Daß die Geisteswissenschaften systematisch blind sind gegenüber jenen Schichten kultureller Welten, die nicht zur Dimension von Sinn und Bedeutung gehören und durch Interpretation zu erschließen sind, macht den Ausgangspunkt und die polemische Spitze dieses Buches aus. Was der Hermeneutik entgeht, sind Phänomene der Präsenz: »Dinge der Welt« setzen zu können. In diesem Sinn werden philosophische Begriffe entworfen und diskutiert, die über eine Rückwendung zu Phänomenen der Präsenz unser Verhältnis zur ästhetischen Erfahrung und zum Lernen neu bestimmen sollen und in einer Alltagswelt, die Jean-François Lyotard einmal als im Status »allgemeiner Mobilmachung« befindlich beschrieben hat, vielleicht dem Wunsch nach Momenten der Gelassenheit Raum schaffen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2004Steilpaß in die Hälfte des Seins
Hans Ulrich Gumbrecht sucht das "Diesseits der Hermeneutik"
Kunstwerke sprechen beides an, die Wahrnehmung und das Denken. Daß sich Wahrnehmungen dabei nicht einfach in Begriffe übersetzen oder sich durch sie ersetzen lassen, ist bekannt. Der Begriff des Hundes bellt nicht - so lautet die lakonischste Fassung dieser Einsicht. Sie gilt also ganz generell, nicht nur für Kunst, sondern auch gegenüber Landschaften, Liebesgefühlen oder dem Anblick eines Briefkastens. Wer artikulieren will, was er sah, hörte und empfand, muß für den Gewinn der Mitteilbarkeit mit Verlusten an Fülle und Dichte rechnen. Aber warum darüber klagen? Schließlich löscht die Artikulation ja nicht, was sie artikuliert. Weder das Mädchen noch die Liebe, noch die Erfahrung des Kunstwerks verschwindet dadurch - jedenfalls nicht notwendigerweise -, daß man versucht mitzuteilen, was mit einem vorgegangen ist.
Mitunter wird das Leiden an der Differenz von Wahrnehmung und Begriff dennoch als Zeichen einer besonderen Empfindsamkeit für Kunst aufgefaßt. So, als wäre es in ihrem Fall wünschenswert, wenn Begriffe bellen könnten oder so farbig, zart, berauschend wären wie das Werk, dem sie gelten. Gegen Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft, die natürlich ohne Begriffe nicht auskommen und gar nichts anderes können als interpretieren, ist der entsprechende Protest, das Wesentliche am Werk werde durch Deutungen und Theorien stets verfehlt, immer wieder erhoben worden.
Hans Ulrich Gumbrecht erhebt ihn jetzt erneut. Der Stanforder Romanist, aus dessen Textverarbeitung seit Jahren ohne Pause wöchentlich neue, anregende Aufsätze über Sport und die Welt, die Literatur und die Literaturtheorie kommen, teilt im vorliegenden Traktat sein tiefes Unbehagen an der kulturwissenschaftlichen Textproduktion mit. Nicht, daß er seinem Fach nun vorschlüge, zu verstummen oder auf Begriffe und Theorien zu verzichten. Aber "es kommt der Moment", zitiert er den Philosophen Jean-Luc Nancy, "da man nichts mehr empfinden kann außer Zorn, einen gewaltigen Zorn über so viele Diskurse, so viele Texte, denen an nichts anderem liegt, als ein bißchen mehr Sinn zu schaffen und diffizile Leistungen der Sinnbestimmung nochmals zu erbringen oder zu vervollkommnen".
Gumbrecht zitiert diesen Zorn nur und spricht an anderen Stellen milder davon, er sei der Theorien "müde", oder noch konzilianter, er wolle die Suche nach Sinn in Kunstwerken als "wahrscheinlich unvermeidbares Verfahren" um die Suche nach sinnlichem Erleben nur ergänzen. Aber selbst derart moderiert dürften die Erschöpfung durch immer neuen Lesarten von Kunstwerken und der Überdruß daran symptomatische Nervenzustände innerhalb der Geisteswissenschaften sein. Im Schlußabschnitt des Buches beschreibt der Autor das moderne Leben auch des Professors als rastlose Arbeit, in der jene Welt verlorenzugehen droht, die außerhalb des permanenten Beschäftigseins mit Wissenschaft liegt.
Die Pflicht zum Anderslesen
Die "allgemeine Mobilmachung" des Deutens, als deren Vorder-, Lust- und Schmerzensmann zugleich sich Gumbrecht in den autobiographischen Passagen des Buches darstellt, bringt jenen Überdruß fast zwingend hervor. Je mehr Leute Literatur studieren, desto mehr Abschlußarbeiten und Bewerbungsschreiben müssen angefertigt werden. Also spezialisiert man sich. Also ist der Ertrag nur "ein bißchen mehr Sinn". Also nimmt auch das Bedürfnis zu, das bißchen Sinn durch Bezug auf Großparadigmen an höhere Bedeutung anzuschließen. Mit dem Bedarf an solchen Paradigmen und Integrationsprogrammen für Spezialstudien geht eine Verdichtung der akademischen Folklore in Form von Tagungen, Sammelbänden, Zeitschriftengründungen einher. Die Größe des Betriebs sorgt für "multiple Paradigmatase" (Niklas Luhmann), durch die sich Schulen nicht nur das Gefühl verschaffen, in schärfster Konkurrenz zueinander zu stehen, sondern auch das, in der Pflicht zu stehen, jedes Stück Literatur sich noch einmal vorzunehmen und "neu zu lesen". Irgendwann gibt es dann das Projekt einer durch Lacan hindurchgegangenen rezeptionsästhetischen Medientheorie der Wedekindschen Frauenfiguren um 1914 - und es wäre nur verständlich, wenn der eine oder andere Professor dann sagte: Das habe ich nicht gewollt.
Die Wissenschaft leidet hier nämlich am Eindruck, gegenüber ihren Gegenständen nicht mit gutem Gewissen ganz wissenschaftlich sein zu können. Sie kommt sich also ein wenig wie ein Betriebswirt vor, der feststellen würde, daß seine Berechnungen die Firma ruiniert haben. Warum? Nun, eben weil eine nur theoretische Einstellung zum Gegenstand als inadäquat empfunden wird. Es komme bei Literatur und Kunst, so Gumbrecht, nicht bloß auf den Sinn, sondern auch auf die Materialität, auf den sinnlichen Effekt, das Hingerissensein von "Präsenzeffekten" an, was aber vom Gros der hermeneutischen Übungen an Kunstwerken übersehen werde.
Gumbrecht beschreibt die Lage der mobilgemachten Geisteswissenschaften jedoch nicht als Effekt ihres Wachstums und ihrer Spezialisierung. Statt dessen entwirft er eine ganze Geschichtsphilosophie, um zu erläutern, wie sich jene unzureichende Einstellung gegenüber Kunstwerken als professionelles Normalverhalten hat breitmachen können. Die Neuzeit insgesamt sei "cartesianisch", bevorzuge also die Tiefe der intellektuellen Bedeutung gegenüber der materiellen Oberfläche der Gegenstände. Sie stelle sich das beobachtende Bewußtsein körperlos vor, habe eine Präferenz für Wissen gegenüber Anschauung und glaube, daß nur Distanz Erkenntnis ermögliche. Nachdem Nationbildung, sowie moralische und rhetorische Erziehung als Zielgrößen des Literaturstudiums verschwunden sind, wurde es hermeneutisch. Weil aber an der Kunst auch stets ihre sinnliche, vorhermeneutische Seite akzentuiert werden kann, folgt der Wechsel der kunstwissenschaftlichen Paradigmen einem ermüdenden Hin und Her zwischen "harten" Schulen, die wissenschaftliche Schlüssel hochhalten, und "weichen", die darauf hinweisen, daß das Schloß immer wieder zuschnappt.
Unter der Empfindungsdusche
Damit tritt zur Differenz von sinnlichem, körperlichem Erleben und begrifflicher Deutung das Problem einer Vielfalt von Perspektiven, die auf jedes Werk möglich sind. Die Geschichte der Kunst hat selbst auf diesen Befund reagiert. Gumbrecht erwähnt den Roman des neunzehnten Jahrhunderts, der, etwa bei Balzac und Flaubert, aber auch schon bei Jean Paul, die Inkommensurabilität von Weltbeobachtern als Formgesichtspunkt in sich aufgenommen hat. Das verschiedene Erleben wird entweder in eine Abfolge gebracht: der Bildungsroman. Oder es wird nebeneinander gestellt: etwa durch erzählerische und lyrische Stimmenvielfalt, durch Montagen, Liquidation der Perspektive, Homogenisierung des musikalischen Materials. Andere ästhetische Reaktionen auf die Pluralisierung der Weltbeobachtung sind das Gesamtkunstwerk mit seiner Hoffnung, dem Sinnlichen durch Integration der Wahrnehmungsmöglichkeiten entsprechen zu können, oder die Erklärung der sinnlich-übersinnlichen Musik zum Vorbild aller Künste, wie sie seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erfolgt ist.
Weit entfernt also, für die Gewinnung von "Präsenz-" und "Sinneffekten" nur immer neues Material zu bieten, wie Gumbrecht mitunter nahelegt, haben die Künste seit der Romantik sich zu diesem Dualismus selbst verhalten. Insofern bricht die Beobachtung zu früh ab, wenn Gumbrecht lobend Hans-Georg Gadamers Befund zitiert, Gedichte hätten nicht nur einen semantischen Aspekt, sondern auch ein "Volumen". Denn sie haben ja nicht nur ein solches Volumen, sondern thematisieren diese Tatsache seit längerem auch. Die Vorstellung, Kunstwerke seien eine Art Empfindungsdusche besonderer Intensität, unterschätzt schlichtweg den Grad an Nachdenklichkeit und Wissen, der in die bedeutenderen von ihnen eingeht. Daß Gumbrecht das Mittelalter als letzte Epoche mehr oder weniger unmittelbarer Präsenzerfahrung in Abendmahl, kosmologischem Gefühl und Karneval hochleben läßt, unterstreicht diese Grenze auch auf seiten der Kunst.
So zu tun, als habe sich in der Neuzeit nur die Theorie "cartesianisiert", geht jedenfalls an der Tatsache vorbei, daß "Neuzeit" kein gebietsspezifischer, die Kunst unbeeindruckt lassender Vorgang ist. Das "Sein", das durch die Hingabe an ästhetisches Erleben auf besondere Weise erschlossen werden soll, ist für den Autor der Zustand der Dinge, bevor sie einer Kultur angehören. Die Künste aber gehören zweifelsfrei der Kultur an. So, wie sich also die Neuzeit eine Zeitlang eingeredet haben mag, Bewußtsein und Wissenschaft könnten die Welt wie von außen beobachten, so spielt Gumbrecht mit der umgekehrten Sehnsucht, im ästhetischen Erleben zeige sich das Sein als etwas gesellschaftlich Unberührtes.
Gumbrechts Bestreben, gegenüber Kunst und mittels Kunst auch gegenüber allem anderen mehr Unmittelbarkeit wiederzugewinnen, steht in einer langen Tradition. Zum Schaden seiner Argumentation scheint er sich nicht besonders für die in ihr aufgekommenen Bedenken zu interessieren. Daß das Sein "nichts anderes ist als greifbare Dinge, die unabhängig von ihrer kulturell spezifischen Situation gesehen werden - was allerdings weder ohne weiteres gelingt noch besonders wahrscheinlich ist", darf man als kürzestmöglichen Kommentar zur Geschichte der Ding-an-sich-Problematik lesen. Die Frage, ob es denn überhaupt gelingen kann und woran man gegebenenfalls erkennen kann, ob es gelang, beantwortet Gumbrecht nur mit der Versicherung, das Erleben des Seins sei jedenfalls schön, intensiv, außeralltäglich. Dieses Erleben kann dabei an jeder Art von Erscheinung überhaupt stattfinden: Gedichtrhythmen, junge Mädchen, gebratene Tintenfische, Symphonien, Steilpässe im Football. Aber inwiefern handelt es sich bei all dem überhaupt um "greifbare Gegenstände"? Hegels Einwand gegen Jacobi, wer Wahrnehmung für den Schlüssel zum Sein halte, dem verwandele sich alles in ein sinnliches Ding, trifft auch den, der die ganze Welt auf ihre "Präsenzeffekte", also auf Vollzugslust hin abtastet.
Gumbrecht schlägt abschließend vor, die geisteswissenschaftliche Lehre auf eine Momente der Intensität "beschwörende" Schulung solcher Erlebnismöglichkeiten umzustellen. Daß sich an Kunst Differenzierungen des Fühlens und der Selbstwahrnehmung gewinnen lassen, ist unbestritten. Aber die Ergänzung von "Creative Writing" durch "Intensive Feeling"-Kurse, in denen die Studenten nachvollziehen, was der Professor empfindet, wenn er "den schönen Körper einer jungen Frau" in der Seminarbibliothek sieht, leuchtet nicht ein. Als wüßten sie es, cartesische Neuzeit hin, Paradigmatase her, nicht längst. Auch Differenzierungsverluste dadurch, daß im euphorischen Erleben von Intensität die Symphonien dann wie Tintenfische wahrgenommen werden und Mädchen wie Steilpässe - "nicht sonderlich verschieden", konstatiert Gumbrecht -, könnten drohen. So sympathisch der Professor als diskursmüder Footballfan und allgemeiner Erotiker also ist: Den Überdruß an zu viel uninteressantem Sinn und zu wenig Zeit für die Welt diesseits der Wissenschaft läßt sich nicht durch eine mehr körperbetonte Kunstwissenschaft beheben, sondern allenfalls durch weniger Publikationen.
JÜRGEN KAUBE
Hans Ulrich Gumbrecht, "Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 190 S., kt., 10 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans Ulrich Gumbrecht sucht das "Diesseits der Hermeneutik"
Kunstwerke sprechen beides an, die Wahrnehmung und das Denken. Daß sich Wahrnehmungen dabei nicht einfach in Begriffe übersetzen oder sich durch sie ersetzen lassen, ist bekannt. Der Begriff des Hundes bellt nicht - so lautet die lakonischste Fassung dieser Einsicht. Sie gilt also ganz generell, nicht nur für Kunst, sondern auch gegenüber Landschaften, Liebesgefühlen oder dem Anblick eines Briefkastens. Wer artikulieren will, was er sah, hörte und empfand, muß für den Gewinn der Mitteilbarkeit mit Verlusten an Fülle und Dichte rechnen. Aber warum darüber klagen? Schließlich löscht die Artikulation ja nicht, was sie artikuliert. Weder das Mädchen noch die Liebe, noch die Erfahrung des Kunstwerks verschwindet dadurch - jedenfalls nicht notwendigerweise -, daß man versucht mitzuteilen, was mit einem vorgegangen ist.
Mitunter wird das Leiden an der Differenz von Wahrnehmung und Begriff dennoch als Zeichen einer besonderen Empfindsamkeit für Kunst aufgefaßt. So, als wäre es in ihrem Fall wünschenswert, wenn Begriffe bellen könnten oder so farbig, zart, berauschend wären wie das Werk, dem sie gelten. Gegen Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft, die natürlich ohne Begriffe nicht auskommen und gar nichts anderes können als interpretieren, ist der entsprechende Protest, das Wesentliche am Werk werde durch Deutungen und Theorien stets verfehlt, immer wieder erhoben worden.
Hans Ulrich Gumbrecht erhebt ihn jetzt erneut. Der Stanforder Romanist, aus dessen Textverarbeitung seit Jahren ohne Pause wöchentlich neue, anregende Aufsätze über Sport und die Welt, die Literatur und die Literaturtheorie kommen, teilt im vorliegenden Traktat sein tiefes Unbehagen an der kulturwissenschaftlichen Textproduktion mit. Nicht, daß er seinem Fach nun vorschlüge, zu verstummen oder auf Begriffe und Theorien zu verzichten. Aber "es kommt der Moment", zitiert er den Philosophen Jean-Luc Nancy, "da man nichts mehr empfinden kann außer Zorn, einen gewaltigen Zorn über so viele Diskurse, so viele Texte, denen an nichts anderem liegt, als ein bißchen mehr Sinn zu schaffen und diffizile Leistungen der Sinnbestimmung nochmals zu erbringen oder zu vervollkommnen".
Gumbrecht zitiert diesen Zorn nur und spricht an anderen Stellen milder davon, er sei der Theorien "müde", oder noch konzilianter, er wolle die Suche nach Sinn in Kunstwerken als "wahrscheinlich unvermeidbares Verfahren" um die Suche nach sinnlichem Erleben nur ergänzen. Aber selbst derart moderiert dürften die Erschöpfung durch immer neuen Lesarten von Kunstwerken und der Überdruß daran symptomatische Nervenzustände innerhalb der Geisteswissenschaften sein. Im Schlußabschnitt des Buches beschreibt der Autor das moderne Leben auch des Professors als rastlose Arbeit, in der jene Welt verlorenzugehen droht, die außerhalb des permanenten Beschäftigseins mit Wissenschaft liegt.
Die Pflicht zum Anderslesen
Die "allgemeine Mobilmachung" des Deutens, als deren Vorder-, Lust- und Schmerzensmann zugleich sich Gumbrecht in den autobiographischen Passagen des Buches darstellt, bringt jenen Überdruß fast zwingend hervor. Je mehr Leute Literatur studieren, desto mehr Abschlußarbeiten und Bewerbungsschreiben müssen angefertigt werden. Also spezialisiert man sich. Also ist der Ertrag nur "ein bißchen mehr Sinn". Also nimmt auch das Bedürfnis zu, das bißchen Sinn durch Bezug auf Großparadigmen an höhere Bedeutung anzuschließen. Mit dem Bedarf an solchen Paradigmen und Integrationsprogrammen für Spezialstudien geht eine Verdichtung der akademischen Folklore in Form von Tagungen, Sammelbänden, Zeitschriftengründungen einher. Die Größe des Betriebs sorgt für "multiple Paradigmatase" (Niklas Luhmann), durch die sich Schulen nicht nur das Gefühl verschaffen, in schärfster Konkurrenz zueinander zu stehen, sondern auch das, in der Pflicht zu stehen, jedes Stück Literatur sich noch einmal vorzunehmen und "neu zu lesen". Irgendwann gibt es dann das Projekt einer durch Lacan hindurchgegangenen rezeptionsästhetischen Medientheorie der Wedekindschen Frauenfiguren um 1914 - und es wäre nur verständlich, wenn der eine oder andere Professor dann sagte: Das habe ich nicht gewollt.
Die Wissenschaft leidet hier nämlich am Eindruck, gegenüber ihren Gegenständen nicht mit gutem Gewissen ganz wissenschaftlich sein zu können. Sie kommt sich also ein wenig wie ein Betriebswirt vor, der feststellen würde, daß seine Berechnungen die Firma ruiniert haben. Warum? Nun, eben weil eine nur theoretische Einstellung zum Gegenstand als inadäquat empfunden wird. Es komme bei Literatur und Kunst, so Gumbrecht, nicht bloß auf den Sinn, sondern auch auf die Materialität, auf den sinnlichen Effekt, das Hingerissensein von "Präsenzeffekten" an, was aber vom Gros der hermeneutischen Übungen an Kunstwerken übersehen werde.
Gumbrecht beschreibt die Lage der mobilgemachten Geisteswissenschaften jedoch nicht als Effekt ihres Wachstums und ihrer Spezialisierung. Statt dessen entwirft er eine ganze Geschichtsphilosophie, um zu erläutern, wie sich jene unzureichende Einstellung gegenüber Kunstwerken als professionelles Normalverhalten hat breitmachen können. Die Neuzeit insgesamt sei "cartesianisch", bevorzuge also die Tiefe der intellektuellen Bedeutung gegenüber der materiellen Oberfläche der Gegenstände. Sie stelle sich das beobachtende Bewußtsein körperlos vor, habe eine Präferenz für Wissen gegenüber Anschauung und glaube, daß nur Distanz Erkenntnis ermögliche. Nachdem Nationbildung, sowie moralische und rhetorische Erziehung als Zielgrößen des Literaturstudiums verschwunden sind, wurde es hermeneutisch. Weil aber an der Kunst auch stets ihre sinnliche, vorhermeneutische Seite akzentuiert werden kann, folgt der Wechsel der kunstwissenschaftlichen Paradigmen einem ermüdenden Hin und Her zwischen "harten" Schulen, die wissenschaftliche Schlüssel hochhalten, und "weichen", die darauf hinweisen, daß das Schloß immer wieder zuschnappt.
Unter der Empfindungsdusche
Damit tritt zur Differenz von sinnlichem, körperlichem Erleben und begrifflicher Deutung das Problem einer Vielfalt von Perspektiven, die auf jedes Werk möglich sind. Die Geschichte der Kunst hat selbst auf diesen Befund reagiert. Gumbrecht erwähnt den Roman des neunzehnten Jahrhunderts, der, etwa bei Balzac und Flaubert, aber auch schon bei Jean Paul, die Inkommensurabilität von Weltbeobachtern als Formgesichtspunkt in sich aufgenommen hat. Das verschiedene Erleben wird entweder in eine Abfolge gebracht: der Bildungsroman. Oder es wird nebeneinander gestellt: etwa durch erzählerische und lyrische Stimmenvielfalt, durch Montagen, Liquidation der Perspektive, Homogenisierung des musikalischen Materials. Andere ästhetische Reaktionen auf die Pluralisierung der Weltbeobachtung sind das Gesamtkunstwerk mit seiner Hoffnung, dem Sinnlichen durch Integration der Wahrnehmungsmöglichkeiten entsprechen zu können, oder die Erklärung der sinnlich-übersinnlichen Musik zum Vorbild aller Künste, wie sie seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erfolgt ist.
Weit entfernt also, für die Gewinnung von "Präsenz-" und "Sinneffekten" nur immer neues Material zu bieten, wie Gumbrecht mitunter nahelegt, haben die Künste seit der Romantik sich zu diesem Dualismus selbst verhalten. Insofern bricht die Beobachtung zu früh ab, wenn Gumbrecht lobend Hans-Georg Gadamers Befund zitiert, Gedichte hätten nicht nur einen semantischen Aspekt, sondern auch ein "Volumen". Denn sie haben ja nicht nur ein solches Volumen, sondern thematisieren diese Tatsache seit längerem auch. Die Vorstellung, Kunstwerke seien eine Art Empfindungsdusche besonderer Intensität, unterschätzt schlichtweg den Grad an Nachdenklichkeit und Wissen, der in die bedeutenderen von ihnen eingeht. Daß Gumbrecht das Mittelalter als letzte Epoche mehr oder weniger unmittelbarer Präsenzerfahrung in Abendmahl, kosmologischem Gefühl und Karneval hochleben läßt, unterstreicht diese Grenze auch auf seiten der Kunst.
So zu tun, als habe sich in der Neuzeit nur die Theorie "cartesianisiert", geht jedenfalls an der Tatsache vorbei, daß "Neuzeit" kein gebietsspezifischer, die Kunst unbeeindruckt lassender Vorgang ist. Das "Sein", das durch die Hingabe an ästhetisches Erleben auf besondere Weise erschlossen werden soll, ist für den Autor der Zustand der Dinge, bevor sie einer Kultur angehören. Die Künste aber gehören zweifelsfrei der Kultur an. So, wie sich also die Neuzeit eine Zeitlang eingeredet haben mag, Bewußtsein und Wissenschaft könnten die Welt wie von außen beobachten, so spielt Gumbrecht mit der umgekehrten Sehnsucht, im ästhetischen Erleben zeige sich das Sein als etwas gesellschaftlich Unberührtes.
Gumbrechts Bestreben, gegenüber Kunst und mittels Kunst auch gegenüber allem anderen mehr Unmittelbarkeit wiederzugewinnen, steht in einer langen Tradition. Zum Schaden seiner Argumentation scheint er sich nicht besonders für die in ihr aufgekommenen Bedenken zu interessieren. Daß das Sein "nichts anderes ist als greifbare Dinge, die unabhängig von ihrer kulturell spezifischen Situation gesehen werden - was allerdings weder ohne weiteres gelingt noch besonders wahrscheinlich ist", darf man als kürzestmöglichen Kommentar zur Geschichte der Ding-an-sich-Problematik lesen. Die Frage, ob es denn überhaupt gelingen kann und woran man gegebenenfalls erkennen kann, ob es gelang, beantwortet Gumbrecht nur mit der Versicherung, das Erleben des Seins sei jedenfalls schön, intensiv, außeralltäglich. Dieses Erleben kann dabei an jeder Art von Erscheinung überhaupt stattfinden: Gedichtrhythmen, junge Mädchen, gebratene Tintenfische, Symphonien, Steilpässe im Football. Aber inwiefern handelt es sich bei all dem überhaupt um "greifbare Gegenstände"? Hegels Einwand gegen Jacobi, wer Wahrnehmung für den Schlüssel zum Sein halte, dem verwandele sich alles in ein sinnliches Ding, trifft auch den, der die ganze Welt auf ihre "Präsenzeffekte", also auf Vollzugslust hin abtastet.
Gumbrecht schlägt abschließend vor, die geisteswissenschaftliche Lehre auf eine Momente der Intensität "beschwörende" Schulung solcher Erlebnismöglichkeiten umzustellen. Daß sich an Kunst Differenzierungen des Fühlens und der Selbstwahrnehmung gewinnen lassen, ist unbestritten. Aber die Ergänzung von "Creative Writing" durch "Intensive Feeling"-Kurse, in denen die Studenten nachvollziehen, was der Professor empfindet, wenn er "den schönen Körper einer jungen Frau" in der Seminarbibliothek sieht, leuchtet nicht ein. Als wüßten sie es, cartesische Neuzeit hin, Paradigmatase her, nicht längst. Auch Differenzierungsverluste dadurch, daß im euphorischen Erleben von Intensität die Symphonien dann wie Tintenfische wahrgenommen werden und Mädchen wie Steilpässe - "nicht sonderlich verschieden", konstatiert Gumbrecht -, könnten drohen. So sympathisch der Professor als diskursmüder Footballfan und allgemeiner Erotiker also ist: Den Überdruß an zu viel uninteressantem Sinn und zu wenig Zeit für die Welt diesseits der Wissenschaft läßt sich nicht durch eine mehr körperbetonte Kunstwissenschaft beheben, sondern allenfalls durch weniger Publikationen.
JÜRGEN KAUBE
Hans Ulrich Gumbrecht, "Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 190 S., kt., 10 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.03.2005Zwar aber dennoch auch
Hans Ulrich Gumbrechts „Diesseits der Hermeneutik”
Wenn einer unbeirrt und konsequent auf den eigenen Kopf setzt, kann er Entdeckungen machen. Aussichten auf solche verspricht Hans Ulrich Gumbrecht im Einleitungskapitel seines Buches „Diesseits der Hermeneutik”. „Unter solchen Umständen können wir gar nicht umhin, unsere eigene geistige Umgebung zu sein, und außerdem müssen wir selbst sogar der Bezugsrahmen sein für die Arbeiten, die uns interessieren”, meint er. Indes hat die geistige Umgebung Gumbrecht im Bezugsrahmen Gumbrecht den Autor Gumbrecht in seinem der „Produktion von Präsenz” gewidmeten Traktat vorwiegend dazu gebracht, großen und kleinen Kollegen des eigenen Faches wie allerhand benachbarter Disziplinen die Reverenz zu erweisen. Laut Vorsatzblatt als „Streitschrift” konzipiert, triumphieren in dem fußnotenbehängten, zitatstrotzenden Buch die Schriften über den Streit. Und die Dreifaltigkeit von Autor, Umgebung und Bezugsrahmen Hans Ulrich Gumbrecht leuchtet „unter solchen Umständen” vorwiegend daraus hervor, dass die meistzitierte Autorität dieses „begrifflichen Kleindramas” trotz aller Reverenzen und also auch Referenzen immer noch Hans Ulrich Gumbrecht ist.
Gumbrecht postuliert eine Aufwertung der „Präsenz”, insbesondere in den Geisteswissenschaften. Wie weit es mit dieser her ist, macht der Autor hinreichend kenntlich, wenn er sie, und was in ihr erscheinen soll, mit den Greifzangen doppelter Anführungszeichen anpackt: „Alle in ihrer »Präsenz« verfügbaren Objekte werden als »Dinge dieser Welt« bezeichnet.” Objekte ihrer Verfügung aber sind die Dinge dieser Welt für Menschen keineswegs von vornherein und selbstverständlich - sie werden es durch Technik. Und technoid ist Gumbrechts Sprache in einem Maße, das die Tugend des Lassens, welche er unter dem Titel Gelassenheit predigt, Lügen straft.
Das Lob der Gemütlichkeit
Die Präsenz von Kunst, und nicht allein von dieser, zergeht, sobald man ihre Werke als Objekte der Verfügung traktiert. Dass dies Gumbrecht in seinem Vorgehen nicht zu stören vermag, rührt vom Ort seines Werkes her, „einem”, wie er es nennt, „geistigen Raum mit seltsam verschwommenen Konturen”. Verschwommen indes erscheint die Welt dem, der nicht scharf sieht; sie selbst ist weder verschwommen noch scharf. Gumbrechts Verschwommenheit erweist sich als aufs schönste vereinbar mit seinem Härte und Nüchternheit suggerierenden Vokabular der Objektverfügung; denn Genauigkeit bemisst sich am Verhältnis von Wahrnehmen und Denken zur Sache, nicht am gewählten Jargon. Den von ihm bewohnten Raum hat Gumbrecht mit allerhand Sätzen des Typs ,zwar, aber dennoch auch behaglich eingerichtet; bereits der Titel „Diesseits der Hermeneutik” ist, der einleitenden Erläuterung zufolge, just so plüschern gemeint.
Wer derart weich sitzt, kann alles behaupten, ohne sich auf Bestimmtes festzulegen: „Es läßt sich zwar behaupten, daß kein Weltobjekt dem menschlichen Körper und dem menschlichen Geist je in unmittelbarer Form zu Gebote steht, aber dennoch konnotiert der Begriff »Dinge dieser Welt« auch einen Bezug auf das Verlangen nach solcher Unmittelbarkeit. Wie das so genannte Konkrete ganz vorzüglich eine beliebte abstrakte Phrase ist, so steht es auch mit der Gumbrechtschen Präsenz. Worin sich laut Gumbrecht Präsenz manifestiert, ist ein ums andere Mal bloßer Beleg einer generellen These, die ihm von Beginn an feststeht: nicht das Ereignen des sinnlich Besonderen schlägt sich in den behaupteten Präsenzen nieder, sondern ihre vorab bereits vollzogene Subsumption unters Allgemeine.
Das Opfer am Geist
Folgerichtig bleibt Gumbrecht nichts weiter übrig, als die generelle These selbst zu einem Fall von Präsenz zu verklären. Sie sei, schreibt er, „als intensive Eingebung” über ihn gekommen. An solch ein Wunder kann der Leser nur noch glauben. Und eben dies Sacrificium Intellectus erwartet Gumbrecht, da er selbst es brachte, auch vom Leser. Eine Erörterung von Einwänden etwa besteht für Gumbrecht darin, jede mögliche Erkenntnis zu dem Bekenntnis zu verdünnen, er gehöre halt einer bestimmten Generation an, die dies oder jenes glaube. Darum ist eine ausführliche Darstellung des von Gumbrecht seit Beginn der achtziger Jahre betriebenen Tagungstourismus auch kein bloßes Beiwerk, sondern integraler Bestandteil seines Werkes. Denn die intellektuelle Sehnsucht nach Präsenz ist gar nicht ablösbar von dem politischen Anliegen, die eigene Präsenz im akademischen Betrieb zu sichern und zu erweitern. Zwar keiner Erklärung der „Produktion von Präsenz”, wohl aber einer der eigenen Textproduktion kommt Gumbrecht in einer der autobiographischen Passagen seiner Schrift gefährlich nahe: „Bei dieser Tagung merkten wir - und diesmal war die Enttäuschung wirklich groß -, daß wir den epistemologischen Schwung verloren hatten.” Hier stimmen die Proportionen. Je geringer der epistemologische Schwung, desto schwungvoller die Larmoyanz, in welcher sein Schwinden beklagt wird.
ANDREAS DORSCHEL
HANS ULRICH GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 190 Seiten, 10,00 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Hans Ulrich Gumbrechts „Diesseits der Hermeneutik”
Wenn einer unbeirrt und konsequent auf den eigenen Kopf setzt, kann er Entdeckungen machen. Aussichten auf solche verspricht Hans Ulrich Gumbrecht im Einleitungskapitel seines Buches „Diesseits der Hermeneutik”. „Unter solchen Umständen können wir gar nicht umhin, unsere eigene geistige Umgebung zu sein, und außerdem müssen wir selbst sogar der Bezugsrahmen sein für die Arbeiten, die uns interessieren”, meint er. Indes hat die geistige Umgebung Gumbrecht im Bezugsrahmen Gumbrecht den Autor Gumbrecht in seinem der „Produktion von Präsenz” gewidmeten Traktat vorwiegend dazu gebracht, großen und kleinen Kollegen des eigenen Faches wie allerhand benachbarter Disziplinen die Reverenz zu erweisen. Laut Vorsatzblatt als „Streitschrift” konzipiert, triumphieren in dem fußnotenbehängten, zitatstrotzenden Buch die Schriften über den Streit. Und die Dreifaltigkeit von Autor, Umgebung und Bezugsrahmen Hans Ulrich Gumbrecht leuchtet „unter solchen Umständen” vorwiegend daraus hervor, dass die meistzitierte Autorität dieses „begrifflichen Kleindramas” trotz aller Reverenzen und also auch Referenzen immer noch Hans Ulrich Gumbrecht ist.
Gumbrecht postuliert eine Aufwertung der „Präsenz”, insbesondere in den Geisteswissenschaften. Wie weit es mit dieser her ist, macht der Autor hinreichend kenntlich, wenn er sie, und was in ihr erscheinen soll, mit den Greifzangen doppelter Anführungszeichen anpackt: „Alle in ihrer »Präsenz« verfügbaren Objekte werden als »Dinge dieser Welt« bezeichnet.” Objekte ihrer Verfügung aber sind die Dinge dieser Welt für Menschen keineswegs von vornherein und selbstverständlich - sie werden es durch Technik. Und technoid ist Gumbrechts Sprache in einem Maße, das die Tugend des Lassens, welche er unter dem Titel Gelassenheit predigt, Lügen straft.
Das Lob der Gemütlichkeit
Die Präsenz von Kunst, und nicht allein von dieser, zergeht, sobald man ihre Werke als Objekte der Verfügung traktiert. Dass dies Gumbrecht in seinem Vorgehen nicht zu stören vermag, rührt vom Ort seines Werkes her, „einem”, wie er es nennt, „geistigen Raum mit seltsam verschwommenen Konturen”. Verschwommen indes erscheint die Welt dem, der nicht scharf sieht; sie selbst ist weder verschwommen noch scharf. Gumbrechts Verschwommenheit erweist sich als aufs schönste vereinbar mit seinem Härte und Nüchternheit suggerierenden Vokabular der Objektverfügung; denn Genauigkeit bemisst sich am Verhältnis von Wahrnehmen und Denken zur Sache, nicht am gewählten Jargon. Den von ihm bewohnten Raum hat Gumbrecht mit allerhand Sätzen des Typs ,zwar, aber dennoch auch behaglich eingerichtet; bereits der Titel „Diesseits der Hermeneutik” ist, der einleitenden Erläuterung zufolge, just so plüschern gemeint.
Wer derart weich sitzt, kann alles behaupten, ohne sich auf Bestimmtes festzulegen: „Es läßt sich zwar behaupten, daß kein Weltobjekt dem menschlichen Körper und dem menschlichen Geist je in unmittelbarer Form zu Gebote steht, aber dennoch konnotiert der Begriff »Dinge dieser Welt« auch einen Bezug auf das Verlangen nach solcher Unmittelbarkeit. Wie das so genannte Konkrete ganz vorzüglich eine beliebte abstrakte Phrase ist, so steht es auch mit der Gumbrechtschen Präsenz. Worin sich laut Gumbrecht Präsenz manifestiert, ist ein ums andere Mal bloßer Beleg einer generellen These, die ihm von Beginn an feststeht: nicht das Ereignen des sinnlich Besonderen schlägt sich in den behaupteten Präsenzen nieder, sondern ihre vorab bereits vollzogene Subsumption unters Allgemeine.
Das Opfer am Geist
Folgerichtig bleibt Gumbrecht nichts weiter übrig, als die generelle These selbst zu einem Fall von Präsenz zu verklären. Sie sei, schreibt er, „als intensive Eingebung” über ihn gekommen. An solch ein Wunder kann der Leser nur noch glauben. Und eben dies Sacrificium Intellectus erwartet Gumbrecht, da er selbst es brachte, auch vom Leser. Eine Erörterung von Einwänden etwa besteht für Gumbrecht darin, jede mögliche Erkenntnis zu dem Bekenntnis zu verdünnen, er gehöre halt einer bestimmten Generation an, die dies oder jenes glaube. Darum ist eine ausführliche Darstellung des von Gumbrecht seit Beginn der achtziger Jahre betriebenen Tagungstourismus auch kein bloßes Beiwerk, sondern integraler Bestandteil seines Werkes. Denn die intellektuelle Sehnsucht nach Präsenz ist gar nicht ablösbar von dem politischen Anliegen, die eigene Präsenz im akademischen Betrieb zu sichern und zu erweitern. Zwar keiner Erklärung der „Produktion von Präsenz”, wohl aber einer der eigenen Textproduktion kommt Gumbrecht in einer der autobiographischen Passagen seiner Schrift gefährlich nahe: „Bei dieser Tagung merkten wir - und diesmal war die Enttäuschung wirklich groß -, daß wir den epistemologischen Schwung verloren hatten.” Hier stimmen die Proportionen. Je geringer der epistemologische Schwung, desto schwungvoller die Larmoyanz, in welcher sein Schwinden beklagt wird.
ANDREAS DORSCHEL
HANS ULRICH GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 190 Seiten, 10,00 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jürgen Kaube ist von Hans Ulrich Gumbrechts "Diesseits der Hermeneutik" nicht recht überzeugt. Zwar leuchtet ihm ein, dass der Stanforder Romanist erschöpft ist von der Unzahl von Veröffentlichungen, die ein immer wachsender, immer rastloser werdender akademischer Betrieb provoziert und produziert und die drohen, jedes ästhetische und sinnliche Empfinden des Besprochenen - in der Regel das Sinnlichste überhaupt: Kunstwerke - zu verschütten. Aber kann die Antwort darauf sein, dass man den Studenten beibringt, lieber mal einen Steilpass im "Football" zu genießen oder den knackigen Körper einer jungen Frau in der romanistischen Seminarbibliothek beziehungsweise ein gelungenes Gedicht? Sollten "Creative Writing"- durch "Intensive Feeling"-Kurse ergänzt werden? Sollte man, ganz vormodern, nach dem Ding-an-sich in all dem Diskursgewese suchen? Da ist Kaube skeptisch. Er schlägt ein ganz materialistisches Mittel gegen die Textflut vor: "weniger Publikationen".
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