Anfang Januar 1998 schickte der Autor ein Exemplar seiner bei der Universität bereits eingereichten Dissertation aus Höflichkeit an Dieter Roth. Nach sechs Wochen erhielt er seine Arbeit zurück, die vom Künstler detailliert mit Bleistift korrigiert und ergänzt worden war: Hunderte von Zeichnungen, kurzen Texten, Beschreibungen und Anmerkungen, "Explosions"-Zeichnungen, die Konstruktion und Bau einzelner Werke perfekt erklären, Detailzeichnungen, die auf Besonderheiten hinweisen, informativ erläutert, oft humorvoll, den Autor liebevoll korrigierend -- meisterliche, brillante zeichnerische Kommentare.
Die Dissertation liefert einen Beitrag zur Grundlagenforschung und gliedert sich in zwei systematische Teile, die nun in zwei Bänden vorliegen. Im ersten Band "Melancholischer Nippes" findet sich der diskursive Teil der Arbeit. Die Genesis einzelner Werkkomplexe wird aufgezeigt, und grundsätzliche Fragen zum Werk und dessen theoretischem Hintergrund werden verfolgt. Der zweite Band liefert das erste Werkverzeichnis aller bekannten, zwischen 1960 und 1975 entstandenen Objekte und Materialbilder. Bei dem größten Teil der vorgestellten Objekte handelt es sich um Arbeiten unter Verwendung von Eßwaren und anderen organischen Stoffen. Untersucht werden auch die Materialbilder, die graphischen Arbeiten mit applizierten organischen Stoffen und ansatzweise auch die Buchobjekte aus diesem Zeitraum. Da sich die Objekte in vielen öffentlichen Sammlungen und Museen befinden, wird auch der Frage nach Konservierungsmaßnahmen bei auf Verfall hin konzipierten Arbeiten nachgegangen. Die Verwendung von schnell vergänglichen Substanzen in der Kunst stellt innerhalb der Kunstgeschichte ein Novum dar. Mit diesem Faksimile erscheint ein vom Künstler autorisiertes und ergänztes Werkverzeichnis und postum das letzte authentische Künstlerbuch Dieter Roths.
Die Dissertation liefert einen Beitrag zur Grundlagenforschung und gliedert sich in zwei systematische Teile, die nun in zwei Bänden vorliegen. Im ersten Band "Melancholischer Nippes" findet sich der diskursive Teil der Arbeit. Die Genesis einzelner Werkkomplexe wird aufgezeigt, und grundsätzliche Fragen zum Werk und dessen theoretischem Hintergrund werden verfolgt. Der zweite Band liefert das erste Werkverzeichnis aller bekannten, zwischen 1960 und 1975 entstandenen Objekte und Materialbilder. Bei dem größten Teil der vorgestellten Objekte handelt es sich um Arbeiten unter Verwendung von Eßwaren und anderen organischen Stoffen. Untersucht werden auch die Materialbilder, die graphischen Arbeiten mit applizierten organischen Stoffen und ansatzweise auch die Buchobjekte aus diesem Zeitraum. Da sich die Objekte in vielen öffentlichen Sammlungen und Museen befinden, wird auch der Frage nach Konservierungsmaßnahmen bei auf Verfall hin konzipierten Arbeiten nachgegangen. Die Verwendung von schnell vergänglichen Substanzen in der Kunst stellt innerhalb der Kunstgeschichte ein Novum dar. Mit diesem Faksimile erscheint ein vom Künstler autorisiertes und ergänztes Werkverzeichnis und postum das letzte authentische Künstlerbuch Dieter Roths.
Mit zwei Büchern kommt der Allrounder Dieter Roth abreisend an
Wenn Partner ihm sympathisch waren, hat Dieter Roth sich offenbar gerne und ausgiebig ins Gespräch ziehen lassen. Fernsehleuten und anderen Journalisten gelang das selten: Ihre Interviews endeten, bevor sie begannen. Barbara Wien hat nun die aufgezeichneten und in der Regel bereits verstreut publizierten Gespräche zusammengetragen und als "Gesammelte Interviews" herausgegeben. Das früheste ist ein Kollegengespräch mit Emmett Williams (1967), das letzte dauerte mehrere Tage und fand in zwei Züricher Gaststätten bei beträchtlichem Alkoholkonsum statt. Roth unterhält sich mit Patrick Frey über Gott und die Welt. Seine Kollegenbeschimpfung vergißt keinen prominenten Namen. Nur Konrad Klapheck läßt er gelten: "der hat mir was gegeben." Von diesem Maler par excellence hatte Roth keine Konkurrenz zu befürchten. Allmählich gehen Roth und Frey ins Schwyzerische über, das auch den schärfsten Verurteilungen eine gemütliche Färbung gibt. Wenn man weiß, daß Dieter Roth eine Woche danach, am 5. Juni 1998, im Alter von achtundsechzig Jahren plötzlich an Herzversagen starb, liest sich diese Rückkehr in das treuherzige Idiom der Heimat wie ein regressus ad uterum.
Roth war kein Mann der "reduzierten Geste", wie Laszlo Glozer in dem schönen und eindringlichen Essay schreibt, der die Publikation der mehr als fünfhundert Originale der beiden (privaten) Hamburger Roth-Museen einleitet. Gewiß war er eher das Gegenteil, doch sein Mitteilungsbedürfnis kannte auch nicht die Redundanz. Was er sagt, hat er zu sagen, das Plaudern liegt ihm nicht. Wenn ihm Irmelin Lebeer-Hossmann den Zwang anmerkt, sein "ganzes Leben abzubilden", kommt die Antwort prompt und ohne Pathos: "Ja. Das ist meine Krankheit zum Tode, das ist wahrscheinlich meine Todesursache." Er weiß, daß er ein Besessener mit Kalkül ist: "Das ist mein Kreuz, daß ich aus allem eine Methode machen kann (!) und daß ich damit durchs Leben komme. Ich profitiere davon."
Was er Methode nannte, entfaltet sich in dialektischen Paradoxien. Der Alleskönner nimmt sich vor, das "Nicht Können" in "perfekten Sätzen" darzustellen und "meine Grenzen zu beschreiben". Grenzen? Ist er nicht fortwährend damit beschäftigt, Entgrenzungsstrategien zu entwerfen? Etwa mit der "Zeitschrift für Alles", in der er alles abdruckte, was ihm zugeschickt wurde. Folgt er damit dem berühmten Diktum von Beuys? Keineswegs, denn seine Devise lautet: "Niemand ist ein Künstler." Ununterbrochen hebt er die Kategorien auf: Was man Denken nennt, ist für ihn "einfach Reden", und im Wort sieht er "einfach ein billiges Bild": "Es ist mehr hypnotisch, es belastet die Leute nicht finanziell sosehr." Für das, was in der Kunst "schlecht" ist, hat er nur ein verbales Achselzucken. "Alles ist okay, oder alles ist schlecht." Ähnlich jongliert er mit einander ausschließenden Positionen wie Rückschritt und Fortschritt: "Der Rückschritt ist doch auch was: Schon um den Fortschritt zu beleidigen. Oder zu schädigen. Fortschritt heißt ja nicht, daß man vorwärts schreitet, sondern Fortschritt heißt: weg von einer Sache." Darin zeigt sich, was er an der heutigen Zeit interessant findet: "Das Hochkommen und das Zugrundegehen". Bar jeder Koketterie hält er sich nicht für einen Revolutionär: "Ich bin eher das Gegenteil, nämlich einer, der zurückschaut und nochmals hinguckt, wo man nichts gesehen hat. Und das nochmal sieht."
Der das sagte, wußte, daß er sein Leben lang fortwährend mit Blickwechseln arbeitete und sich von "den Extremen der Askese und des Exzesses" stimulieren ließ. Glozer nennt ihn deshalb einen letzten, beinahe waschechten Existentialisten. Auf jeden Fall war Roth, obwohl er in alle Küchen hineinschaute, ein Einzelgänger, ein Nomade, der jedoch immer wieder die Seßhaftigkeit erprobte. Er erwarb Häuser und Ateliers zwischen Reykjavík, Cadaques und Wien, mit denen er den Generalbaß seiner Existenz bestritt: "Ankommend abreisen". Diese Losung von 1969 wählte Glozer als Titel für seinen Aufsatz. Dem Überallsein hat die Freundschaft mit einem jungen Hamburger Rechtsanwalt zu zwei Fixpunkten verholfen, in denen die Gattung Künstlermuseum zugleich in einen Hinterhalt gerät. Gezeigt wird das gesamte Lebenswerk: die Rasterbilder der konstruktivistischen Anfänge, Collagen und Stempelvariationen, die Schablonenstücke und Abfallkonglomerate bis hin zu den Materialverwandlungen und der Selbstauflösung der "zerfallobjekte". Alles das macht aus dem Museum als einem Bewahrungsort eine Produktionsstätte des unaufhaltsamen Verendens.
Die beiden Hamburger Museen, das legt Glozer überzeugend dar, sind einander als komplementäre Orte zugeordnet. Sie fixieren mögliche Eckpositionen ihrer nomadisierenden Inhalte. Wenn Roth einmal meint, "alles soll alles bedeuten", möchte er die heutige Wissenschaft "auflösen", aber er denkt wohl auch an die ambivalente Rolle des Museums und rechtfertigt sie. Das hindert ihn nicht, in einer großen, insgeheim ironischen Geste alle geläufigen kulturellen Strukturen zu desavouieren: "Die Kunst, die Wissenschaft und die christliche Religion, das sind die drei Scheißklosetts, auf denen die meisten draufsitzen."
Was dabei herauskommt, sind nicht nur Fäkalien. Letztlich war für Roth alles an einem Verwesungsprozeß beteiligt, auch das Kunstbewahren, an dessen Orten der "Verfall blüht". Das Schimmelmuseum in der früheren Remise ist das Monument einer Produktion, deren Verwertung sich als Verwesung darstellt. Das Museum in der Abteistraße stellt hingegen das Lebenswerk von Dieter Roth in einen gepflegten großbürgerlichen Rahmen. Hier wird der Kult des in seiner "Weltlichkeit hochgehaltenen" Originals beschworen, in der Remise herrscht der Vanitas-Kontext von Zeitlichkeit und Verfall.
Das produktive Dilemma, das im Hamburger "Doppelmonument" Gestalt angenommen hat, ist so alt wie das Jahrhundert, dessen Ende es markiert. In dem Augenblick, da die Wiener Secession die Durchdringung des ganzen Lebens mit den Mitteln der Stilkunst proklamierte, beschrieb Alfred Kubin 1908 in seinem Roman "Die andere Seite" das Desaster des pseudosakralen Gesamtkunstwerks. In seiner Stadt Perle wird der ausufernde Panästhetizismus auf den Kopf gestellt: "Besondere Museen, Bildergalerien usw. haben wir nicht. Es ist alles verteilt, sozusagen im Gebrauch." Den negierten und zugleich transzendierten Kunstrang stellt bei Roth die Verschimmelung dar. Kubin hebt alle Rangunterschiede auf: "Wertvolles und offenbar alter Schund werde da mit derselben Hartnäckigkeit verlangt." Dieter Roth bedient die "Wonnen des Gewöhnlichen" als Nominalist, indem er souverän die Gattung "Kitsch" und alle anderen auflöst.
Stellt man die beiden Hamburger Museen als doppelbödige Gesamtkunstwerke einander gegenüber, so kommentieren sie den Satz von Wittgenstein (der für Roth ein "Bluffer" war, "ein Trumpfkartenfabrikant, wie Duchamp"): "Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori." An dieses offene Muster hielt sich Dieter Roth sein Leben lang. Von ebendieser Einstellung sah sich Lévi-Strauss ermächtigt, "plusieurs systématisations possibles" durchzuspielen. Roth, nach seinem Lesestoff befragt, bemerkt einmal: "Was ich noch gut lesen kann, ist einer, der heißt Hubert Fichte; die späteren Sachen. Ich bin auf ihn aufmerksam geworden, da hat er über den Lévi-Strauss im Radio einen Vortrag gehalten. Den fand ich ganz prima, den Vortrag." Wahrscheinlich ist das Spiel mit verschiedenen Systematisierungen der Schlüssel zu der intellektuellen Beweglichkeit, die Roth in allen seinen Tätigkeiten demonstrierte. So ist zum Beispiel das Kaufen von Kunstwerken für ihn eine Art "Ablaß". Von da kommt er geradezu unversehens zu den Letzten Dingen: "Der Mensch kauft Ablaß und macht's an die Wand, damit die anderen das sehen. Je größer der Ablaß, eine desto größere Seligkeit hat er gekauft. Der Künstler ist Ablaßhändler und Ablaßfabrikant in einem." Danach gefragt, ob demnach die Kunst für ihn ein Religionsersatz sei, antwortet er: "Nein. Sie ist ein anderer Ersatz für das, wofür die Religion ein Ersatz ist. So könnte man das sagen." Solche Sätze wiegen ganze Abhandlungen auf.
WERNER HOFMANN
"Dieter Roth. Originale". Bearbeitet von Dirk Dobke. Mit einem Essay von Laszlo Glozer und einem Text von Dirk Dobke. 320 S., 750 Farb-Abb., geb., 1 CD-ROM des "Schimmelmuseums", 49,- [Euro].
"Dieter Roth. Gesammelte Interviews". Herausgegeben von Barbara Wien. Mit einem Nachwort von Barbara Wien und einem Text von Tomas Schmit. 648 S., 84 Farb- u. S/W-Abb., geb., 39,- [Euro].
Beide Bücher Verlagsbuchhandlung Walther König, Köln 2002.
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