Demokratie steht unter Druck. Nicht nur populistische und autoritäre Bewegungen tragen dazu bei, sondern auch Digitalisierung, Internet und soziale Medien. Dieser Band präsentiert Antworten auf Fragen, die uns alle bewegen: Wie soll man den Herausforderungen, die durch Hass und Deepfakes, durch Polarisierung und Plattform-Giganten entstehen, begegnen? Die Autorinnen und Autoren kommen aus ganz unterschiedlichen Fächern, von der Technikfolgenabschätzung und Wissenschaftsforschung bis hin zu Philosophie, Politik- und Rechtswissenschaft. Diese interdisziplinäre Perspektive macht eine Besonderheit dieses Bandes aus.Mit Beiträgen vonSusanne Benöhr-Laqueur, Franziska Bereuter, Alexander Bogner, Stefan Böschen, Kerstin Cuhls, Michael Decker, Gerhard Embacher-Köhle, Gerda Falkner, Philipp Frey, Florian Hoffmann, Philip N. Howard, Brigitte Huber, Wilfried Jäger, Christoph Konrath, Jaro Krieger-Lamina, Moritz Leuenberger, Marc Mölders, Michael Nentwich, Julian Nida-Rümelin, Alexander Orlowski, Maria Pawelec, Florian Saurwein, Constanze Scherz, Christoph Schneider, Ingrid Schneider, Jan-Felix Schrape, Ulrich Smeddinck, Charlotte Spencer-Smith, Stefan Strauß, Dana Wasserbacher, Matthias Weber und Tamara Wilde.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Anna-Lena Niemann lernt aus dem von Alexander Bogner, Michael Decker, Michael Nentwich und Constanze Scherz herausgegebenen Band, dass es einer differenzierten, interdisziplinären Technikfolgenabschätzung bedarf, um festzustellen, inwiefern die digitale Technik den demokratischen Prozess beeinflusst. Der akademische Ton der Beiträge im Band macht Niemann zu schaffen, aber sie erfährt dennoch, was praktisch aus der Anwendung digitaler Technik im politischen Betrieb folgt. So erinnern sie Texte von Alexander Bogner und Stefan Strauß daran, dass ohne die Vermittlerinstanzen der Parlamente und Parteien viel Emotion und Pathos, aber wenig Inhalte kommuniziert werden (siehe Trump). Dem ein oder anderen Beitrag im Band hätte eine weniger pauschalisierende Kritik allerdings gut getan, findet Niemann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2022Zwischen Kult und Konsens
Es trollt und hakt: Was die Digitalisierung für die Demokratie bedeuten kann
Die Schweizer haben es gefunden, die Deutschen debattieren noch. Bis 2031 will sich das Land Zeit lassen, um ein Endlager für Atommüll zu finden. Als man in die Kernenergie einstieg, war das eine Ansage von oben. Die Überreste dieser Entscheidung zu verwalten darf jetzt alle angehen, eine Art "nachholender Demokratisierung", wie der Rechtswissenschaftler Ulrich Smeddinck schreibt. Die Öffentlichkeit muss also beteiligt werden, so sieht es das Standortauswahlverfahren vor. Bürger dürfen mitreden und sich in Regionalkonferenzen einbringen. Digitale Sitzungen und Onlineplattformen sollen es richten. Nur macht Smeddinck darin ein Problem aus: Digitale Mittel lösen die Konflikte um die Endlagersuche gerade nicht. Im Gegenteil, das Verfahren sei geradezu ein "Antidot zur Digitalisierung".
Er leitet das aus der beobachteten Praxis her: komplizierte Konferenztools, wackelige Server, Moderatoren, die Diskussionen kapern, müde Teilnehmer vor den Bildschirmen, wenige, die sich tatsächlich an Abstimmungen beteiligen. So klappt Konsens nicht, Vertrauen schon gar nicht. Die große Hoffnung, die Digitalisierung könne die Demokratie "revitalisieren" (Julian Nida-Rümelin) und Politik damit besser legitimieren, schrumpft zusammen. Und so blickt nicht nur Smeddinck in dem vorliegenden Sammelband skeptisch auf Zukunftsversprechen dieser Art.
Unter dem Titel "Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie" haben die vier Herausgeber - Alexander Bogner, Michael Decker, Michael Nentwich und Constanze Scherz - Beiträge aus dem akademischen Feld der Technikfolgenabschätzung zusammengetragen. Akademisch ist meist auch der Ton, beim Gros der Texte handelt es sich um theoretische Abhandlungen, die sich vor allem an die eigene Wissenschaftscommunity richten. Was allerdings praktisch daraus folgt, sobald digitale Technik in den politischen Betrieb einfällt, erläutern Christoph Konrad und Franziska Bereuter: Europas Parlamente mussten in der Pandemie oft unvorbereitet auf digitale Hilfsmittel umstellen. Wie aber können Parlamentarier über Gesetze abstimmen, ohne im selben Raum zu sitzen? Was passiert, wenn sie mit den neuen Werkzeugen allein zu Hause sind und es in der entscheidenden Minute hakt?
Wenn Konrad und Bereuter anmerken, es sei nicht wünschenswert, Journalisten vor Livestreams zu setzen und damit die schnittbildfreie Debatte im Plenarsaal zu ersetzen, knüpft das indirekt an einen Aufsatz zum "digitalen Pathos" an. Alexander Bogner und Stefan Strauß verweisen darin auf Algorithmen sozialer Netzwerke, die intransparent den öffentlichen Diskurs prägen, belassen es aber nicht bei dieser Binse. Sie argumentieren, das Problem digitaler Medien liege vor allem darin, dass zu viele Vermittler umgangen werden. Das Politische wandele sich schon lange hin zu einem "Kult des Authentischen". Jetzt kommen die digitalen Medien und bieten die passende Technik dazu. Was passieren kann, hat der twitternde Donald Trump zur Genüge gezeigt. Parteien, Parlamente, Medien - alle funktionieren wie Bremsschwellen zwischen "unmittelbarem Wollen, zwischen eruptiver Bewegung und politischer Entscheidung", damit Entscheidungen am Ende vernünftig sind und die eigene Position als relativ wahrgenommen wird. Ohne die Vermittler mache sich Pathos breit. Viel Emotion, wenig Inhalt.
Das geht über die inzwischen gut einstudierte, aber oft nicht mehr gründlich hergeleitete Kritik an den amerikanischen Plattformgiganten hinaus. Besonders verdient machen sich daher die Beiträge, die differenzieren, anstatt sich darauf zu verlassen, dass Trollfabriken und Hasspostings nur zu erwähnen schon emotionale Abwehr erzeugt. Maria Pawelec etwa sieht in Deepfakes sogar eine Chance für die Demokratie, und Brigitte Huber argumentiert, dass soziale Medien Jugendliche überhaupt erst politisierten.
Das bringt Schattierungen in die Debatte, die dem Beitrag von Ingrid Schneider zuweilen fehlen. Etwa wenn sie, die sich eigentlich dem Datenschutz in Mexiko widmet, sogleich von der "Wildwest-Manier" amerikanischer Plattformen spricht und ihnen das chinesische Modell gegenüberstellt. Sie suggeriert, China reguliere seine Plattformriesen, Alibaba und Tencent, um den Datenschutz gegenüber der Privatwirtschaft zu stärken. Dabei zügelt China seine Konzerne, um sich das Monopol über die datengetriebene Überwachung seiner Bürger zu sichern. Mit Datenschutz nach europäischem Vorbild hat das, selbst "zumindest in Teilen", wie Schneider zu relativieren versucht, nichts zu tun.
Wie eine Technologie in das Leben ihrer Nutzer und Verweigerer einfällt, können Ingenieure oder Informatiker nicht allein bewerten. Die Technikfolgenabschätzung muss deshalb unterschiedliche Disziplinen zusammenbringen. Das macht die ausgewählten Beiträge des Bandes interessant, führt zuweilen aber in buntes Allerlei. Dass sich unter die titelgebenden Begriffe "Digitalisierung" und "Demokratie" zudem zahllose Forschungsfragen subsumieren lassen, hilft nicht. Thematisch zuzuspitzen hätte dem Band nicht geschadet und wäre dem interdisziplinären Charakter der Technikfolgenabschätzung wohl nicht zuwidergelaufen. ANNA-LENA NIEMANN
Alexander Bogner/ Michael Decker/ Michael Nentwich/ Constanze Scherz (Hrsg.): Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. 288 S., 29,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es trollt und hakt: Was die Digitalisierung für die Demokratie bedeuten kann
Die Schweizer haben es gefunden, die Deutschen debattieren noch. Bis 2031 will sich das Land Zeit lassen, um ein Endlager für Atommüll zu finden. Als man in die Kernenergie einstieg, war das eine Ansage von oben. Die Überreste dieser Entscheidung zu verwalten darf jetzt alle angehen, eine Art "nachholender Demokratisierung", wie der Rechtswissenschaftler Ulrich Smeddinck schreibt. Die Öffentlichkeit muss also beteiligt werden, so sieht es das Standortauswahlverfahren vor. Bürger dürfen mitreden und sich in Regionalkonferenzen einbringen. Digitale Sitzungen und Onlineplattformen sollen es richten. Nur macht Smeddinck darin ein Problem aus: Digitale Mittel lösen die Konflikte um die Endlagersuche gerade nicht. Im Gegenteil, das Verfahren sei geradezu ein "Antidot zur Digitalisierung".
Er leitet das aus der beobachteten Praxis her: komplizierte Konferenztools, wackelige Server, Moderatoren, die Diskussionen kapern, müde Teilnehmer vor den Bildschirmen, wenige, die sich tatsächlich an Abstimmungen beteiligen. So klappt Konsens nicht, Vertrauen schon gar nicht. Die große Hoffnung, die Digitalisierung könne die Demokratie "revitalisieren" (Julian Nida-Rümelin) und Politik damit besser legitimieren, schrumpft zusammen. Und so blickt nicht nur Smeddinck in dem vorliegenden Sammelband skeptisch auf Zukunftsversprechen dieser Art.
Unter dem Titel "Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie" haben die vier Herausgeber - Alexander Bogner, Michael Decker, Michael Nentwich und Constanze Scherz - Beiträge aus dem akademischen Feld der Technikfolgenabschätzung zusammengetragen. Akademisch ist meist auch der Ton, beim Gros der Texte handelt es sich um theoretische Abhandlungen, die sich vor allem an die eigene Wissenschaftscommunity richten. Was allerdings praktisch daraus folgt, sobald digitale Technik in den politischen Betrieb einfällt, erläutern Christoph Konrad und Franziska Bereuter: Europas Parlamente mussten in der Pandemie oft unvorbereitet auf digitale Hilfsmittel umstellen. Wie aber können Parlamentarier über Gesetze abstimmen, ohne im selben Raum zu sitzen? Was passiert, wenn sie mit den neuen Werkzeugen allein zu Hause sind und es in der entscheidenden Minute hakt?
Wenn Konrad und Bereuter anmerken, es sei nicht wünschenswert, Journalisten vor Livestreams zu setzen und damit die schnittbildfreie Debatte im Plenarsaal zu ersetzen, knüpft das indirekt an einen Aufsatz zum "digitalen Pathos" an. Alexander Bogner und Stefan Strauß verweisen darin auf Algorithmen sozialer Netzwerke, die intransparent den öffentlichen Diskurs prägen, belassen es aber nicht bei dieser Binse. Sie argumentieren, das Problem digitaler Medien liege vor allem darin, dass zu viele Vermittler umgangen werden. Das Politische wandele sich schon lange hin zu einem "Kult des Authentischen". Jetzt kommen die digitalen Medien und bieten die passende Technik dazu. Was passieren kann, hat der twitternde Donald Trump zur Genüge gezeigt. Parteien, Parlamente, Medien - alle funktionieren wie Bremsschwellen zwischen "unmittelbarem Wollen, zwischen eruptiver Bewegung und politischer Entscheidung", damit Entscheidungen am Ende vernünftig sind und die eigene Position als relativ wahrgenommen wird. Ohne die Vermittler mache sich Pathos breit. Viel Emotion, wenig Inhalt.
Das geht über die inzwischen gut einstudierte, aber oft nicht mehr gründlich hergeleitete Kritik an den amerikanischen Plattformgiganten hinaus. Besonders verdient machen sich daher die Beiträge, die differenzieren, anstatt sich darauf zu verlassen, dass Trollfabriken und Hasspostings nur zu erwähnen schon emotionale Abwehr erzeugt. Maria Pawelec etwa sieht in Deepfakes sogar eine Chance für die Demokratie, und Brigitte Huber argumentiert, dass soziale Medien Jugendliche überhaupt erst politisierten.
Das bringt Schattierungen in die Debatte, die dem Beitrag von Ingrid Schneider zuweilen fehlen. Etwa wenn sie, die sich eigentlich dem Datenschutz in Mexiko widmet, sogleich von der "Wildwest-Manier" amerikanischer Plattformen spricht und ihnen das chinesische Modell gegenüberstellt. Sie suggeriert, China reguliere seine Plattformriesen, Alibaba und Tencent, um den Datenschutz gegenüber der Privatwirtschaft zu stärken. Dabei zügelt China seine Konzerne, um sich das Monopol über die datengetriebene Überwachung seiner Bürger zu sichern. Mit Datenschutz nach europäischem Vorbild hat das, selbst "zumindest in Teilen", wie Schneider zu relativieren versucht, nichts zu tun.
Wie eine Technologie in das Leben ihrer Nutzer und Verweigerer einfällt, können Ingenieure oder Informatiker nicht allein bewerten. Die Technikfolgenabschätzung muss deshalb unterschiedliche Disziplinen zusammenbringen. Das macht die ausgewählten Beiträge des Bandes interessant, führt zuweilen aber in buntes Allerlei. Dass sich unter die titelgebenden Begriffe "Digitalisierung" und "Demokratie" zudem zahllose Forschungsfragen subsumieren lassen, hilft nicht. Thematisch zuzuspitzen hätte dem Band nicht geschadet und wäre dem interdisziplinären Charakter der Technikfolgenabschätzung wohl nicht zuwidergelaufen. ANNA-LENA NIEMANN
Alexander Bogner/ Michael Decker/ Michael Nentwich/ Constanze Scherz (Hrsg.): Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. 288 S., 29,- Euro.
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