Im Zeitalter des Internets und der elektronischen Überwachungsanlagen ist Wyatt kaum noch konkurrenzfähig. Er muss die Ansprüche zurückschrauben und sich mit Klein-Klein begnügen. Ein Juwelenjob erscheint da ganz nach seinem Geschmack - nichts Extravagantes, nichts Undurchschaubares, bis auf die Tatsache, dass es Eddie Oberins Job ist und nicht nur Oberin darauf besteht, bei dem Überfall mitzumischen, sondern auch seine Exfrau Lydia Stark, von der das Insiderwissen stammt. Wyatt arbeitet lieber allein, gibt aber grünes Licht, denn sein Plan ist wie immer akribisch vorbereitet. Doch keiner ahnt, dass die ins Visier genommenen Juweliere von ihrem französischen Cousin Alain Le Page mit in Europa gestohlenen Uhren und Schmuck versorgt werden, die sie in Australien mit ihrer legalen Ware tarnen.Disher zeigt eine moralisch verkommene Welt voller Niedertracht und Gemeinheit, wo blindes Vertrauen mit einem Kopfschuss belohnt wird, eine Gesellschaft der reinen Negativität, wo vom Investmentbanker bis zum Kleinkriminellen jedermann der Teufel des anderen ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2013Wer hat, dem soll genommen werden
Bei einem Juwelenraub stören Liebesgefühle: Der australische Schriftsteller Garry Disher schickt nach langer Pause seinen Berufsverbrecher Wyatt wieder auf die Piste
Die gute Nachricht: Wyatt ist wieder da. Seit den späten neunziger Jahren gab es keinen neuen Wyatt-Roman mehr. Der Berufsverbrecher war am Ende seiner sechsten Ausgabe müde geworden, sein Erfinder, der australische Schriftsteller Garry Disher, hat sich mit dem Polizisten Hal Challis der anderen Seite erfolgreich zugewandt. Nur die deutschen Leser bekamen durch die stetige Nachführarbeit des Berliner Verlags Pulp Master alle paar Jahre einen Wyatt nachgereicht, insofern waren die Entzugserscheinungen hierzulande nicht ganz so stark.
Wyatt ist ein sehr geradliniger Mensch. Er arbeitet hochprofessionell, ist ein Perfektionist sondergleichen und gestattet sich keine eitlen Selbstverliebtheiten. Nur hat er für die bürgerliche Lebensform den verkehrten Moralbegriff: Eigentum ist für ihn Diebstahl. Deswegen verfährt er mit all seiner kriminellen Energie nach der Devise Wer hat, dem muss genommen werden. "Er war ein Krimineller alter Schule: Geld, Juwelen und Gemälde."
Ein Räuber also, ein Raubmörder aber nur im äußersten Notfall, denn Wyatt würde niemals unbedacht oder um des Tötens willen jemanden töten. Nicht nur darin ist er seinem großen amerikanischen Bruder Parker sehr ähnlich. Dass diese Ähnlichkeit kein Zufall, sondern eine Verbeugung aus Down Under ist, wird in dem nun vorliegenden siebten Streich überdeutlich. Disher verbeugt sich gleich mehrfach vor Donald E. Westlake, der die Parker-Romane unter dem Pseudonym Richard Stark veröffentlichte: Wyatt rettet einer Frau namens Lydia Stark das Leben, unter dem Namen Parker entkommt er aus der Untersuchungshaft, und seine beiden Apartments befinden sich in einer Wohnanlage, die sich Westlake Towers nennt. Der 2008 verstorbene Donald E. Westlake wäre mit seinem Verwandten aus Australien durchaus einverstanden gewesen - inhaltlich wie sprachlich.
Die Komposition ist routiniert, aber nicht schematisch. Disher wechselt als allwissender Erzähler häufig die Perspektiven und erzählt die Geschichte aus der Sicht der konkurrierenden Verbrecher und der bestechlichen Ermittler. Und wie Westlake beherrscht er den staubtrockenen Sound des Hard-Boiled-Genres souverän. Siehe erster Satz: "Wyatt wartete darauf, einen Mann um fünfundsiebzigtausend Dollar zu erleichtern."
Wyatt ist abgebrannt und vermutlich deshalb wieder unterwegs, weil er zu Beginn der Geschichte gerade noch über fünftausend Dollar Barreserven verfügt. Mag er noch der Alte geblieben sein, die Welt und damit sein Operationsgebiet - Melbourne und Umgebung - sind nicht stehengeblieben. Die Rauheit der jungen australischen Gesellschaft hat sich durch verschärfte Ökonomisierung noch gesteigert. Die "Dirty Old Town" des nicht übersetzten Originaltitels beschreibt eine Großstadtregion, in der die soziale Schere weit auseinandergeht. Extremer Reichtum neben Armut, Herrschaftsgebiet der kalabrischen Mafia.
Wenn Wyatt durch das südöstlich von Melbourne gelegene Mount Eliza fährt, beschreibt Garry Disher das so: "Eine endlose Strecke kleiner Häuser mit Ziegelverblendungen und voller bescheidener, leicht zu zerstörender Hoffnungen. Die Einwohnerschaft dieser Vororte bildete das Rückgrat von Regierungen, die sie steuerlich bis zum Anschlag belasteten und die ihre Söhne zum Sterben in fremde Kriege schickten."
Für den "Retrogangster" ist auch die digitale Revolution kein Segen, denn in puncto Elektronik ist Wyatt blank. Er ist ein Mann, der mit Waffen aller Art umgehen kann, der Tresore knacken kann und den Nahkampf beherrscht - nicht aber GPS-Sender, Wegfahrsperren, Videoüberwachung, Online-Banking. Immerhin: Einen Laptop kann er bedienen, die Verlaufsfunktion kennt er auch. Seine Aversion gegen Teamarbeit hat eher noch zugenommen, am liebsten verlässt er sich auf sich allein, Rückschläge inbegriffen: Sein Überfall auf einen korrupten Hafenmeister schlägt fehl, die Geldfrage wird noch drängender. Da taucht mit dem Ganoven Eddie Oberin die nächste Chance auf, Kerngeschäft sozusagen: Juwelen.
Diebe beklauen Diebe: Geplant wird ein Überfall auf dubiose Schmuckhändler, die von einem Kurier mit Hehlerware aus Europa versorgt werden. Die Brüder Furneaux beziehen über ihren Cousin Alain La Page normalerweise gestohlene Luxusuhren, die sie unter der Hand verkaufen. Aber diesmal hat der Kurier Wertpapiere dabei, Inhaberobligationen und Schatzbriefe im Wert von zweihundert Millionen Pfund, die er selbst beim Raubüberfall in London erbeutet hat und nun in Australien in sauberes Geld verwandeln will. Das ist nun gar nicht das Metier von Wyatt. Aber mit La Page hat er sich einen Gegner zugezogen, der in einer anderen Klasse operiert als die schweren Jungs, mit denen er sonst zu tun hat.
Erschwerend kommt hinzu, dass Oberin und seine Geliebte, die durchgeknallte Stripperin Kandhi Cane, auf eigene Rechnung arbeiten wollen. Deswegen läuft beim Überfall die Sache aus dem Ruder, und ein blutiger Rachefeldzug wird in Gang gesetzt, an dessen Ende ein Showdown in den Bergen Südfrankreichs steht.
Die schlechte Nachricht: Es könnte eine Weile dauern, bis Wyatt wieder ins Geschehen eingreift. Und vielleicht ist er dann nicht mehr allein, die von ihm beschützte Lydia Stark hat sich in seinem Kopf eingenistet. "Ungewohnte Gefühle verhedderten sich zu einem Knäuel." Allerdings hat sich Wyatt bislang noch immer von solchen Sentimentalitäten befreien können.
HANNES HINTERMEIER
Garry Disher: "Dirty Old Town". Ein Wyatt-Roman.
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2013. 323 S., br., 13,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei einem Juwelenraub stören Liebesgefühle: Der australische Schriftsteller Garry Disher schickt nach langer Pause seinen Berufsverbrecher Wyatt wieder auf die Piste
Die gute Nachricht: Wyatt ist wieder da. Seit den späten neunziger Jahren gab es keinen neuen Wyatt-Roman mehr. Der Berufsverbrecher war am Ende seiner sechsten Ausgabe müde geworden, sein Erfinder, der australische Schriftsteller Garry Disher, hat sich mit dem Polizisten Hal Challis der anderen Seite erfolgreich zugewandt. Nur die deutschen Leser bekamen durch die stetige Nachführarbeit des Berliner Verlags Pulp Master alle paar Jahre einen Wyatt nachgereicht, insofern waren die Entzugserscheinungen hierzulande nicht ganz so stark.
Wyatt ist ein sehr geradliniger Mensch. Er arbeitet hochprofessionell, ist ein Perfektionist sondergleichen und gestattet sich keine eitlen Selbstverliebtheiten. Nur hat er für die bürgerliche Lebensform den verkehrten Moralbegriff: Eigentum ist für ihn Diebstahl. Deswegen verfährt er mit all seiner kriminellen Energie nach der Devise Wer hat, dem muss genommen werden. "Er war ein Krimineller alter Schule: Geld, Juwelen und Gemälde."
Ein Räuber also, ein Raubmörder aber nur im äußersten Notfall, denn Wyatt würde niemals unbedacht oder um des Tötens willen jemanden töten. Nicht nur darin ist er seinem großen amerikanischen Bruder Parker sehr ähnlich. Dass diese Ähnlichkeit kein Zufall, sondern eine Verbeugung aus Down Under ist, wird in dem nun vorliegenden siebten Streich überdeutlich. Disher verbeugt sich gleich mehrfach vor Donald E. Westlake, der die Parker-Romane unter dem Pseudonym Richard Stark veröffentlichte: Wyatt rettet einer Frau namens Lydia Stark das Leben, unter dem Namen Parker entkommt er aus der Untersuchungshaft, und seine beiden Apartments befinden sich in einer Wohnanlage, die sich Westlake Towers nennt. Der 2008 verstorbene Donald E. Westlake wäre mit seinem Verwandten aus Australien durchaus einverstanden gewesen - inhaltlich wie sprachlich.
Die Komposition ist routiniert, aber nicht schematisch. Disher wechselt als allwissender Erzähler häufig die Perspektiven und erzählt die Geschichte aus der Sicht der konkurrierenden Verbrecher und der bestechlichen Ermittler. Und wie Westlake beherrscht er den staubtrockenen Sound des Hard-Boiled-Genres souverän. Siehe erster Satz: "Wyatt wartete darauf, einen Mann um fünfundsiebzigtausend Dollar zu erleichtern."
Wyatt ist abgebrannt und vermutlich deshalb wieder unterwegs, weil er zu Beginn der Geschichte gerade noch über fünftausend Dollar Barreserven verfügt. Mag er noch der Alte geblieben sein, die Welt und damit sein Operationsgebiet - Melbourne und Umgebung - sind nicht stehengeblieben. Die Rauheit der jungen australischen Gesellschaft hat sich durch verschärfte Ökonomisierung noch gesteigert. Die "Dirty Old Town" des nicht übersetzten Originaltitels beschreibt eine Großstadtregion, in der die soziale Schere weit auseinandergeht. Extremer Reichtum neben Armut, Herrschaftsgebiet der kalabrischen Mafia.
Wenn Wyatt durch das südöstlich von Melbourne gelegene Mount Eliza fährt, beschreibt Garry Disher das so: "Eine endlose Strecke kleiner Häuser mit Ziegelverblendungen und voller bescheidener, leicht zu zerstörender Hoffnungen. Die Einwohnerschaft dieser Vororte bildete das Rückgrat von Regierungen, die sie steuerlich bis zum Anschlag belasteten und die ihre Söhne zum Sterben in fremde Kriege schickten."
Für den "Retrogangster" ist auch die digitale Revolution kein Segen, denn in puncto Elektronik ist Wyatt blank. Er ist ein Mann, der mit Waffen aller Art umgehen kann, der Tresore knacken kann und den Nahkampf beherrscht - nicht aber GPS-Sender, Wegfahrsperren, Videoüberwachung, Online-Banking. Immerhin: Einen Laptop kann er bedienen, die Verlaufsfunktion kennt er auch. Seine Aversion gegen Teamarbeit hat eher noch zugenommen, am liebsten verlässt er sich auf sich allein, Rückschläge inbegriffen: Sein Überfall auf einen korrupten Hafenmeister schlägt fehl, die Geldfrage wird noch drängender. Da taucht mit dem Ganoven Eddie Oberin die nächste Chance auf, Kerngeschäft sozusagen: Juwelen.
Diebe beklauen Diebe: Geplant wird ein Überfall auf dubiose Schmuckhändler, die von einem Kurier mit Hehlerware aus Europa versorgt werden. Die Brüder Furneaux beziehen über ihren Cousin Alain La Page normalerweise gestohlene Luxusuhren, die sie unter der Hand verkaufen. Aber diesmal hat der Kurier Wertpapiere dabei, Inhaberobligationen und Schatzbriefe im Wert von zweihundert Millionen Pfund, die er selbst beim Raubüberfall in London erbeutet hat und nun in Australien in sauberes Geld verwandeln will. Das ist nun gar nicht das Metier von Wyatt. Aber mit La Page hat er sich einen Gegner zugezogen, der in einer anderen Klasse operiert als die schweren Jungs, mit denen er sonst zu tun hat.
Erschwerend kommt hinzu, dass Oberin und seine Geliebte, die durchgeknallte Stripperin Kandhi Cane, auf eigene Rechnung arbeiten wollen. Deswegen läuft beim Überfall die Sache aus dem Ruder, und ein blutiger Rachefeldzug wird in Gang gesetzt, an dessen Ende ein Showdown in den Bergen Südfrankreichs steht.
Die schlechte Nachricht: Es könnte eine Weile dauern, bis Wyatt wieder ins Geschehen eingreift. Und vielleicht ist er dann nicht mehr allein, die von ihm beschützte Lydia Stark hat sich in seinem Kopf eingenistet. "Ungewohnte Gefühle verhedderten sich zu einem Knäuel." Allerdings hat sich Wyatt bislang noch immer von solchen Sentimentalitäten befreien können.
HANNES HINTERMEIER
Garry Disher: "Dirty Old Town". Ein Wyatt-Roman.
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2013. 323 S., br., 13,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Angst, dass der Held durch zu viel Gefühl ins Straucheln kommt oder, was schlimmer wäre, langweiliger wird, hat Hannes Hintermeier nicht. Insofern freut er sich über den neuen Wyatt-Krimi aus der Hard-Boiled-Werkstatt von Garry Disher und ist jetzt schon gespannt auf Weiteres. Die Handlung des aktuellen Bandes, den er für seine routinierte (nicht schematische) Komposition und seinen trockenen Sound schätzt, bringt der Rezensent auf die simple Formel "Diebe beklauen Diebe". Und wenn der Schauplatz Melbourne auch rauer geworden ist und der Ermittler Wyatt mit Online Banking immer noch nichts, mit Waffen und mit den schweren Jungs, die sich im Buch um Hehlerware zanken, aber sehr viel anzufangen weiß, findet Hintermeier die Dinge an ihrem Platz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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