Der gefälschte Galilei – Prädikat: Nicht empfehlenswert
Weil mir die deutschsprachige Galilei-Rezeption wichtig ist, wollte ich eigentlich eine seriöse Rezension frei von polemischen Anmerkungen verfassen. Angesichts dessen, was ich in dieser »Discorsi«-Ausgabe gelesen habe, ist mir die Umsetzung
dieses Vorsatzes mit jeder Zeile der Lektüre dieses Buches zunehmend schwerer gefallen. Obwohl sie in…mehrDer gefälschte Galilei – Prädikat: Nicht empfehlenswert
Weil mir die deutschsprachige Galilei-Rezeption wichtig ist, wollte ich eigentlich eine seriöse Rezension frei von polemischen Anmerkungen verfassen. Angesichts dessen, was ich in dieser »Discorsi«-Ausgabe gelesen habe, ist mir die Umsetzung dieses Vorsatzes mit jeder Zeile der Lektüre dieses Buches zunehmend schwerer gefallen. Obwohl sie in der »Philosophischen Bibliothek« des Felix-Meiner-Verlags und damit in einer Reihe etwa mit Hegel oder Kants Kritiken erschienen ist, hat diese Discorsi-Ausgabe weder etwas mit Philosophie noch etwas mit Physik zu tun. Diese auf vier Tage verkürzte Discorsi-Version mit eklatanten Fehlstellen ohne Quellenangaben und Belegen, einer fachwissenschaftlich fragwürdigen Übersetzung eines selbstgerechten und sich selbst überschätzenden Herausgebers, der für sich die Deutungshoheit über die philosophischen Grundlagen der Werke von Galilei (und Newton) beansprucht. Die von ihm selbst angekündigte „wissenschaftliche Sensation“ (S. XII) ist eine arrogante Selbstüberschätzung, die insbesondere im Umgang mit der Konkurrenz und potentiellen Kritikern zur Geltung kommt. Er wendet sich mit seiner Interpretation der Discorsi gegen alles was in der Philosophie und Physik Rang und Namen hat: »Gegen Aristoteles, Descartes, Leibniz, Kant, Mach und Einstein, dass Raum und Zeit „an sich“ in einer realistischen Bewegungslehre unverzichtbar sind, und entzieht den Relativitätstheorien die Grundlage.« (Online-Klappentext)
Als ehemaliger Physiklehrer habe ich nahezu 40 Jahre Inhalte aus den Discorsi in meinen historisch-genetisch gestalteten Mechanik-Unterricht integriert, allerdings nur Galilei-Texte aus der Übersetzung und Kommentierung des Physikers Arthur von Oettingen. Um diesem sorgfältig redigierten Konkurrenzprodukt, mit der sich Generationen von Schülern, Studenten, Autoren, Physikern und Wissenschaftshistorikern Galileis Werk zum Verständnis der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft angeeignet haben, den Rang abzulaufen, schreckt der Herausgeber und Übersetzer dieser Ausgabe selbst vor Unwahrheiten nicht zurück. Nur ein Beispiel: Dass angeblich »von Oettingen … „Impetus“ zumeist mit »Geschwindigkeit« übersetzt“, wie Dellian auf S. IX behauptet, ist schlichtweg falsch. Dass er hingegen ohne jede Selbstkritik »spatium« (bzw. »spazio«) durchgängig als »durchmessenen Raum« –und nicht wie es physikalisch betrachtet richtig wäre, mit »zurückgelegten Weg« oder »Strecke«– übersetzt, führt zu eklatanten Verständnisproblemen. Dazu eine Leseprobe zum IV. Axiom am dritten Tag der Discosi: »Bei ein und derselben Zeit ist die Geschwindigkeit, mit der ein größerer Raum durchmessen wird, größer als die Geschwindigkeit, mit der ein geringerer Raum durchmessen wird.« (S. 183) Die aus dieser Definition abgeleitete Maßeinheit der Geschwindigkeit wäre »Kubikmeter pro Sekunde« (m3/s oder km3/h). Wenig hilfreich und eher verwirrend ist die dazu von Dellian gegebene Erläuterung auf Seite XXIII.
Zur Klarstellung: Was Galilei darunter physikalisch wirklich versteht, wird aus der Übersetzung von Oettingens klar (S. 142): »Die Geschwindigkeit, bei welcher in einer gewissen Zeit eine grössere Strecke zurückgelegt wird, ist grösser, als die Geschwindigkeit, bei welcher in derselben Zeit eine kleinere Strecke vollendet wird.« Mit anderen Worten: Der Sache nach hat Galilei hier den Begriff der »Geschwindigkeit« definiert als Quotient aus dem »zurückgelegtem Weg« und der dazu »benötigten Zeit«. Daraus resultiert die selbst in jeder Fahrschule gelehrte Maßeinheit »Meter pro Sekunde« (m/s bzw. km/h). Dass der Herausgeber nicht wirklich etwas mit Physik zu tun haben will, räumt er freimütig ein: Man dürfe nicht den Fehler machen, »Galileis Werke durch die analytische Brille der klassischen Schulmechanik zu lesen oder seine natürliche Philosophie „logisch“ zu verstehen.« (S. IX)
Wer sich solche Enttäuschungen ersparen will, empfehle ich dringend die sorgfältig redigierte einbändige Discorsi-Ausgabe in der Übersetzung und Kommentierung von Arthur v. Oettingen, die mehrfach nachgedruckt wurde, zuletzt im Europa-Verlag. Viele Antiquariate haben gut erhaltene Exemplare der von 1964 bis 1983 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienenen Ausgabe für ca. 15 Euro im Angebot. Kostenlos erhältlich sind die auf verschiedenen Internetplattformen wie »Internet Archive« oder »sicArs-didactica« zum Download bereitgestellten Discorsi in Form der in drei Einzelbänden erschienen »Ostwalds Klassiker«. Wer sich für diese von Oettinger-Ausgaben entscheidet, erhält Galileis Discorsi auch komplett mit den Diskursen vom ersten bis zum sechsten Tag. Die im Felix-Meiner-Verlag von Ed Dellian herausgegebene und übersetzte Ausgabe enthält indessen nur vier Tage, ist gewissermaßen eine Light-Version der von Antonio Favaro herausgegebenen offiziellen Werkausgabe, der Edizione Nationale Volume VIII, die ebenfalls kostenlos aus dem »Internet Archive« heruntergeladen werden kann.