Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt. Das birgt immense Gefahren, so der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer. Die von ihm diskutierten Forschungsergebnisse sind alarmierend: Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab, und nachwachsende Zellen überleben nicht, weil sie nicht gebraucht werden. Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Die Folgen sind Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung und plädiert vor allem bei Kindern für Konsumbeschränkung, um der digitalen Demenz entgegenzuwirken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2012Mein Kopf gehört mir
Angeblich können uns die Hirnforscher beim Denken zuschauen. Angeblich wissen sie, was uns dumm und gewalttätig macht. Stimmt leider nicht, wie man an dem Bestseller von Manfred Spitzer sehen kann. Eine Zurückweisung
Wer wirklich noch nicht wusste, was längst so viele zu wissen glauben, der hatte in der vergangenen Woche reichlich Gelegenheit, die Gassenhauer der zeitgenössischen Medienkritik noch einmal auf allen Kanälen um die Ohren gehauen zu bekommen. "Wir klicken uns das Gehirn weg", lautet die Formel, auf die der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer die Klage bringt, die als gefühlter Beipackzettel längst jedem Killerspiel beiliegt: Computer machen dumm. Dick. Süchtig. Einsam. Gewalttätig. Und lauter andere gefährliche Dinge. Auf dreihundertfünfzig Seiten versammelt Spitzer in seinem neuen Buch noch einmal die beliebtesten Merksätze und Borniertheiten des Genres: Lesen lernt man nur durch Lesen. Multitasking funktioniert nicht. Echte Freunde sind besser. Googeln ist nicht denken.
"Digitale Demenz" ist ein unleserliches Buch, ein aus rostigen Studien, lahmen Alltagsweisheiten und gebrauchten Papers zusammengeschweißtes Konvolut, und wenn man ihm die Ferne zu seinem Gegenstand nicht auf jeder Seite ansehen würde, würde man ein Computerprogramm aus dem Internet für seinen Autor halten. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn man kein Wort mehr darüber verlöre. Dummheitsbücher haben Konjunktur, das wird sich so schnell nicht ändern. Doch leider ist Spitzers Beitrag nicht einfach der übliche Kulturpessimismus; es ist Kulturpessimismus im Gewand der Naturwissenschaft.
Spitzer verbreitet nicht seine Meinung, er doziert Gesetze. Sein Auftritt ist der eines Notarztes. Jeden Hinweis auf die Vielschichtigkeit seines Themas weist er mit der Dringlichkeit der Behandlung zurück. Seinen Leser begegnet er wie Patienten. "Was hab ich, und was kann ich tun?", schreibt er, das sei die Frage, die es zu beantworten gelte. Und unterschlägt, dass sich die Schmerzen erst aus seiner Diagnose ergeben: Es sind ja nicht die dummen Kinder, die in seine Sprechstunde kommen, sondern die Eltern, die die virulente Sorge um deren geistige Verfassung krank macht.
Spitzers Buch, das sich innerhalb weniger Tage an die Spitze der Bestsellerliste schob, ist nur das neueste Beispiel für den Aufstieg der Hirnforschung zur zuständigen Instanz für die Beantwortung gesellschaftlicher Fragen. Das Versprechen, das sie gibt, ist nicht nur jenes von der "Lesbarkeit des Menschen", wie Andreas Bernard kürzlich im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" schrieb, sondern, wie man an Spitzers Selbstverständnis erkennen kann, auch das der Behandelbarkeit aller sozialen Pathologien. Als medizinische Disziplin bietet sie nicht nur Diagnosen, sondern auch Therapien. Bei Doktor Spitzer etwa reicht eine konsequente Mediendiät, um sich vor den Gefahren der grassierenden Computerpest zu schützen. So ein Ansatz klingt natürlich insofern beruhigend, als sich gesellschaftliche Mängel einfach auf der individuellen Ebene beheben lassen. So verhilft paradoxerweise ausgerechnet jene Wissenschaft, deren biologistischer Determinismus den freien Willen so gerne in Frage stellt, dem angeschlagenen Subjekt zum Comeback. Im Hirn jedes Einzelnen liegt die Software, die über sein Schicksal entscheidet: Glück, Erfolg, Intelligenz, soziale Kompetenz oder Gesundheit - all das ist letztlich nur Effekt eines sorgsamen Trainings der grauen Zellen.
Ihre Autorität gewinnen die Erkenntnisse der Hirnforschung vor allem aus den bunten Bildern der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). Weil sich dieser Blick ins Innere des Kopfes auch bei lebenden Menschen relativ unkompliziert vornehmen lässt, kann man so einem Hirn auch dabei zusehen, wenn es tut, was es eben tut: Sauerstoff verbrauchen, Glucose verbrennen, Botenstoffe ausschütten, Synapsen bilden.
Was dabei allerdings genau passiert, das fangen die Forscher gerade erst an zu begreifen: Wie Wahrnehmungen verarbeitet werden und Informationen übermittelt, wie Emotionen aus Biochemie entstehen und aus neuronaler Aktivität Gedanken, wie Bewusstsein in Zellen gespeichert wird und Erfahrung in Enzymen; und wie - und ob - all jene Dinge, die wir noch nicht einmal begrifflich eindeutig bestimmen können oder wollen, auf anatomische Ursachen zurückgeführt werden können. Es ist ein langer Weg, von den physiologischen Prozessen in unseren Zellen zu jenen Bildern, die das Verfahren des Neuroimaging zeichnet, wenn es die Abweichungen der Sauerstoffversorgung als buntes Leuchten in schemenhaften Schädeln darstellt. Und noch viel weiter ist er zu jenen sprachlichen Bildern, in die die Ergebnisse solcher Untersuchungen so gerne übersetzt werden. Aber Neuronen sprechen nicht unsere Sprache. Das Gehirn hat nicht die Eigenschaften, die Neurowissenschaftler ihm metaphorisch zuschreiben: Es wägt nicht ab, es fällt keine Entscheidungen, es glaubt nichts, weiß nichts, will nichts. Es denkt nicht einmal. Wir tun es mit ihm.
Mehr als unter ihren methodischen und konzeptionellen Problemen, den mickrigen Testgruppen etwa oder der notorischen Verwechslung von Korrelation und Kausalität, leidet die Hirnforschung unter einer chronischen Begriffsverwirrung. In ihrem Standardwerk "Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften" haben der Neurowissenschaftler Maxwell Bennett und der Philosoph Peter Hacker auf einen bei der Beschreibung neurowissenschaftlicher Zusammenhänge sehr verbreiteten Fehler hingewiesen: Immer wieder würden dem Gehirn psychologische Eigenschaften zugeschrieben. Dass es sich aber um eine metaphorische Verwendung der Begriffe handelt, wenn man davon spricht, dass das Hirn etwas glaubt, fühlt oder denkt, machen viele Hirnforscher entweder nicht deutlich; oder es ist ihnen selbst gar nicht bewusst. Daher sind die Ergebnisse ihrer empirischen Studien oft weder richtig noch falsch - sie haben einfach keinen Sinn. Wer etwa glaubt, Intelligenz sei eine Eigenschaft des Gehirns (und nicht das, was sein Besitzer aus seinen neuronalen Möglichkeiten macht), wird ewig nach dem Ort suchen, an dem sie im Hirn zu Hause ist. "Es ist nicht möglich", schreiben Maxwell und Hacker, "experimentelle Untersuchungen darüber anzustellen, ob das Gehirn denkt oder nicht denkt, ob es glaubt, mutmaßt oder folgert, Hypothesen aufstellt und s0 weiter, ehe man weiß, was es heißt, dass ein Gehirn dergleichen tut, das heißt, ehe wir uns über die Bedeutung dieser Ausdrücke klargeworden sind und wissen, was gegebenenfalls als die entsprechende Tätigkeit des Gehirns gilt."
Dass Krawallwissenschaftler wie Spitzer solche Einwände als Spitzfindigkeiten zurückweisen, gehört gewissermaßen zu ihrem Geschäftmodell. Dabei kommen die zentralen Einwände gegen den Wahn, alles erklären zu können, von Hirnforschern selbst. Der Züricher Neuropsychologe Lutz Jähnke etwa hält den Erklärungsdrang vieler seiner Kollegen für eine "problematische Grenzüberschreitung". Und wer an wissenschaftliche Beweise glaubt, sollte sich einmal die Studie durchlesen, in der ein Team von Psychologen aus Yale vor ein paar Jahren ermittelte, dass selbst absolut unlogische Aussagen Glaubwürdigkeit genießen, wenn dabeisteht, dass Ergebnisse aus dem Hirnscanner ihre Richtigkeit unterstreichen.
So ähnlich funktioniert auch der Bluff in Spitzers Buch. Die Pose des Hirnforschers reicht aus, um seinen Gemeinplätzen das Gewicht wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verleihen. Die von ihm herangezogenen Studien belegen alles mögliche - dass man durchs Tippen auf der Tastatur nicht Schreiben lernt etwa oder dass Zuschauer nach dem Besuch des Horrorfilms "The Ruins" eine vermeintlich hilflose Frau vor dem Kino ignorieren - nur nicht seine These. Die Mühe, Gegenargumente zu entkräften, spart er sich systematisch. Der Refrain von der Seriosität dieser Studien ersetzt jede präzise Erörterung, mit Hirnforschung haben die meisten sowieso nichts zu tun.
Oft reicht ihm auch die verlässlichste Methode: die Beschwörung des allgemeinen Menschenverstands. Einmal, schreibt er, war er in einer Talkshow zum Thema "Gewalt in den Medien" zu Gast, in der auch Ausschnitte aus einem Videospiel gezeigt wurden ("das sinnlose Abmurksen von irgendwelchen Gegnern"). "Nach diesen Einspielern", erinnert er sich, "saßen alle Teilnehmer erschrocken, sprachlos und betroffen da." Nur zwei ebenfalls eingeladene "erfahrene" Spieler "fanden das alles ganz normal". Für Spitzer geht das als Beweis für ihre Abstumpfung durch - nicht nur, was Computerspiele betrifft, sondern auch in Bezug auf echte Gewalt. Was er selbst abends macht, nachdem er den ganzen Tag die Bilder von gespaltenen Schädeln gesehen hat, möchte man da lieber nicht wissen.
Peinliche Argumentationen wie diese sind vor allem deshalb bedauerlich, weil es, was die Wirkung von Computern betrifft, tatsächlich ein paar Fragen gibt, welche die Hirnforschung helfen könnte, zu beantworten. Gegen den Verdacht etwa, dass exzessives Videospielen tatsächlich eine wahrnehmbare physiologische Wirkung hat, können sich selbst entspanntere Nutzer kaum wehren. Nur wäre eben interessant, zu wissen, welche Effekte dabei genau auftreten. Was ist es, das die Spieler aggressiv macht? Der Stress? Der Sound? Oder sind es wirklich die Bilder der Gewalt? Und wenn es die Bilder sind: Wie übersetzt das Gehirn ästhetische Codes in elektrische Impulse?
Wenn produktives Lernen das Gehirn wachsen lässt, wie werden dann die vielgestaltigen Reize eines Videospiels verarbeitet? Zerstören sie tatsächlich, wie Spitzers Metapher vom "Kaputtklicken" nahelegt, wehrlose Gehirnzellen? Schießen gewissermaßen virtuelle Waffen unsere Neuronen tot? Oder lassen sich auch jene Effekte beobachten, die der Autor Steven Johnson beschrieben hat, der von Spitzer ungelesen als "amerikanischer Journalist" disqualifiziert wird. Dass nämlich der Entscheidungszwang, dem Spieler ununterbrochen ausgesetzt sind, eine Reihe von kognitiven Fähigkeiten trainiert, die man durchaus unter dem Begriff "Intelligenz" einordnen könnte.
Solange Hirnforscher die falschen Fragen stellen, solange kann man diese Antworten kaum erwarten. Bis es so weit ist, kann jeder aus gefälligen Einzelstudien sein eigenes Weltbild zusammensetzen, im Notfall mit Papier und Schere. Spitzers wissenschaftliche Ambitionen aber sind so gering, dass er sich über seine Methoden keine allzu großen Gedanken macht. Es ist ihm nicht einmal zu blöd, im Zweifelsfall auf die Werkzeuge des Satans zurückzugreifen. Seinen Kritikern, die zweifeln, dass es so etwas wie "digitale Demenz" überhaupt gibt, empfiehlt er in seinem Buch, den Begriff doch einfach einmal zu googeln. Auf Deutsch erhalte man etwa 8000 Einträge. Das war vor der Veröffentlichung. Heute sind es 1 040 000. Sein Buch muss sehr viele Menschen krank gemacht haben.
HARALD STAUN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Angeblich können uns die Hirnforscher beim Denken zuschauen. Angeblich wissen sie, was uns dumm und gewalttätig macht. Stimmt leider nicht, wie man an dem Bestseller von Manfred Spitzer sehen kann. Eine Zurückweisung
Wer wirklich noch nicht wusste, was längst so viele zu wissen glauben, der hatte in der vergangenen Woche reichlich Gelegenheit, die Gassenhauer der zeitgenössischen Medienkritik noch einmal auf allen Kanälen um die Ohren gehauen zu bekommen. "Wir klicken uns das Gehirn weg", lautet die Formel, auf die der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer die Klage bringt, die als gefühlter Beipackzettel längst jedem Killerspiel beiliegt: Computer machen dumm. Dick. Süchtig. Einsam. Gewalttätig. Und lauter andere gefährliche Dinge. Auf dreihundertfünfzig Seiten versammelt Spitzer in seinem neuen Buch noch einmal die beliebtesten Merksätze und Borniertheiten des Genres: Lesen lernt man nur durch Lesen. Multitasking funktioniert nicht. Echte Freunde sind besser. Googeln ist nicht denken.
"Digitale Demenz" ist ein unleserliches Buch, ein aus rostigen Studien, lahmen Alltagsweisheiten und gebrauchten Papers zusammengeschweißtes Konvolut, und wenn man ihm die Ferne zu seinem Gegenstand nicht auf jeder Seite ansehen würde, würde man ein Computerprogramm aus dem Internet für seinen Autor halten. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn man kein Wort mehr darüber verlöre. Dummheitsbücher haben Konjunktur, das wird sich so schnell nicht ändern. Doch leider ist Spitzers Beitrag nicht einfach der übliche Kulturpessimismus; es ist Kulturpessimismus im Gewand der Naturwissenschaft.
Spitzer verbreitet nicht seine Meinung, er doziert Gesetze. Sein Auftritt ist der eines Notarztes. Jeden Hinweis auf die Vielschichtigkeit seines Themas weist er mit der Dringlichkeit der Behandlung zurück. Seinen Leser begegnet er wie Patienten. "Was hab ich, und was kann ich tun?", schreibt er, das sei die Frage, die es zu beantworten gelte. Und unterschlägt, dass sich die Schmerzen erst aus seiner Diagnose ergeben: Es sind ja nicht die dummen Kinder, die in seine Sprechstunde kommen, sondern die Eltern, die die virulente Sorge um deren geistige Verfassung krank macht.
Spitzers Buch, das sich innerhalb weniger Tage an die Spitze der Bestsellerliste schob, ist nur das neueste Beispiel für den Aufstieg der Hirnforschung zur zuständigen Instanz für die Beantwortung gesellschaftlicher Fragen. Das Versprechen, das sie gibt, ist nicht nur jenes von der "Lesbarkeit des Menschen", wie Andreas Bernard kürzlich im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" schrieb, sondern, wie man an Spitzers Selbstverständnis erkennen kann, auch das der Behandelbarkeit aller sozialen Pathologien. Als medizinische Disziplin bietet sie nicht nur Diagnosen, sondern auch Therapien. Bei Doktor Spitzer etwa reicht eine konsequente Mediendiät, um sich vor den Gefahren der grassierenden Computerpest zu schützen. So ein Ansatz klingt natürlich insofern beruhigend, als sich gesellschaftliche Mängel einfach auf der individuellen Ebene beheben lassen. So verhilft paradoxerweise ausgerechnet jene Wissenschaft, deren biologistischer Determinismus den freien Willen so gerne in Frage stellt, dem angeschlagenen Subjekt zum Comeback. Im Hirn jedes Einzelnen liegt die Software, die über sein Schicksal entscheidet: Glück, Erfolg, Intelligenz, soziale Kompetenz oder Gesundheit - all das ist letztlich nur Effekt eines sorgsamen Trainings der grauen Zellen.
Ihre Autorität gewinnen die Erkenntnisse der Hirnforschung vor allem aus den bunten Bildern der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). Weil sich dieser Blick ins Innere des Kopfes auch bei lebenden Menschen relativ unkompliziert vornehmen lässt, kann man so einem Hirn auch dabei zusehen, wenn es tut, was es eben tut: Sauerstoff verbrauchen, Glucose verbrennen, Botenstoffe ausschütten, Synapsen bilden.
Was dabei allerdings genau passiert, das fangen die Forscher gerade erst an zu begreifen: Wie Wahrnehmungen verarbeitet werden und Informationen übermittelt, wie Emotionen aus Biochemie entstehen und aus neuronaler Aktivität Gedanken, wie Bewusstsein in Zellen gespeichert wird und Erfahrung in Enzymen; und wie - und ob - all jene Dinge, die wir noch nicht einmal begrifflich eindeutig bestimmen können oder wollen, auf anatomische Ursachen zurückgeführt werden können. Es ist ein langer Weg, von den physiologischen Prozessen in unseren Zellen zu jenen Bildern, die das Verfahren des Neuroimaging zeichnet, wenn es die Abweichungen der Sauerstoffversorgung als buntes Leuchten in schemenhaften Schädeln darstellt. Und noch viel weiter ist er zu jenen sprachlichen Bildern, in die die Ergebnisse solcher Untersuchungen so gerne übersetzt werden. Aber Neuronen sprechen nicht unsere Sprache. Das Gehirn hat nicht die Eigenschaften, die Neurowissenschaftler ihm metaphorisch zuschreiben: Es wägt nicht ab, es fällt keine Entscheidungen, es glaubt nichts, weiß nichts, will nichts. Es denkt nicht einmal. Wir tun es mit ihm.
Mehr als unter ihren methodischen und konzeptionellen Problemen, den mickrigen Testgruppen etwa oder der notorischen Verwechslung von Korrelation und Kausalität, leidet die Hirnforschung unter einer chronischen Begriffsverwirrung. In ihrem Standardwerk "Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften" haben der Neurowissenschaftler Maxwell Bennett und der Philosoph Peter Hacker auf einen bei der Beschreibung neurowissenschaftlicher Zusammenhänge sehr verbreiteten Fehler hingewiesen: Immer wieder würden dem Gehirn psychologische Eigenschaften zugeschrieben. Dass es sich aber um eine metaphorische Verwendung der Begriffe handelt, wenn man davon spricht, dass das Hirn etwas glaubt, fühlt oder denkt, machen viele Hirnforscher entweder nicht deutlich; oder es ist ihnen selbst gar nicht bewusst. Daher sind die Ergebnisse ihrer empirischen Studien oft weder richtig noch falsch - sie haben einfach keinen Sinn. Wer etwa glaubt, Intelligenz sei eine Eigenschaft des Gehirns (und nicht das, was sein Besitzer aus seinen neuronalen Möglichkeiten macht), wird ewig nach dem Ort suchen, an dem sie im Hirn zu Hause ist. "Es ist nicht möglich", schreiben Maxwell und Hacker, "experimentelle Untersuchungen darüber anzustellen, ob das Gehirn denkt oder nicht denkt, ob es glaubt, mutmaßt oder folgert, Hypothesen aufstellt und s0 weiter, ehe man weiß, was es heißt, dass ein Gehirn dergleichen tut, das heißt, ehe wir uns über die Bedeutung dieser Ausdrücke klargeworden sind und wissen, was gegebenenfalls als die entsprechende Tätigkeit des Gehirns gilt."
Dass Krawallwissenschaftler wie Spitzer solche Einwände als Spitzfindigkeiten zurückweisen, gehört gewissermaßen zu ihrem Geschäftmodell. Dabei kommen die zentralen Einwände gegen den Wahn, alles erklären zu können, von Hirnforschern selbst. Der Züricher Neuropsychologe Lutz Jähnke etwa hält den Erklärungsdrang vieler seiner Kollegen für eine "problematische Grenzüberschreitung". Und wer an wissenschaftliche Beweise glaubt, sollte sich einmal die Studie durchlesen, in der ein Team von Psychologen aus Yale vor ein paar Jahren ermittelte, dass selbst absolut unlogische Aussagen Glaubwürdigkeit genießen, wenn dabeisteht, dass Ergebnisse aus dem Hirnscanner ihre Richtigkeit unterstreichen.
So ähnlich funktioniert auch der Bluff in Spitzers Buch. Die Pose des Hirnforschers reicht aus, um seinen Gemeinplätzen das Gewicht wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verleihen. Die von ihm herangezogenen Studien belegen alles mögliche - dass man durchs Tippen auf der Tastatur nicht Schreiben lernt etwa oder dass Zuschauer nach dem Besuch des Horrorfilms "The Ruins" eine vermeintlich hilflose Frau vor dem Kino ignorieren - nur nicht seine These. Die Mühe, Gegenargumente zu entkräften, spart er sich systematisch. Der Refrain von der Seriosität dieser Studien ersetzt jede präzise Erörterung, mit Hirnforschung haben die meisten sowieso nichts zu tun.
Oft reicht ihm auch die verlässlichste Methode: die Beschwörung des allgemeinen Menschenverstands. Einmal, schreibt er, war er in einer Talkshow zum Thema "Gewalt in den Medien" zu Gast, in der auch Ausschnitte aus einem Videospiel gezeigt wurden ("das sinnlose Abmurksen von irgendwelchen Gegnern"). "Nach diesen Einspielern", erinnert er sich, "saßen alle Teilnehmer erschrocken, sprachlos und betroffen da." Nur zwei ebenfalls eingeladene "erfahrene" Spieler "fanden das alles ganz normal". Für Spitzer geht das als Beweis für ihre Abstumpfung durch - nicht nur, was Computerspiele betrifft, sondern auch in Bezug auf echte Gewalt. Was er selbst abends macht, nachdem er den ganzen Tag die Bilder von gespaltenen Schädeln gesehen hat, möchte man da lieber nicht wissen.
Peinliche Argumentationen wie diese sind vor allem deshalb bedauerlich, weil es, was die Wirkung von Computern betrifft, tatsächlich ein paar Fragen gibt, welche die Hirnforschung helfen könnte, zu beantworten. Gegen den Verdacht etwa, dass exzessives Videospielen tatsächlich eine wahrnehmbare physiologische Wirkung hat, können sich selbst entspanntere Nutzer kaum wehren. Nur wäre eben interessant, zu wissen, welche Effekte dabei genau auftreten. Was ist es, das die Spieler aggressiv macht? Der Stress? Der Sound? Oder sind es wirklich die Bilder der Gewalt? Und wenn es die Bilder sind: Wie übersetzt das Gehirn ästhetische Codes in elektrische Impulse?
Wenn produktives Lernen das Gehirn wachsen lässt, wie werden dann die vielgestaltigen Reize eines Videospiels verarbeitet? Zerstören sie tatsächlich, wie Spitzers Metapher vom "Kaputtklicken" nahelegt, wehrlose Gehirnzellen? Schießen gewissermaßen virtuelle Waffen unsere Neuronen tot? Oder lassen sich auch jene Effekte beobachten, die der Autor Steven Johnson beschrieben hat, der von Spitzer ungelesen als "amerikanischer Journalist" disqualifiziert wird. Dass nämlich der Entscheidungszwang, dem Spieler ununterbrochen ausgesetzt sind, eine Reihe von kognitiven Fähigkeiten trainiert, die man durchaus unter dem Begriff "Intelligenz" einordnen könnte.
Solange Hirnforscher die falschen Fragen stellen, solange kann man diese Antworten kaum erwarten. Bis es so weit ist, kann jeder aus gefälligen Einzelstudien sein eigenes Weltbild zusammensetzen, im Notfall mit Papier und Schere. Spitzers wissenschaftliche Ambitionen aber sind so gering, dass er sich über seine Methoden keine allzu großen Gedanken macht. Es ist ihm nicht einmal zu blöd, im Zweifelsfall auf die Werkzeuge des Satans zurückzugreifen. Seinen Kritikern, die zweifeln, dass es so etwas wie "digitale Demenz" überhaupt gibt, empfiehlt er in seinem Buch, den Begriff doch einfach einmal zu googeln. Auf Deutsch erhalte man etwa 8000 Einträge. Das war vor der Veröffentlichung. Heute sind es 1 040 000. Sein Buch muss sehr viele Menschen krank gemacht haben.
HARALD STAUN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Verblöden mit Google. Wie das geht, erklärt der Psychologe und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer in diesem kontrovers diskutierten Sachbuchbestseller anhand vieler Beispiele. Der Kontroverse will Michael Hanfeld sich gerne anschließen, erscheint ihm Spitzers Feldzug gegen Computer, Internet und Co. doch reichlich überzogen. Die Beziehungen etwa, die der Autor herstellt zwischen Computereinsatz an Schulen, Verdummung, Ego-Shootern und Gewalt möchte Hanfeld so nicht anerkennen. Eindeutige Beweisführungen findet er bei Spitzer eher nicht, allzu wohlfeil kommt ihm die pauschale Verurteilung digitaler Medien daher. Wenn Spitzer gar schrill medienstürmerisch und auch noch selbstmitleidig wird, klappt Hanfeld das Buch entnervt zu.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Der renommierte Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer tritt seit jahren mit Blick auf den Computer als Mahner und Warner auf." -- SWR 2, 03.08.2012
"Zu viel Fernsehen, Surfen im Internet und Spielen am Computer oder an der Playstation macht unsere Kinder fett, aggressiv und blöd - so lautet die steile These des renommierten Hirnforschers und Neurobiologen Manfred Spitzer." -- WDR Westart, 31.07.2012
"Zu viel Fernsehen, Surfen im Internet und Spielen am Computer oder an der Playstation macht unsere Kinder fett, aggressiv und blöd - so lautet die steile These des renommierten Hirnforschers und Neurobiologen Manfred Spitzer." -- WDR Westart, 31.07.2012
"Klar, der Mann ist vom Fach! Für Eltern, die ihre Kinder ohnehin vernünftig erziehen - also unter weitestgehenden Umschiffung digitaler Ablenkmedien -, bietet das Buch vor allem eine Bestätigung und eine fundierte Argumentationsgrundlage. Die konkreten Tips zum adäquaten Hirntraining, die Spitzer bietet, mögen banal erscheinen, sind aber goldrichtig." Sezession 20121201