Produktdetails
- Verlag: Schneider, Tutzing
- 2000.
- Seitenzahl: 539
- Deutsch
- Abmessung: 240mm
- Gewicht: 936g
- ISBN-13: 9783795209995
- ISBN-10: 3795209994
- Artikelnr.: 08908103
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2000Oft bin ich eingezogen
Nach einem traurigen Wort von Walter Benjamin ist ein vollendetes Werk nicht mehr als "die Totenmaske der Konzeption". Mit dem Satz, all seine Aufnahmen seien nicht mehr als "Konfessionen eines Augenblicks", hat Dietrich Fischer-Dieskau jede einzelne in Frage gestellt oder angedeutet, dass er sie in seiner inneren Vorstellung anders, besser, schöner, vollkommener singen wollte. Das diskographische Resultat seines ständig sich erneuernden Ausdruckswollens hat Monika Wolf zum fünfundsiebzigsten Geburtstag des Sängers am gestrigen Sonntag akribisch dokumentiert (Monika Wolf: "Dietrich Fischer-Dieskau". Verzeichnis der Tonaufnahmen. Dr. Hans Schneider Verlag, Tutzing 2000. XII, 539 S., br., 92,- DM). Es ist gewiss die umfangreichste Diskographie in der Geschichte der Tonaufzeichnung. Kein Sänger hat die Schallplatte als Mittel der Dokumentation, der enzyklopädischen Erschließung des Repertoires oder der wiederholten Beschäftigung mit Herzenswerken so systematisch genutzt wie der Berliner Bariton.
Auf 539 Seiten werden Aufnahmen von knapp 190 Komponisten aufgelistet: von Opern und Oratorien, Kantaten und Liedern. Es sind nicht nur Studio-Produktionen und legal wie illegal publizierte Mitschnitte, sondern auch die in Rundfunk-Archiven konservierten Dokumente. Neunmal ist er in Bachs Matthäuspassion zu hören, vierzehnmal im Deutschen Requiem und achtzehnmal mit der "Schönen Magelone" von Brahms, dreiundzwanzigmal mit den Liedern eines fahrenden Gesellen von Mahler, fünfundzwanzigmal als Graf in Mozarts "Le Nozze di Figaro" und dreiunddreißig- mal mit dem Kranz schauriger Lieder von Franz Schubert: der "Winterreise". Die Liste seiner Partner - Barenboim, Brendel, Britten, Demus, Eschenbach, Moore, Reimann, Richter, Sawallisch - ist ein "Who is Who" der Pianisten.
Gibt es einen Komponisten, zu dem er nichts zu sagen hatte? Oder der ihm nichts zu sagen hatte? Namen wie Thomas Morley, John Dowland und Thomas Campion fehlen, aber deren "Books of Songs or Ayres" verlangen einfach einen anderen Stimm-Typus: androgyne Tenöre wie Peter Pears oder Counter-Tenöre. Es fehlen auch die Lieder und Canzonen von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi, die wohl ein anderes Register der Seele verlangen. Was aber Beethoven, Brahms, Britten und Busoni, Debussy, Dessau und Dvorák, Haydn, Henze und Hindemith, Liszt, Lloyd und Loewe, Mahler, Mendelssohn, Messiaen, Meyerbeer und Mozart, Ravel, Reger und Reimann, Schostakowitsch, Schubert und Schumann und all die anderen zwischen Giuseppe Aldrovandini und Alexander von Zemlinsky für die Bariton-Stimme geschrieben haben - er hat, vielfach in riesigen Sammlungen, das OEuvre all dieser Komponisten erschlossen oder dokumentiert.
Das ist die beinahe unfasslich statistische Dimension. Die Wirkung, die er, insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren, auf die Mentalitätsgeschichte gehabt hat, ist kaum zu ermessen. "Viele von uns haben mit Dietrich Fischer-Dieskau ein halbes Leben verbracht", schrieb Ivan Nagel, "wir wüssten weniger ohne ihn, wir hätten weniger gelebt. Nein: Wir hätten, ohne ihn, weniger erlebt."
Zugleich aber spiegelt die Diskographie einen Universalitätsanspruch, der keineswegs nur Bewunderung auf sich gelenkt hat. Ob ein einziger Sänger in der Lage sei, so fragte nicht allein der stets sachliche Ulrich Dibelius nach der Veröffentlichung der Brahms-Edition, das Gesamtwerk eines Komponisten zu erfassen - einen Ausdruckskosmos von unendlicher Vielfalt. Irritiert von einer Könnerschaft, der alle Mittel zur Verfügung stehen, schrieb ein amerikanischer Kritiker in zürnender Überspitzung, der Sänger habe auf ihn den Eindruck einer "perfekten Liedermaschine" gemacht.
Andrew Porter, zuweilen als "a critic's critic" genannt, notierte nach einer Aufführung der "Winterreise", er habe nicht die verzweifelte Reise eines Außenseiters ("Habe ja doch nichts begangen, dass ich Menschen sollte scheu'n") erlebt, sondern Hunderte exquisiter Details. In einer der vielen Debatten über den Berliner Bariton schrieb der Gesangspädagoge Conrad L. Osborne in einer minuziösen Analyse, des Sängers wunderbare, weiche und reiche Stimme sei für die Hälfte des gesamten Bariton-Repertoires geeignet gewesen; doch habe sie revoltiert, wenn sie auch durch die andere Hälfte getrieben wurde. Gerade als Opernsänger hat Fischer-Dieskau, wie etliche seiner rund achtzig Aufnahmen zeigen, nicht nur die Grenzen der Fächer, sondern auch die Mittel der Stimme überschritten. Den Mangel an vokalen Ressourcen hat er in heldischen Partien zu überspielen versucht durch heftige Akzentuierungen und rhetorische Zuspitzungen - mit einem Wort von Wagner: durch Stimmaufstöße.
Die Warnung Wagners - "Was vermag der Affekt, wenn er die organischen Fähigkeiten überschreitet?" - hat er missachtet, auf Kritik indigniert, oft sogar gereizt reagiert. Er, der als "Erzvater des Kunstliedes" gefeiert wurde, als "Gott, dem alles geschenkt wurde" (Elisabeth Schwarzkopf), als "der größte Sänger des Jahrhunderts" (Leonard Bernstein): er, der vom amerikanischen Magazin "Newsweek" unter die zehn bedeutendsten Männer seiner Zeit gewählt wurde, blickt in seinem soeben veröffentlichten Erinnerungsbuch: "Zeit eines Lebens" zurück im Zorn und im Zwiespalt mit der Welt."Kaum je wurde meine künstlerische Leistung (. . .) in der Weise geschätzt, wie sie es eigentlich verdient hätte."
Nehmen wir auch dies, wie seine Aufnahmen, als Konfession eines Augenblicks. Der trotzige oder zornige Stolz passt besser zu diesem Prometheus als die affektierte Bescheidenheit.
JÜRGEN KESTING
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach einem traurigen Wort von Walter Benjamin ist ein vollendetes Werk nicht mehr als "die Totenmaske der Konzeption". Mit dem Satz, all seine Aufnahmen seien nicht mehr als "Konfessionen eines Augenblicks", hat Dietrich Fischer-Dieskau jede einzelne in Frage gestellt oder angedeutet, dass er sie in seiner inneren Vorstellung anders, besser, schöner, vollkommener singen wollte. Das diskographische Resultat seines ständig sich erneuernden Ausdruckswollens hat Monika Wolf zum fünfundsiebzigsten Geburtstag des Sängers am gestrigen Sonntag akribisch dokumentiert (Monika Wolf: "Dietrich Fischer-Dieskau". Verzeichnis der Tonaufnahmen. Dr. Hans Schneider Verlag, Tutzing 2000. XII, 539 S., br., 92,- DM). Es ist gewiss die umfangreichste Diskographie in der Geschichte der Tonaufzeichnung. Kein Sänger hat die Schallplatte als Mittel der Dokumentation, der enzyklopädischen Erschließung des Repertoires oder der wiederholten Beschäftigung mit Herzenswerken so systematisch genutzt wie der Berliner Bariton.
Auf 539 Seiten werden Aufnahmen von knapp 190 Komponisten aufgelistet: von Opern und Oratorien, Kantaten und Liedern. Es sind nicht nur Studio-Produktionen und legal wie illegal publizierte Mitschnitte, sondern auch die in Rundfunk-Archiven konservierten Dokumente. Neunmal ist er in Bachs Matthäuspassion zu hören, vierzehnmal im Deutschen Requiem und achtzehnmal mit der "Schönen Magelone" von Brahms, dreiundzwanzigmal mit den Liedern eines fahrenden Gesellen von Mahler, fünfundzwanzigmal als Graf in Mozarts "Le Nozze di Figaro" und dreiunddreißig- mal mit dem Kranz schauriger Lieder von Franz Schubert: der "Winterreise". Die Liste seiner Partner - Barenboim, Brendel, Britten, Demus, Eschenbach, Moore, Reimann, Richter, Sawallisch - ist ein "Who is Who" der Pianisten.
Gibt es einen Komponisten, zu dem er nichts zu sagen hatte? Oder der ihm nichts zu sagen hatte? Namen wie Thomas Morley, John Dowland und Thomas Campion fehlen, aber deren "Books of Songs or Ayres" verlangen einfach einen anderen Stimm-Typus: androgyne Tenöre wie Peter Pears oder Counter-Tenöre. Es fehlen auch die Lieder und Canzonen von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi, die wohl ein anderes Register der Seele verlangen. Was aber Beethoven, Brahms, Britten und Busoni, Debussy, Dessau und Dvorák, Haydn, Henze und Hindemith, Liszt, Lloyd und Loewe, Mahler, Mendelssohn, Messiaen, Meyerbeer und Mozart, Ravel, Reger und Reimann, Schostakowitsch, Schubert und Schumann und all die anderen zwischen Giuseppe Aldrovandini und Alexander von Zemlinsky für die Bariton-Stimme geschrieben haben - er hat, vielfach in riesigen Sammlungen, das OEuvre all dieser Komponisten erschlossen oder dokumentiert.
Das ist die beinahe unfasslich statistische Dimension. Die Wirkung, die er, insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren, auf die Mentalitätsgeschichte gehabt hat, ist kaum zu ermessen. "Viele von uns haben mit Dietrich Fischer-Dieskau ein halbes Leben verbracht", schrieb Ivan Nagel, "wir wüssten weniger ohne ihn, wir hätten weniger gelebt. Nein: Wir hätten, ohne ihn, weniger erlebt."
Zugleich aber spiegelt die Diskographie einen Universalitätsanspruch, der keineswegs nur Bewunderung auf sich gelenkt hat. Ob ein einziger Sänger in der Lage sei, so fragte nicht allein der stets sachliche Ulrich Dibelius nach der Veröffentlichung der Brahms-Edition, das Gesamtwerk eines Komponisten zu erfassen - einen Ausdruckskosmos von unendlicher Vielfalt. Irritiert von einer Könnerschaft, der alle Mittel zur Verfügung stehen, schrieb ein amerikanischer Kritiker in zürnender Überspitzung, der Sänger habe auf ihn den Eindruck einer "perfekten Liedermaschine" gemacht.
Andrew Porter, zuweilen als "a critic's critic" genannt, notierte nach einer Aufführung der "Winterreise", er habe nicht die verzweifelte Reise eines Außenseiters ("Habe ja doch nichts begangen, dass ich Menschen sollte scheu'n") erlebt, sondern Hunderte exquisiter Details. In einer der vielen Debatten über den Berliner Bariton schrieb der Gesangspädagoge Conrad L. Osborne in einer minuziösen Analyse, des Sängers wunderbare, weiche und reiche Stimme sei für die Hälfte des gesamten Bariton-Repertoires geeignet gewesen; doch habe sie revoltiert, wenn sie auch durch die andere Hälfte getrieben wurde. Gerade als Opernsänger hat Fischer-Dieskau, wie etliche seiner rund achtzig Aufnahmen zeigen, nicht nur die Grenzen der Fächer, sondern auch die Mittel der Stimme überschritten. Den Mangel an vokalen Ressourcen hat er in heldischen Partien zu überspielen versucht durch heftige Akzentuierungen und rhetorische Zuspitzungen - mit einem Wort von Wagner: durch Stimmaufstöße.
Die Warnung Wagners - "Was vermag der Affekt, wenn er die organischen Fähigkeiten überschreitet?" - hat er missachtet, auf Kritik indigniert, oft sogar gereizt reagiert. Er, der als "Erzvater des Kunstliedes" gefeiert wurde, als "Gott, dem alles geschenkt wurde" (Elisabeth Schwarzkopf), als "der größte Sänger des Jahrhunderts" (Leonard Bernstein): er, der vom amerikanischen Magazin "Newsweek" unter die zehn bedeutendsten Männer seiner Zeit gewählt wurde, blickt in seinem soeben veröffentlichten Erinnerungsbuch: "Zeit eines Lebens" zurück im Zorn und im Zwiespalt mit der Welt."Kaum je wurde meine künstlerische Leistung (. . .) in der Weise geschätzt, wie sie es eigentlich verdient hätte."
Nehmen wir auch dies, wie seine Aufnahmen, als Konfession eines Augenblicks. Der trotzige oder zornige Stolz passt besser zu diesem Prometheus als die affektierte Bescheidenheit.
JÜRGEN KESTING
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Auch ein ausgewiesener Kenner wie Jürgen Kesting scheint dieser "akribisch dokumentierten" Diskographie noch erhellende Aspekte abgewinnen zu können. So zeigt er sich beeindruckt davon, dass diese Diskographie auch illegale Mitschnitte und "in Rundfunk-Archiven konservierte Dokumente" enthält. Schier überwältigend scheint die Anzahl der Aufnahmen: Fünfundzwanzig Aufnahmen sind es, in denen Fischer-Dieskau den Grafen in "La nozze di Figaro" sang, dreiunddreißigmal gar hat er Schuberts "Winterreise" eingespielt. Die Liste seiner Klavierpartner liest sich wie ein "`Who is Who` der Pianisten", so Kesting. Bei dem beeindruckenden Umfang der Aufnahmen geht Kesting auch der Frage nach, welche Komponisten und Stücke Fischer-Dieskau denn nicht aufgenommen hat. Denn solche gibt es auch. So nennt der Rezensent u. a. "Lieder und Canzonen von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi, die wohl ein anderes Register der Seele verlangen". Kesting scheut sich nicht, den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass der Sänger auch bei so mancher Opernpartie "die Grenzen seiner Stimme überschritten" habe und zitiert in seiner Rezension auch renommierte Musikkritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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