Privatrecht als OrdnungsformCORPUS IURIS CIVILIS ist der Inbegriff antiker Rechtsregeln für eine hochentwickelte Wirtschaftsgesellschaft. Zum ersten Mal wird das Privatrecht als selbständige Ordnungsform verstanden, welche die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Einzelnen rational und zusammenhängend regelt: Die bedeutendste Hinterlassenschaft der römischen Antike! Wurzeln des BGB im römischen RechtIm kontinentalen Europa stellt die Rechtssammlung über viele Jahrhunderte die wesentliche Rechtsquelle dar. Die europäische Rechtstradition wurzelt noch heute im römischen Recht. Auch das BGB ist, wie fast alle geltenden Rechtsordnungen, vom CORPUS IURIS CIVILIS maßgeblich geprägt.Digesten: Herkunft und SchicksalDie von Kaiser Justinian (527-565) zusammengestellte Rechtssammlung stellt mit ihrem fast unerschöpflichen Vorrat an Rechtsproblemen eine fachjuristische Dokumentation einzigartigen Ranges dar. Das Herzstück bilden die 50 Bücher der Digesten ("Geordnete Sammlung"). Sie bestehen aus Fragmenten rechtswissenschaftlicher Schriften von etwa 40 röm. Juristen der sog. klassischen Zeit.Band IVBand IV beinhaltet die Digesten 21 bis 27, diese haben zentrale Materien insbesondere aus dem Kaufrecht und dem Familienrecht zum Gegenstand:- Sach- und Rechtsmängelhaftung beim Kauf (Dig. 21)- Zinsrecht (Dig. 22, 1) und Beweisrecht (Dig. 22, 3 ff.)- Eheschließung (Dig. 23, 2) und Ehescheidung (Dig. 24, 2)- Schenkungen unter Ehegatten (Dig. 24, 1) und Unterhaltspflicht (Dig. 25, 3)- Anerkennung von Kindern (Dig. 25, 3) und Vormundschaft (Dig. 26 u. 27)Zeitgemäße ÜbersetzungDie zielsprachenorientierte Übersetzung eröffnet Juristen und an Rechtsfragen orientierten Zeitgenossen einen neuen Zugang zu den klassischen Texten der Rechtswissenschaft.Bestellen Sie die Edition zur Fortsetzung mit einer einzigen Bestellnummer. 15 % Ermäßigung auf den Einzelpreis: ISBN 978-3-8114-4533-8.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2005Meine Ex hat im Haus geklaut
Ein Buch, das alle angeht: Die Digesten sind Europas Juristenbibel
Gewissenhaft schreitet die Übersetzung dieses Mammutwerks voran: Die Digesten, jene gigantische Zitatensammlung aus den Klassikern der römischen Jurisprudenz, machen höchst lebendig den Alltag der antiken Gesellschaft faßbar.
In Zeiten, in denen die Verlage ihre Bücher als schnell verderbliche Ware nach drei Monaten ins moderne Antiquariat abschieben, sei auf ein Buch hingewiesen, das sich nun schon fast fünfzehn Jahrhunderte lang hält. Seit es an Weihnachten 533 in der Welt erschien, wurde es von zahllosen Menschen studiert und kommentiert. Ebenso zahllose Streitfälle wurden mit seiner Hilfe geregelt. Großen Gesetzgebern hat es als Vorbild gedient. Es hat die Welt verändert und Europa geformt. Die Digesten oder Pandekten, jene in fünfzig "Bücher" gegliederte gigantische Zitatensammlung aus den Klassikern der römischen Jurisprudenz, auf Geheiß des Kaisers Justinian in "Ostrom" gesammelt und publiziert, im Westen in der Völkerwanderung halbwegs vergessen, im Oberitalien des zwölften Jahrhunderts wieder entdeckt, wurden das Juristenbuch Europas schlechthin. Es lieferte die rationale Rechtstechnik, die dogmatischen Grundfiguren, in denen menschliches Leben abstrahiert und rechtlich gefaßt wird: den Vertrag, das Testament, die Geschäftsführung für Dritte, die Rückabwicklung mißlungener Geschäfte, das Eigentum und den Besitz, die familien- und erbrechtlichen Grundregeln einer im Kern auf das Individuum orientierten Gesellschaft.
Solange Latein als europaweit gepflegte Wissenschaftssprache benutzt wurde, also bis etwa 1800, brauchte man keine Übersetzungen, um die Digesten und die übrigen Teile des Corpus Iuris Civilis zu studieren. Inzwischen haben aber Nationalsprachen und Nationalgesetzbücher das Terrain erobert. Herrschende Wissenschaftssprache ist Englisch. Das gymnasiale Latein hält sich wacker, nur in so begrenztem Umfang, daß schon die munteren Sprüche aus dem Schatzkästlein des Justizrats Wendig bei Donald Duck (Avunculi in vinculis! Auf deutsch: Onkel haften für ihre Neffen) kaum noch belacht werden können.
Seit zehn Jahren übersetzt eine deutsche Gelehrtengruppe die Digesten. Unterstützt von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, schreitet sie gewissenhaft und deshalb langsam voran. Die Texte werden ausgiebig diskutiert, mit dem neuesten Forschungsstand verglichen und "zielsprachenorientiert" übersetzt. Ein moderner Leser soll damit etwas anfangen können. Dahinter steht der Wunsch nach Verlebendigung der Tradition. Wer eine Juristenausbildung erworben und das Bürgerliche Gesetzbuch im Kopf hat, mag sich daran erfreuen, was in jenen alten Texten alles "schon" steht.
Eine zielsprachenorientierte Übersetzung, wie sie hier praktiziert wird, ist eine subtile Aktualisierung. Wenn etwa von der "bona fides" die Rede ist, wird dies nach dem Vorbild des bürgerlichen Rechts mit "Treu und Glauben" übersetzt. Nun ist die Formel "Treu und Glauben" aber erst seit dem sechzehnten Jahrhundert üblich, und sie meinte zunächst als Regel der Politik und des Völkerrechts, man dürfe nicht gegen die "Treue", die vertragliche Zusage, und nicht gegen den christlichen "Glauben" verstoßen. Erst mit der Aufklärung verblaßte der "Glaube" und mutierte zu einem Fürwahrhalten der Worte des Vertragspartners. So gerät man durch die aktualisierende Übersetzung gleich in die Fallstricke variabler Bedeutungen von Worten in wechselnden Kontexten.
Für welche Worte man sich bei solchen Subtilitäten auch entscheiden mag, die Leistung der Übersetzergruppe für die deutsche Rechtskultur ist hoch zu loben. Zum ersten Mal seit dem neunzehnten Jahrhundert liegt wieder eine moderne Übersetzung vor. Der des Lateins weitgehend unkundig gewordenen Juristenwelt wird der Text zweisprachig geboten. Und es ist eine Lust, die Bücher 21 bis 27 der Digesten durchzulesen, sei es mit kulturgeschichtlicher, sei es mit juristischer Entdeckerfreude. Die genannten Bücher beginnen mit den Alltagsgeschäften des Kaufrechts: Gelieferte Ware war fehlerhaft oder gehörte einem Dritten. Der Verkäufer hat den Mund zu voll genommen und mehr versprochen, als er halten konnte, der Käufer will die Sache zurückgeben oder jedenfalls weniger zahlen. Der zerstreute Käufer hat zweimal gezahlt und will nun sein Geld zurück. Ein Grundstück wird verkauft, aber der Käufer soll es erst nach der Ernte erhalten, die Früchte bleiben beim Verkäufer.
Um alle diese bunten Geschäfte zu bewältigen, braucht man Beweisregeln, um das zu fixieren, was dann "Tatsache" genannt wird. Eine solche Regel steht in den Digesten als Satz des Juristen Paulus (Ende des zweiten Jahrhunderts): "Beweisen muß, wer behauptet, nicht wer bestreitet." Weiter finden sich erfahrungsgesättigte Alltagsannahmen über die Glaubwürdigkeit von Zeugen, etwa nach Würdigkeit, Lebenswandel und Charakterfestigkeit, aber auch nach Einkommen. Diese Passagen sind deshalb auch eine Fundgrube für Sozialhistoriker. Sie zeigen eine Skala der Respektabilität der antiken Gesellschaft. Oben stehen reiche Männer aus senatorischer Familie, die einen guten Ruf haben und würdig auftreten, die sich entsprechend verheiraten - nicht etwa mit Freigelassenen oder gar Sklavinnen. Unten stehen die Sklaven, aber auch die als unehrenhaft angesehenen Berufe, etwa Schauspieler. Heiratet ein Mädchen aus senatorischer Familie einen Schauspieler oder auch nur den Sohn einer solchen Familie, dann soll, sagen die Kaiser, die Ehe nicht wirksam sein.
Damit ist der Leser schon in den Materien der Bücher 23 bis 27, also im Recht der Verlöbnisse, der Eheschließung und der unendlichen Kasuistik des Heiratsguts. Die spätrömische Gesellschaft war keineswegs egalitär und individualistisch. Es galt vielmehr eine strenge Schichtung, und die Familie war weitaus wichtiger als der einzelne. Entsprechend viele Regeln brauchte sie, um unerwünschte Vermischungen zu verhüten. Nicht selten war es wohl, daß ein Herr eine Sklavin kaufte, sie freiließ, um sie dann zu heiraten oder wenigstens im Konkubinat mit ihr zu leben. Söhne, die noch unter der Macht des Vaters standen, verliebten sich in Sklavinnen und kämpften nun um die väterliche Zustimmung zur Heirat.
Verwirrend viele Eheverbote regulierten diese komplexe Welt. Da auch die Adoption viel häufiger vorkam als heute, überschnitten sich Familienzugehörigkeit und Blutsverwandtschaft. Und natürlich ging es auch ums Geld: Über die Mitgift erhielt der Ehemann Bargeld, Mietshäuser in der Stadt, Äcker und Olivenhaine auf dem Land, einschließlich der Sklavinnen und Sklaven, die dort arbeiteten. Bei Ehescheidung wurde auch die materielle Seite wieder entflochten. Geschenke, mit denen man sich in besseren Zeiten überschüttet hatte, wurden zurückverlangt. Wie stand es mit der Rückgabe von Heiratsgut, wenn es um Weinberge, Steinbrüche, Kalk- oder Sandgruben und deren weitere Nutzung ging? In das von der Frau eingebrachte Haus war eine Heizung oder ein Bad eingebaut, die Eingangshalle mit teurem Marmor belegt worden - durfte das bei der Rückgabe abgezogen werden? Einigte man sich nicht, mußte der amtliche Schätzer antreten.
Wie üblich bei Ehescheidungen kamen auch die unerfreulichen Seiten heraus. Man warf sich Diebstähle im Haus vor, ja man bestellte Diebstähle durch Banden, man stritt um die Anerkennung von Kindern und um die Unterhaltspflichten. Wieder mußte am Ende der Prätor entscheiden. Ganz heikel wurde es, wenn die Witwe behauptete, sie erwarte von ihrem jüngst verstorbenen Ehemann noch ein Kind, während die auf die Erbschaft erpichte Verwandtschaft meinte, sie täusche die Schwangerschaft nur vor oder der Verstorbene könne gar nicht der Vater gewesen sein. Da wurden verständige und ehrbare Hebammen eingesetzt, die Schwangere wurde beobachtet und durfte ihr Haus nicht verlassen. Zu groß war die Sorge, sie könne sich mit Hilfe eines untergeschobenen Kindes das Erbe sichern.
Eine heute nur noch schwer vorstellbare Rolle spielte das Institut der Vormundschaft, gewissermaßen als Ersatz für die alles beherrschende Gewalt des Hausvaters. Die Lebenserwartung war gering, zumal in Kriegszeiten, Schiffsreisende waren von Piraterie und Verkauf in die Sklaverei bedroht. So bestellte man Vormünder und Pfleger oder ließ sie bestellen, die Behörden wurden eingeschaltet. Dabei ging es um die Auswahl der richtigen Person, um deren Rechte und Pflichten bei der Erziehung und bei der Vermögensverwaltung.
Wer zahlte den Unterhalt des Kindes? Wie hatte der Pfleger das Geld anzulegen, wem mußte er Auskunft geben? Was hatten die Erben des Vormunds oder Pflegers mitzureden, wenn auch dieser starb? War es richtig, das Baugrundstück in der Nähe der Stadt zu verkaufen, wenn im Testament davon nichts gestanden hatte? Entpuppte sich ein Vermögenspfleger als Gauner, mußte ihm das Vermögen wieder entrissen werden.
Wer hierzulande in den Römisch-Germanischen Museen in Mainz und Köln anhand von Keramik, Ackergeräten, Schmuck, Waffen oder Grabsteinen einen Einblick in das römische Alltagsleben gewinnt, könnte diesen Alltag auch indirekt über die von den römischen Juristen traktierten Fälle und die daraus abgeleiteten Regeln rekonstruieren; denn Regeln sind Abbreviaturen von Praxis. Was oft vorkommt und oft in gleichem Sinne entschieden wird, erstarrt zur Regel, und es ist Juristenaufgabe, hiervon wieder die Ausnahmen zu ermitteln. Die Digesten sind zwar heute nicht mehr das juristische Hauptbuch Europas. Die europäische Rechtsvereinheitlichung, so sie denn voranschreitet, wird dieser Texte nicht mehr bedürfen, weil sie inhaltlich längst in die nationalen Gesetzbücher eingegangen sind. Aber die heute in Europa erreichte praktische Ebene der Verständigung und der sie tragende rechtskulturelle Grund sind nur entstanden, weil Juristen achthundert Jahre lang an diesen Texten die dogmatischen Grundfiguren und den charakteristischen Denkstil eingeübt haben. Insofern gehören die hier präsentierten Texte uns allen und gehen alle etwas an.
MICHAEL STOLLEIS
"Corpus Iuris Civilis". Auf der Grundlage der von Theodor Mommsen und Paul Krüger besorgten Textausgaben. Text und Übersetzung. Band IV: Digesten 21-27. Gemeinschaftlich übersetzt und herausgegeben von Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Hans Hermann Seiler, Okko Behrends. Mit Beiträgen von Karlheinz Misera, Ingo Reichard und Karl-Heinz Ziegler. C. F. Müller Verlag, Heidelberg 2005. XVII, 531 S., geb., 168,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch, das alle angeht: Die Digesten sind Europas Juristenbibel
Gewissenhaft schreitet die Übersetzung dieses Mammutwerks voran: Die Digesten, jene gigantische Zitatensammlung aus den Klassikern der römischen Jurisprudenz, machen höchst lebendig den Alltag der antiken Gesellschaft faßbar.
In Zeiten, in denen die Verlage ihre Bücher als schnell verderbliche Ware nach drei Monaten ins moderne Antiquariat abschieben, sei auf ein Buch hingewiesen, das sich nun schon fast fünfzehn Jahrhunderte lang hält. Seit es an Weihnachten 533 in der Welt erschien, wurde es von zahllosen Menschen studiert und kommentiert. Ebenso zahllose Streitfälle wurden mit seiner Hilfe geregelt. Großen Gesetzgebern hat es als Vorbild gedient. Es hat die Welt verändert und Europa geformt. Die Digesten oder Pandekten, jene in fünfzig "Bücher" gegliederte gigantische Zitatensammlung aus den Klassikern der römischen Jurisprudenz, auf Geheiß des Kaisers Justinian in "Ostrom" gesammelt und publiziert, im Westen in der Völkerwanderung halbwegs vergessen, im Oberitalien des zwölften Jahrhunderts wieder entdeckt, wurden das Juristenbuch Europas schlechthin. Es lieferte die rationale Rechtstechnik, die dogmatischen Grundfiguren, in denen menschliches Leben abstrahiert und rechtlich gefaßt wird: den Vertrag, das Testament, die Geschäftsführung für Dritte, die Rückabwicklung mißlungener Geschäfte, das Eigentum und den Besitz, die familien- und erbrechtlichen Grundregeln einer im Kern auf das Individuum orientierten Gesellschaft.
Solange Latein als europaweit gepflegte Wissenschaftssprache benutzt wurde, also bis etwa 1800, brauchte man keine Übersetzungen, um die Digesten und die übrigen Teile des Corpus Iuris Civilis zu studieren. Inzwischen haben aber Nationalsprachen und Nationalgesetzbücher das Terrain erobert. Herrschende Wissenschaftssprache ist Englisch. Das gymnasiale Latein hält sich wacker, nur in so begrenztem Umfang, daß schon die munteren Sprüche aus dem Schatzkästlein des Justizrats Wendig bei Donald Duck (Avunculi in vinculis! Auf deutsch: Onkel haften für ihre Neffen) kaum noch belacht werden können.
Seit zehn Jahren übersetzt eine deutsche Gelehrtengruppe die Digesten. Unterstützt von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, schreitet sie gewissenhaft und deshalb langsam voran. Die Texte werden ausgiebig diskutiert, mit dem neuesten Forschungsstand verglichen und "zielsprachenorientiert" übersetzt. Ein moderner Leser soll damit etwas anfangen können. Dahinter steht der Wunsch nach Verlebendigung der Tradition. Wer eine Juristenausbildung erworben und das Bürgerliche Gesetzbuch im Kopf hat, mag sich daran erfreuen, was in jenen alten Texten alles "schon" steht.
Eine zielsprachenorientierte Übersetzung, wie sie hier praktiziert wird, ist eine subtile Aktualisierung. Wenn etwa von der "bona fides" die Rede ist, wird dies nach dem Vorbild des bürgerlichen Rechts mit "Treu und Glauben" übersetzt. Nun ist die Formel "Treu und Glauben" aber erst seit dem sechzehnten Jahrhundert üblich, und sie meinte zunächst als Regel der Politik und des Völkerrechts, man dürfe nicht gegen die "Treue", die vertragliche Zusage, und nicht gegen den christlichen "Glauben" verstoßen. Erst mit der Aufklärung verblaßte der "Glaube" und mutierte zu einem Fürwahrhalten der Worte des Vertragspartners. So gerät man durch die aktualisierende Übersetzung gleich in die Fallstricke variabler Bedeutungen von Worten in wechselnden Kontexten.
Für welche Worte man sich bei solchen Subtilitäten auch entscheiden mag, die Leistung der Übersetzergruppe für die deutsche Rechtskultur ist hoch zu loben. Zum ersten Mal seit dem neunzehnten Jahrhundert liegt wieder eine moderne Übersetzung vor. Der des Lateins weitgehend unkundig gewordenen Juristenwelt wird der Text zweisprachig geboten. Und es ist eine Lust, die Bücher 21 bis 27 der Digesten durchzulesen, sei es mit kulturgeschichtlicher, sei es mit juristischer Entdeckerfreude. Die genannten Bücher beginnen mit den Alltagsgeschäften des Kaufrechts: Gelieferte Ware war fehlerhaft oder gehörte einem Dritten. Der Verkäufer hat den Mund zu voll genommen und mehr versprochen, als er halten konnte, der Käufer will die Sache zurückgeben oder jedenfalls weniger zahlen. Der zerstreute Käufer hat zweimal gezahlt und will nun sein Geld zurück. Ein Grundstück wird verkauft, aber der Käufer soll es erst nach der Ernte erhalten, die Früchte bleiben beim Verkäufer.
Um alle diese bunten Geschäfte zu bewältigen, braucht man Beweisregeln, um das zu fixieren, was dann "Tatsache" genannt wird. Eine solche Regel steht in den Digesten als Satz des Juristen Paulus (Ende des zweiten Jahrhunderts): "Beweisen muß, wer behauptet, nicht wer bestreitet." Weiter finden sich erfahrungsgesättigte Alltagsannahmen über die Glaubwürdigkeit von Zeugen, etwa nach Würdigkeit, Lebenswandel und Charakterfestigkeit, aber auch nach Einkommen. Diese Passagen sind deshalb auch eine Fundgrube für Sozialhistoriker. Sie zeigen eine Skala der Respektabilität der antiken Gesellschaft. Oben stehen reiche Männer aus senatorischer Familie, die einen guten Ruf haben und würdig auftreten, die sich entsprechend verheiraten - nicht etwa mit Freigelassenen oder gar Sklavinnen. Unten stehen die Sklaven, aber auch die als unehrenhaft angesehenen Berufe, etwa Schauspieler. Heiratet ein Mädchen aus senatorischer Familie einen Schauspieler oder auch nur den Sohn einer solchen Familie, dann soll, sagen die Kaiser, die Ehe nicht wirksam sein.
Damit ist der Leser schon in den Materien der Bücher 23 bis 27, also im Recht der Verlöbnisse, der Eheschließung und der unendlichen Kasuistik des Heiratsguts. Die spätrömische Gesellschaft war keineswegs egalitär und individualistisch. Es galt vielmehr eine strenge Schichtung, und die Familie war weitaus wichtiger als der einzelne. Entsprechend viele Regeln brauchte sie, um unerwünschte Vermischungen zu verhüten. Nicht selten war es wohl, daß ein Herr eine Sklavin kaufte, sie freiließ, um sie dann zu heiraten oder wenigstens im Konkubinat mit ihr zu leben. Söhne, die noch unter der Macht des Vaters standen, verliebten sich in Sklavinnen und kämpften nun um die väterliche Zustimmung zur Heirat.
Verwirrend viele Eheverbote regulierten diese komplexe Welt. Da auch die Adoption viel häufiger vorkam als heute, überschnitten sich Familienzugehörigkeit und Blutsverwandtschaft. Und natürlich ging es auch ums Geld: Über die Mitgift erhielt der Ehemann Bargeld, Mietshäuser in der Stadt, Äcker und Olivenhaine auf dem Land, einschließlich der Sklavinnen und Sklaven, die dort arbeiteten. Bei Ehescheidung wurde auch die materielle Seite wieder entflochten. Geschenke, mit denen man sich in besseren Zeiten überschüttet hatte, wurden zurückverlangt. Wie stand es mit der Rückgabe von Heiratsgut, wenn es um Weinberge, Steinbrüche, Kalk- oder Sandgruben und deren weitere Nutzung ging? In das von der Frau eingebrachte Haus war eine Heizung oder ein Bad eingebaut, die Eingangshalle mit teurem Marmor belegt worden - durfte das bei der Rückgabe abgezogen werden? Einigte man sich nicht, mußte der amtliche Schätzer antreten.
Wie üblich bei Ehescheidungen kamen auch die unerfreulichen Seiten heraus. Man warf sich Diebstähle im Haus vor, ja man bestellte Diebstähle durch Banden, man stritt um die Anerkennung von Kindern und um die Unterhaltspflichten. Wieder mußte am Ende der Prätor entscheiden. Ganz heikel wurde es, wenn die Witwe behauptete, sie erwarte von ihrem jüngst verstorbenen Ehemann noch ein Kind, während die auf die Erbschaft erpichte Verwandtschaft meinte, sie täusche die Schwangerschaft nur vor oder der Verstorbene könne gar nicht der Vater gewesen sein. Da wurden verständige und ehrbare Hebammen eingesetzt, die Schwangere wurde beobachtet und durfte ihr Haus nicht verlassen. Zu groß war die Sorge, sie könne sich mit Hilfe eines untergeschobenen Kindes das Erbe sichern.
Eine heute nur noch schwer vorstellbare Rolle spielte das Institut der Vormundschaft, gewissermaßen als Ersatz für die alles beherrschende Gewalt des Hausvaters. Die Lebenserwartung war gering, zumal in Kriegszeiten, Schiffsreisende waren von Piraterie und Verkauf in die Sklaverei bedroht. So bestellte man Vormünder und Pfleger oder ließ sie bestellen, die Behörden wurden eingeschaltet. Dabei ging es um die Auswahl der richtigen Person, um deren Rechte und Pflichten bei der Erziehung und bei der Vermögensverwaltung.
Wer zahlte den Unterhalt des Kindes? Wie hatte der Pfleger das Geld anzulegen, wem mußte er Auskunft geben? Was hatten die Erben des Vormunds oder Pflegers mitzureden, wenn auch dieser starb? War es richtig, das Baugrundstück in der Nähe der Stadt zu verkaufen, wenn im Testament davon nichts gestanden hatte? Entpuppte sich ein Vermögenspfleger als Gauner, mußte ihm das Vermögen wieder entrissen werden.
Wer hierzulande in den Römisch-Germanischen Museen in Mainz und Köln anhand von Keramik, Ackergeräten, Schmuck, Waffen oder Grabsteinen einen Einblick in das römische Alltagsleben gewinnt, könnte diesen Alltag auch indirekt über die von den römischen Juristen traktierten Fälle und die daraus abgeleiteten Regeln rekonstruieren; denn Regeln sind Abbreviaturen von Praxis. Was oft vorkommt und oft in gleichem Sinne entschieden wird, erstarrt zur Regel, und es ist Juristenaufgabe, hiervon wieder die Ausnahmen zu ermitteln. Die Digesten sind zwar heute nicht mehr das juristische Hauptbuch Europas. Die europäische Rechtsvereinheitlichung, so sie denn voranschreitet, wird dieser Texte nicht mehr bedürfen, weil sie inhaltlich längst in die nationalen Gesetzbücher eingegangen sind. Aber die heute in Europa erreichte praktische Ebene der Verständigung und der sie tragende rechtskulturelle Grund sind nur entstanden, weil Juristen achthundert Jahre lang an diesen Texten die dogmatischen Grundfiguren und den charakteristischen Denkstil eingeübt haben. Insofern gehören die hier präsentierten Texte uns allen und gehen alle etwas an.
MICHAEL STOLLEIS
"Corpus Iuris Civilis". Auf der Grundlage der von Theodor Mommsen und Paul Krüger besorgten Textausgaben. Text und Übersetzung. Band IV: Digesten 21-27. Gemeinschaftlich übersetzt und herausgegeben von Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Hans Hermann Seiler, Okko Behrends. Mit Beiträgen von Karlheinz Misera, Ingo Reichard und Karl-Heinz Ziegler. C. F. Müller Verlag, Heidelberg 2005. XVII, 531 S., geb., 168,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Erfreut zeigt sich Rezensent Michael Stolleis über den nun vorliegenden Band mit dem Text und der Übersetzung der Digesten 21-27, die Teil des 533 erschienenen Corpus Iuris Civilis sind, einer im Auftrag von Kaiser Justitian I. zusammengestellten Sammlung Römischen Rechts. Stolleis würdigt die Bedeutung des Corpus Iuris Civilis für die moderne Rechtssprechung. Er lobt die hohe Qualität der gewissenhaften, zielsprachenorientierten und modernen Übersetzung. Er hebt hervor, dass die Lektüre der Digesten nicht nur für Juristen relevant ist, sondern auch für kultur- und sozialgeschichtlich interessierte Leser überaus aufschlussreich sein dürfte. Ausführlich berichtet er über die bunte Kasuistik, mit denen die Digesten 21-27 etwa das Kaufrecht oder das Eherecht illustrieren. Auch wenn die Digesten heute nicht mehr das juristische Hauptbuch Europas sind, ihre Bedeutung haben sie nach Ansicht Stolleis nicht verloren. Die heute in Europa erreichte praktische Ebene der Verständigung und der sie tragende rechtskulturelle Grund seien nämlich nur entstanden, so Rezensent, weil Juristen achthundert Jahre lang an diesen Texten die dogmatischen Grundfiguren und den charakteristischen Denkstil eingeübt haben. "Insofern gehören die hier präsentierten Texte uns allen und gehen alle etwas an."
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein Buch, das alle angeht: Die Digesten sind Europas Juristenbibel."
Michael Stolleis in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.11.2005
Michael Stolleis in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.11.2005