Dieses Buch ist wie ein Stolperstein. Sie kennen das vielleicht: Sie schauen in einer Stadt auf den Boden und kleine Steine mit Namen und einigen Hinweisen deuten auf eine Person und ihre Geschichte hin.
Der Autor Bernard Delpal, Professor für Geschichte, Historiker und Herausgeber mehrerer
Bücher zur Geschichte der Resistance im Zweiten Weltkrieg, stellt mit diesem Buch eine Studie zu dem Ort…mehrDieses Buch ist wie ein Stolperstein. Sie kennen das vielleicht: Sie schauen in einer Stadt auf den Boden und kleine Steine mit Namen und einigen Hinweisen deuten auf eine Person und ihre Geschichte hin.
Der Autor Bernard Delpal, Professor für Geschichte, Historiker und Herausgeber mehrerer Bücher zur Geschichte der Resistance im Zweiten Weltkrieg, stellt mit diesem Buch eine Studie zu dem Ort „Dieulefit“ vor. Die dritte Auflage berücksichtigt dabei die Forschungsergebnisse einiger jüngerer Arbeiten aus den Jahren 2015 - 2018 zum zivilgesellschaftlichen Widerstand in Frankreich während der deutschen Besatzung.
Dieses Buch erzählt Geschichten, die von Mut, Entschlossenheit, Tatkraft, Solidarität handeln und von Menschen, die sich aufgrund eigener Überzeugungen nicht korrumpieren lassen.
Die Geschichte, die durch diese Publikation wieder lebendig wird, ist schön, bewegend und rätselhaft: ein ganzes Dorf bot mehr als 1000 Verfolgten Schutz und retteten so deren Leben. In der Mehrheit handelte sich es um Juden, Elsässer, Widerstandskämpfer, oppositionelle Intellektuelle.
Der Autor der Studie lässt sich von der Frage leiten: Wie konnte eine Gemeinde, in der es sicherlich auch Spannungen und Feindseligkeiten gab, eine derartige Widerstandsfront entwickeln? Wie wurden Entscheidungen getroffen? Der Autor entwickelt in seiner Studie mehrere Grundannahmen (Hypothesen), die von Zeitzeugen bestätigt wurden: der hugenottische Nährboden, die ländliche Gastfreundschaft und Solidarität, das Festhalten an republikanischen Werten (S. 11). Wie welche konkreten Formen nahm der zivile Widerstand an? Wie konnte er gelingen? Die Studie und die Berichte der Zeitzeugen weisen dies auf.
Das Besondere dieses Buches: es zeigt auf, wie ein ganzes Dorf eine Grundhaltung des zivilen Ungehorsams und Widerstands entwickelt und beibehält und damit der Zerstörung der Zivilgesellschaft etwas entgegensetzt. Die Bewohner von Dieulifit sind bereit, Risiken einzugehen für höhere Werte wie Freiheit, menschliche Würde, Solidarität, die Nähe zum Anderen, Fürsorge für die Verfolgten (S. 179).
Als zentrales Merkmal wird in der Studie mehrmals die Bereitschaft hervorgehoben, Verfolgte ohne Wenn und Aber in die Gemeinschaft einzugliedern. Pierre Emmanuel, einer der Verfolgten, die in Dieulefit überleben konnten, beschrieb die soziale Grundhaltung so: „In Dieulefit ist niemand ein Fremder. Wer gerade ankommt und völlig erschöpft ist, .. ausgehungert, vielleicht verfolgt, verängstigt .., darf hier aufatmen, jetzt erwartet ihn der Frieden. Er wird zuhause sein, bei den Seinen, denn er ist der nächste, für den der Tisch immer gedeckt ist.“ (S.12).
Der im Buchtitel angesprochene Rettungswiderstand in Dieulefit entwickelte sich aus einer anfänglichen Haltung der Dissident und der Empörung; in einem nächsten Schritt trafen viele Einwohner die Entscheidung, behördliche Anweisungen nicht mehr zu befolgen; dann gingen sie den Schritt in die Illegalität und den Widerstand, ohne dass dabei Einmütigkeit herrschte. Bemerkenswert ist, dass die Menschen, die diese Entwicklung nicht mitvollzogen …., sich nicht zu Denunziationen verleiten liessen und nicht zuließen, dass die Grundlage der Zivilgesellschaft zerstört wurde“ (S.95).
Ein schönes Beispiel ist in dem Abschnitt „Die Verordnung, die viele Gewissen in Dieulefit aufrüttelte“ (S. 69 - 75) beschrieben: Die Verordnung, Juden zu erfassen, wurde zwar verkündet, aber die Behörden, die es umsetzen sollten, insbesondere die Ausländerbehörde, die Gendarmerie, Jeanne Barnier und das Gemeindesekretariat, sorgten dafür, dass es folgenlos blieb.
Über den historischen Bezug hinaus zeigt die Studie, dass Menschen fähig sind, eine demokratische und ethische Haltung zu leben und sich so die eigene geistige Freiheit zu bewahren.
Noch einige Worte zur Gestaltung des Buches: Die Schrift ist angenehm in der Wahrnehmung und auch für ältere Menschen gut lesbar. Das Inhaltsverzeichnis weist eine klare Gliederung auf, die es ermöglichen, Themen schnell wieder zu finden. In der Übersetzung von Ursula Bös liest sich das Buch flüssig. Fotos von Menschen, Landschaften und Dokumenten lockern den Text auf und lassen emotional begreifen, dass hier über wirklich lebende Menschen und ihre mutigen Taten berichtet wird. Gut lesbare Fußnoten weisen auf zitierte Literatur hin. Auf weitere Veröffentlichungen des Autors wird auf Seite 174 verwiesen. Am Ende des Buches befinden sich Hinweise auf weitere Bücher zum Thema.
Das Buch habe ich an zwei ruhigen Tagen konzentriert im Stillen gelesen. Das Lesen des Buches verlangt zu Recht Aufmerksamkeit, Wachheit, Konzentration. Es entlässt mich nachdenklich und erfüllt.