlenden Koordination des Verdauungssystems hat sie einen künstlichen Magenzugang. Doch ihr scharfer Verstand ist ungetrübt, und sie setzt ihn ein, um ihren Eltern die Unwürdigkeit ihrer Existenz immer wieder vorzuhalten - ein Umstand, den ihr Vater in ganz eigener Hinsicht ebenfalls akut fühlt. Und weil das Leben bekanntlich nicht auf den passenden Moment wartet, um einer zermürbenden Sorge die nächste hinzuzufügen, ist da auch noch Sheps Vater, ein presbyterianischer Geistlicher der nach einem Oberschenkelhalsbruch zum Pflegefall wird.
Bei aller medizinischen Gründlichkeit - und Lionel Shriver ist in ihren Beschreibungen nicht zimperlich - und trotz häufiger Diskussionen der Figuren etwa um die Wachkoma-Patientin Terri Schiavo, die während der Romanhandlung stirbt, ist dies aber alles andere als ein Thesenroman zum Gesundheitswesen. Während der Krebs sich in Glynis' Körper zwiebelartig in der Membran zwischen den Organen einnistet, legt Shriver wie ein Chirurg die psychologischen Schichten bloß, die befallen sind. Nicht zufällig nennt die Schriftstellerin, die in diesem Werk den erzählerischen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts mit der Zuspitzung zeitgenössischer Fernsehserien verbindet, gerade die beiden großen amerikanischen Desillusionisten Edith Wharton und Richard Yates als ihre Heroen, aber auch die Drehbuchautoren von "Mad Men". So direkt und gradlinig Shrivers Prosa daherkommt, so wahrhaftig ist ihre Charakterzeichnung. Und weil ausschließlich über die Charaktere erzählt wird, gesellen sich diese, allen voran Shep, ab sofort zum kollektiv erinnerten Romanpersonal.
Denn "Dieses Leben, das wir haben" ist auch ein großer Eheroman. "Die wahre Stärke einer Beziehung zeigt sich da, wo die romantische Liebe endet", stellt Lionel Shriver in typischer Ungerührtheit fest. Ob die eigene Ehe einer solchen Belastungsprobe standhält, erfahre man immer erst, wenn es so weit sei - ein Umstand, "der uns alle etwas nervös macht". Der seiner Frau rührend ergebene Shepherd A. Knacker ist tatsächlich der gute Hirte, der die Pflege von Glynis als Buße für seinen Pemba-Traum auffasst. Glynis hingegen, die "schon immer eine boshafte, dunkle Seite gehabt" hat, freut sich über Orkan Katrina, speit Gift und Galle über die Besucher und sieht nicht ein, warum sie in ihrem Zustand auch noch auf deren Befindlichkeiten Rücksicht nehmen sollte. Vor allem aber beschließt sie, den Krebs kleinzukriegen - ein Projekt, an dem Shep aber nur als "Dienstleister" beteiligt ist. ",Man ist sowieso allein.' - ,Nein, das bist du nicht.' Doch, sie war es."
Geschickt vermeidet Shriver das Ausbuchstabieren der Prognose, auch wenn sie deutlich macht, wie bewusst Shep die verrinnende Zeit ist, mit der Glynis noch rechnen darf. Einmal, nach der Operation, nennt er seinem Sohn die Frist, ein anderes Mal einer Freundin, doch der Leser bleibt, wie so oft in diesem furchtlosen, dabei immer diskreten Roman, außen vor: "Alle hatten Internet; wenn sie es denn wirklich wissen wollten, konnten sie ja nachsehen."
Dass die Lektüre, die vor unangenehmen Wahrheiten strotzt wie der, dass im Ernstfall "die Leute, die man für ,enge Freunde' gehalten hatte, nicht notwendigerweise dieselben Leute waren, auf die man sich verlassen konnte", dennoch erbaulich ist, zeugt von der Könnerschaft dieser Autorin, die ihre Figuren so wenig in Watte packt wie den Leser. Sheps Heißhungerattacken und Gewichtszunahme angesichts der Appetitlosigkeit und Magerkeit von Glynis sind nur einer ihrer Appelle, die eigene Gesundheit auszukosten, solange sie währt.
Wie Glynis und Shep den fast aussichtslosen Kampf gegen die Krankheit aufnehmen, was das für jeden von ihnen und für ihre Ehe bedeutet, wie Familie und Freunde damit umgehen und welche Rolle Pemba zum - sehr amerikanischen - Ende doch noch spielt, sollte man selbst lesen. Denn ehrlicher, fesselnder und tröstlicher ist dem großen K in der Gegenwartsliteratur noch niemand begegnet. So viel dazu.
Lionel Shriver: "Dieses Leben, das wir haben". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Monika Schmalz. Piper Verlag, München 2011. 542 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.11.2011Was packt man ein für den Rest des Lebens?
Lionel Shriver hat einen Roman über das marode Gesundheitswesen der USA geschrieben – das ist ehrenwert, doch leider nicht gut genug umgesetzt
Der erste, wuchtige Satz in Lionel Shrivers neuem Roman zieht mit einem Ruck den Vorhang auf: Die Sicht wird frei auf zwei amerikanische Mittelschichtfamilien, die in ihrem amerikanischen Mittelschichtalltag irgendwie zurechtkommen müssen, auch wenn das Schicksal hart zuschlägt. Im Leben der beiden Kollegen Shep und Jackson gibt es nicht viel zu lachen, und daran ist auch und nicht zuletzt die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Vereinigten Staaten schuld. Auch darum hat man dort diesen Roman als massive Anklage an die Politik gelesen, die sich nicht um die kleinen Leute kümmert, die ihr Leben lang mit einem Bein im persönlichen Desaster stehen. Dass einem nichts passieren darf in diesem Land, keine Kündigung, das Alter nicht, und eine schwere Krankheit schon gar nicht. Das ist das immer wiederkehrende Leitmotiv.
Shep Knacker, ehemaliger Inhaber einer kleinen Handwerksfirma, jetzt in eben jener Firma Angestellter und Underdog, will weg. Aber Shep muss noch ein bisschen durchhalten. Die Firma hat er verkauft, das Geld angelegt, immer hat er sich alles verkniffen, gespart, gekratzt, gehortet, träumt vom Ausstieg „ins Jenseits“, auf die Insel Pemba, wo die Strände weiß und seine Dollars viel wert sind, wo er leben kann wie ein König bis ans Ende seiner Tage. Den Koffer hat er schon gepackt, da kommt Glynis, seine Frau, vom Arzt, mit einer Diagnose, die in Sekundenschnelle Sheps Traum vom Paradies zunichte macht. Und weil Shep ein gutmütiger Kerl ist und seine Frau liebt, wird er das Ticket verfallen lassen und sich kümmern. Er wird alles geben, damit sie sich und ihren kranken Körper besser aushält. Dass die Behandlung die Ersparnisse auffrisst und die finanzielle Belastung nach der verheerenden Diagnose kaum zu stemmen ist, davon handelt der Roman. Shep bleibt. Arbeitet – vom neuen Chef gepiesackt – weiter in der Firma und blickt regelmäßig auf seine Bankauszüge. Er ist tapfer, er trainiert positives Denken, rackert, pflegt, kocht, wäscht, zähmt den pubertierenden Sohn. Währenddessen verfällt der Körper seiner Frau.
Trost, wenn man davon überhaupt sprechen kann, findet er bei seinem Freund Jackson. Auch der hat die Last eines körperlichen Verfalls zu tragen, denn seine 17-jährige Tochter leidet schwer an der seltenen Erbkrankheit FD. Auch bei ihr ist manches außer Kontrolle, das Verdauungssystem, der Magenzugang, die Speichelproduktion. Beide Frauen kämpfen mit ihren Eingeweiden, Körperflüssigkeiten, Auswürfen, sie revoltieren gegen ihr Schicksal, sind launisch und depressiv, in beiden Familien wird der Alltag von Krankheit beherrscht, Tag und Nacht und rund um die Uhr. Und der Leser ist immer mit von der Partie, die Autorin ist eine Perfektionistin der Nahaufnahme, mit ihrem Makroobjektiv tastet sie alles ab. Alles, was im Körper bleibt und was aus ihm herauskommt. Gefühlte Zeit oder Echtzeit, egal, es sind 540 Seiten Text, die uns in medizinischer Ausführlichkeit davon berichten. Nicht einmal eine Penisvergrößerungsoperation wird ausgelassen, auch die Folgen der missglückten Operation werden dem Leser in aller Drastik geschildert – ein Gemälde von Francis Bacon kann dagegen richtig gute Laune machen.
Aber die Physis ist nur das eine. Mit dem, was sich im Inneren, in den Seelen, den Psychen ihrer Figuren tut, wie sie sich in ihr Schicksal fügen, aufeinander reagieren, sich lieben und hassen und sich nicht abfinden wollen und dann doch, damit hat es die Autorin schwer. Da ist purer Realismus nicht genug, da muss ein anderes Instrument her als das Makroobjektiv. Auch Empathie reicht nicht aus. Nicht Kitsch und Klischees sind hier das eigentliche Problem, sondern Simplifizierung, Grobschlächtigkeit und der Mangel an eben jener Genauigkeit, mit der sie die körperlichen Organe seziert. Dazu kommt der medizinische Erklärungsnotstand, der jeden Dialog zur Strecke bringt, und dem zu widerstehen der Autorin einfach nicht gelingt. Überhaupt wird viel erklärt, was bestenfalls der naturwissenschaftlichen Bildung bekommt, aber leider nicht dem Text: „Ich weiß ja, sie meint es nicht so, und es liegt wahrscheinlich am Klonopin und Depakot. Bei beiden steht unter den Nebeneffekten auch ‚Selbstmordgedanken‘.“ Schade, dass die Nebenfiguren nicht mit der ihnen gebührenden Behutsamkeit behandelt werden, sondern zu überspannten Witzfiguren mutieren.
Dabei ist Shrivers Vorhaben ein großes, vielleicht sogar ehrenwertes: Es geht um Amerika. Um den Sozialstaat, oder besser darum, dass er nicht existiert. Es geht um das Gesundheitswesen und die notwendige Reform des Krankenkassensystems, um gesellschaftlich bedingte Minderwertigkeitskomplexe und Potenzprobleme, um Altenbetreuung, Suizid und Sterbehilfe. Große, brisante Themen der Gegenwart, aber Volumen und Gewicht rechtfertigen nicht, dass es dem Text an eben der Sorgfalt und Gründlichkeit mangelt, derer es bedarf, um die seelische Feinmotorik von Gefühlen und Charaktereigenschaften konzise zu beschreiben. Von Melodie, vom schönen Klang der Sprache, überhaupt von Poesie, ganz zu schweigen: „Nach der bedrückenden Ernsthaftigkeit des vergangenen Jahres konnte Shep eine Geisteshaltung, die das Beiwerk der westlichen Zivilisation zu verspielten legosteinartigen Anordnungen zusammenschrumpfte, nur begrüßen.“
Gegen Ende fallen zunehmend Nachlässigkeiten der Übersetzerin Monika Schmalz auf: Da „sitzt“ das Wasser im Becken, eine „Philippinerin“ betritt den Raum, und Shep „lässt seinen Blick über den Wohnbestand schweifen“. Solche Stellen gibt es unzählige, doch an der Übersetzung allein kann das nicht immer liegen. Irgendwann sagt Shep, dass er immer viel zu viel einpackt, „um für jede Eventualität gerüstet zu sein“. Am Ende reist er dann tatsächlich nach Pemba ab, diesmal allerdings fast ohne Gepäck, dafür mit jeder Menge Eventualitäten.
FRANZISKA SPERR
LIONEL SHRIVER: Dieses Leben, das wir haben. Roman. Aus dem Englischen von Monika Schmalz. Piper Verlag, München 2011. 544 Seiten, 19,95 Euro.
Ein Gemälde von
Francis Bacon kann dagegen
richtig gute Laune machen
Erste Hilfe für die Demonstranten in New York. Foto: Bill Kotsatos/Polaris/Studio X
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lionel Shriver hat einen Roman über das marode Gesundheitswesen der USA geschrieben – das ist ehrenwert, doch leider nicht gut genug umgesetzt
Der erste, wuchtige Satz in Lionel Shrivers neuem Roman zieht mit einem Ruck den Vorhang auf: Die Sicht wird frei auf zwei amerikanische Mittelschichtfamilien, die in ihrem amerikanischen Mittelschichtalltag irgendwie zurechtkommen müssen, auch wenn das Schicksal hart zuschlägt. Im Leben der beiden Kollegen Shep und Jackson gibt es nicht viel zu lachen, und daran ist auch und nicht zuletzt die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Vereinigten Staaten schuld. Auch darum hat man dort diesen Roman als massive Anklage an die Politik gelesen, die sich nicht um die kleinen Leute kümmert, die ihr Leben lang mit einem Bein im persönlichen Desaster stehen. Dass einem nichts passieren darf in diesem Land, keine Kündigung, das Alter nicht, und eine schwere Krankheit schon gar nicht. Das ist das immer wiederkehrende Leitmotiv.
Shep Knacker, ehemaliger Inhaber einer kleinen Handwerksfirma, jetzt in eben jener Firma Angestellter und Underdog, will weg. Aber Shep muss noch ein bisschen durchhalten. Die Firma hat er verkauft, das Geld angelegt, immer hat er sich alles verkniffen, gespart, gekratzt, gehortet, träumt vom Ausstieg „ins Jenseits“, auf die Insel Pemba, wo die Strände weiß und seine Dollars viel wert sind, wo er leben kann wie ein König bis ans Ende seiner Tage. Den Koffer hat er schon gepackt, da kommt Glynis, seine Frau, vom Arzt, mit einer Diagnose, die in Sekundenschnelle Sheps Traum vom Paradies zunichte macht. Und weil Shep ein gutmütiger Kerl ist und seine Frau liebt, wird er das Ticket verfallen lassen und sich kümmern. Er wird alles geben, damit sie sich und ihren kranken Körper besser aushält. Dass die Behandlung die Ersparnisse auffrisst und die finanzielle Belastung nach der verheerenden Diagnose kaum zu stemmen ist, davon handelt der Roman. Shep bleibt. Arbeitet – vom neuen Chef gepiesackt – weiter in der Firma und blickt regelmäßig auf seine Bankauszüge. Er ist tapfer, er trainiert positives Denken, rackert, pflegt, kocht, wäscht, zähmt den pubertierenden Sohn. Währenddessen verfällt der Körper seiner Frau.
Trost, wenn man davon überhaupt sprechen kann, findet er bei seinem Freund Jackson. Auch der hat die Last eines körperlichen Verfalls zu tragen, denn seine 17-jährige Tochter leidet schwer an der seltenen Erbkrankheit FD. Auch bei ihr ist manches außer Kontrolle, das Verdauungssystem, der Magenzugang, die Speichelproduktion. Beide Frauen kämpfen mit ihren Eingeweiden, Körperflüssigkeiten, Auswürfen, sie revoltieren gegen ihr Schicksal, sind launisch und depressiv, in beiden Familien wird der Alltag von Krankheit beherrscht, Tag und Nacht und rund um die Uhr. Und der Leser ist immer mit von der Partie, die Autorin ist eine Perfektionistin der Nahaufnahme, mit ihrem Makroobjektiv tastet sie alles ab. Alles, was im Körper bleibt und was aus ihm herauskommt. Gefühlte Zeit oder Echtzeit, egal, es sind 540 Seiten Text, die uns in medizinischer Ausführlichkeit davon berichten. Nicht einmal eine Penisvergrößerungsoperation wird ausgelassen, auch die Folgen der missglückten Operation werden dem Leser in aller Drastik geschildert – ein Gemälde von Francis Bacon kann dagegen richtig gute Laune machen.
Aber die Physis ist nur das eine. Mit dem, was sich im Inneren, in den Seelen, den Psychen ihrer Figuren tut, wie sie sich in ihr Schicksal fügen, aufeinander reagieren, sich lieben und hassen und sich nicht abfinden wollen und dann doch, damit hat es die Autorin schwer. Da ist purer Realismus nicht genug, da muss ein anderes Instrument her als das Makroobjektiv. Auch Empathie reicht nicht aus. Nicht Kitsch und Klischees sind hier das eigentliche Problem, sondern Simplifizierung, Grobschlächtigkeit und der Mangel an eben jener Genauigkeit, mit der sie die körperlichen Organe seziert. Dazu kommt der medizinische Erklärungsnotstand, der jeden Dialog zur Strecke bringt, und dem zu widerstehen der Autorin einfach nicht gelingt. Überhaupt wird viel erklärt, was bestenfalls der naturwissenschaftlichen Bildung bekommt, aber leider nicht dem Text: „Ich weiß ja, sie meint es nicht so, und es liegt wahrscheinlich am Klonopin und Depakot. Bei beiden steht unter den Nebeneffekten auch ‚Selbstmordgedanken‘.“ Schade, dass die Nebenfiguren nicht mit der ihnen gebührenden Behutsamkeit behandelt werden, sondern zu überspannten Witzfiguren mutieren.
Dabei ist Shrivers Vorhaben ein großes, vielleicht sogar ehrenwertes: Es geht um Amerika. Um den Sozialstaat, oder besser darum, dass er nicht existiert. Es geht um das Gesundheitswesen und die notwendige Reform des Krankenkassensystems, um gesellschaftlich bedingte Minderwertigkeitskomplexe und Potenzprobleme, um Altenbetreuung, Suizid und Sterbehilfe. Große, brisante Themen der Gegenwart, aber Volumen und Gewicht rechtfertigen nicht, dass es dem Text an eben der Sorgfalt und Gründlichkeit mangelt, derer es bedarf, um die seelische Feinmotorik von Gefühlen und Charaktereigenschaften konzise zu beschreiben. Von Melodie, vom schönen Klang der Sprache, überhaupt von Poesie, ganz zu schweigen: „Nach der bedrückenden Ernsthaftigkeit des vergangenen Jahres konnte Shep eine Geisteshaltung, die das Beiwerk der westlichen Zivilisation zu verspielten legosteinartigen Anordnungen zusammenschrumpfte, nur begrüßen.“
Gegen Ende fallen zunehmend Nachlässigkeiten der Übersetzerin Monika Schmalz auf: Da „sitzt“ das Wasser im Becken, eine „Philippinerin“ betritt den Raum, und Shep „lässt seinen Blick über den Wohnbestand schweifen“. Solche Stellen gibt es unzählige, doch an der Übersetzung allein kann das nicht immer liegen. Irgendwann sagt Shep, dass er immer viel zu viel einpackt, „um für jede Eventualität gerüstet zu sein“. Am Ende reist er dann tatsächlich nach Pemba ab, diesmal allerdings fast ohne Gepäck, dafür mit jeder Menge Eventualitäten.
FRANZISKA SPERR
LIONEL SHRIVER: Dieses Leben, das wir haben. Roman. Aus dem Englischen von Monika Schmalz. Piper Verlag, München 2011. 544 Seiten, 19,95 Euro.
Ein Gemälde von
Francis Bacon kann dagegen
richtig gute Laune machen
Erste Hilfe für die Demonstranten in New York. Foto: Bill Kotsatos/Polaris/Studio X
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Franziska Sperr zollt der amerikanischen Autorin Lionel Shriver Respekt dafür, so große Themen wie das amerikanische Gesundheitssystem, Selbstmord, Sterbehilfe oder Altenversorgung anzupacken. Es geht in diesem Roman um einen Familienvater, der Aussteigerträume hegt, bis er erfährt, dass sein dafür unter großen persönlichen Opfern angespartes Geld für die schwere Erkrankung seiner Frau draufgehen wird, erklärt die Rezensentin. Die Genauigkeit, die die Autorin bei der minutiösen Beschreibung der physischen Phänomene des Krankheitsverlaufs aufwendet, lässt Sperr offenbar mehr erfahren als ihr lieb ist. Demgegenüber moniert sie die Charakterzeichnung der Figuren und die Darstellung ihres Seelenlebens als sträflich vereinfacht und viel zu grob. Dass dann auch in der Übersetzung ins Deutsche mehr und mehr Schnitzer auftauchen, verstärkt das Missvergnügen der Rezensentin, und sie ist sich noch nicht einmal sicher, ob die sprachlichen Missgriffe wirklich alle der Übersetzerin Monika Schmalz anzulasten sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH