Wie wurden die französischen Religionskriege (1559-1598) in den Regierungen Italiens und Deutschlands wahrgenommen? Am Beispiel von Savoyen-Piemont und der Kurpfalz geht Cornel Zwierlein dieser Frage im Rahmen der vorliegenden Vergleichs- und Beziehungsgeschichte zur politischen Kommunikation nach. Er vergleicht dazu die Denkrahmen, wie sie sich in den Entscheidungsfindungsprozessen in Italien unter dem Stichwort »discorso« und Deutschland unter dem Stichwort »Lex Dei« manifestierten und weist daran die Osmose zwischen der zeitgenössischen politischen Theorie und der jeweiligen Praxis politischer Entscheidungen nach. Unter dem Stichwort »Europäisierung« betrachtet der Autor schließlich die komplexen Transfer- und Entwicklungsprozesse im Dreieck Frankreich - Italien - Deutschland.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2007Trinkgeld für die Datenmülllieferanten
Was ist der moderne Staat? Ein Verfahren wohlkalkulierter, verschriftlichter Entscheidungen. Das ist die These des Buches von Cornel Zwierlein zum Diskurs des Machiavellismus.
Am 1. September 1572 richtete Papst Gregor XIII. eine Bulle gegen eine Sekte, also gegen ein spalterisches Konkurrenzunternehmen zur katholischen Kirche: die "secta hominum improbe curiosorum", der "unzulässig neugierigen Menschen". Damit waren nicht die Anhänger Luthers und Calvins gemeint, deren Bildungsvorsprung erst viel später durch eine kulturprotestantische Bildungsforschung zertifiziert werden sollte, und auch nicht die Naturphilosophen und Fernrohrbastler. Es handelt sich laut der Bulle bei den Angehörigen dieser Sekte vielmehr um Leute, die alles, was sie über öffentliche und private Geschäfte aufschnappen, zu Papier und in Umlauf bringen, wobei sie keinen Unterschied zwischen Wahrem und Falschem machen - Journalisten.
Vom Nachrichtenhandel im Rom des sechzehnten Jahrhunderts gibt Cornel Zwierlein ein reich belegtes Bild, das an die Bloggerszene unserer Tage denken lässt. Die Verbreitung von Neuigkeiten bestand im Abschreiben. Wer über das Geschehen in der Kurie, in den Stadtrepubliken und Fürstenstädten Italiens und an den Höfen der großen Mächte auf dem Laufenden sein wollte, kaufte auf der Straße mit der Hand beschriebene Blätter, die regelmäßig und in Standardumfängen zu bekommen waren, so dass man diese "avvisi" Zeitungen nennen kann.
Von Bloggern trennt die Schreiber, dass sie sich keinen Autorenehrgeiz leisten durften. Dass der Produzent der Blätter die Nachricht Wort für Wort so abschrieb, wie er sie aus Venedig oder Florenz erhalten hatte, machte den Wert des Produkts für den Käufer aus. Die Unterscheidung des Wahren und Falschen, auch die Selektion des Wichtigen behielten sich die Abnehmer selber vor. Unter ihnen waren Botschafter und Spione, die ihren regelmäßigen Berichten an ihre Herren die Zeitungen beilegten. Man wird sich diese "Menantes", die mit dem Schreiben ein karges Brot verdienten, als verkrachte Existenzen vorstellen: das Prekariat des Humanismus. Der eine oder andere war selbst einmal Sekretär eines Gesandten oder Kardinals gewesen und hatte die Straßenseite gewechselt. Eine "Bande voller unverschämtester Gauner" nannte der römische Agent des Marchese Filippo d'Este 1584 die Schreiberlinge, nachdem er auf einen Nachrichtenverkäufer hereingefallen war, der Exklusives gegen einen fürstlichen Vorschuss versprochen und nie geliefert hatte. Der Betrüger hatte auf Anonymität bestanden, doch darin hatte kein Grund zum Misstrauen gelegen, weil das Inkognito wegen der Berufsrisiken des Geheimnishandels zu den Spielregeln gehörte. Die Abonnenten hatten das Schattenhafte des Gewerbes hinzunehmen. Am Neujahrstag traten die Zeitungsschreiber aus der Grauzone der Asozialität, um ein Trinkgeld zu verlangen, weshalb ein Botschafter der Gonzaga sie als Harpyien beschimpfte.
Es ist keine feuilletonistische Assoziation, wenn man bei der Lektüre von Zwierleins Beschreibungen des Marktes der "avvisi" an die elektronische Medienwelt denkt. Der Autor selbst hatte eingestandenermaßen CNN vor Augen, als er die Metapher des "Nachrichtenhimmels" prägte, um den Effekt der kontinuierlichen Versorgung der politischen Akteure mit professionell vertriebenen weltpolitischen Neuigkeiten zu charakterisieren. Als Verdopplung der Welt umschreibt er diesen Effekt weiter: Die Fürsten waren mit einem Bild der politischen Welt konfrontiert, das eine Realität eigenen Rechts darstellte. Sie setzten dieses Bild nicht aus Informationen zusammen, die von ihren Vertrauensleuten gemäß ihren Präferenzen arrangiert worden waren, sondern fanden es vor - und sie fanden sich darin vor. Sie mussten damit rechnen, dass die Figur, die sie in diesen Texten machten, auf ihr Ansehen zurückwirkte, ob sie sich nun wiedererkannten oder nicht.
Zwierlein hatte einen genialen Einfall: Er sah, dass diese Objektivierung des Selbstverhältnisses, wie sie mutmaßlich durch den fortgesetzten Konsum eines neutral und faktenpositivistisch daherkommenden politischen Journalismus bewirkt wirkt, dem Theoriedesign des berühmtesten politischen Denkers der Neuzeit ähnelt. Machiavelli sieht den Fürsten wie die Freistaaten in einer Welt permanenter wechselseitiger Beobachtung agieren. Die Unterschiede zwischen Schein und Sein, Absicht und Wirkung müssen bei jeder Entscheidung bedacht werden. Machiavelli lehrte also, so lässt sich Zwierleins These zuspitzen, was die Zeitungsleser in den Staatskanzleien schon gelernt hatten.
Zur Verteidigung des verteufelten Autors brachten vor etwa zweihundert Jahren Historiker und Philosophen an vielen Ecken Europas mit verblüffender Gleichzeitigkeit, als hätten sie's in der Zeitung gelesen, das Argument ins Spiel, mit den anstößigen Maximen des Buches vom Fürsten habe Machiavelli lediglich den im damaligen Italien herrschenden moralischen Zeitgeist ausgedrückt. Gegen den Trend der rezeptionshistorischen Forschung kehrt Zwierlein nun zur ursprünglichen Vermutung des romantischen Historismus zurück, dass Machiavellis Argumentation für seine ersten Leser Evidenz besessen habe. Er begründet die Vermutung mit dem spekulativen Scharfsinn einer methodenbewussten Geschichtswissenschaft, die ihre eigene Selbstreflexion in die Tradition Machiavellis stellt und zu einem Konstruktivismus neigt, in dem sie den wahren Realismus zu fassen meint.
Zwierlein tilgt den Unterschied von Machiavellismus und Antimachiavellismus, indem er als Essenz von Machiavellis Schriften ein Verfahren herauspräpariert: den systematischen Vergleich von Handlungsoptionen auf der Grundlage einer empirischen Analyse der Situation. Der notorische moralische Relativismus ist in dieser Sicht zunächst einmal methodischer Natur: In einer durch Schriftform versachlichten Bestandsaufnahme von Kräften und Gegenkräften sind auch die Tugend und der Schein der Tugend Größen, die verrechnet werden müssen.
Machiavelli schrieb "Discorsi" über die ersten zehn Bücher des Livius, ein Handbuch der Regierungskunst anhand von Beispielen aus der römischen Republik, die mit der klassischen wie der modernen Geschichte abgeglichen werden. Das in diesem Werk ebenso wie im schmaleren "Principe" angewandte Verfahren der Zergliederung einer Entscheidungssituation in einem historischen Vergleich, der die Gesetzmäßigkeiten wiederkehrender Lagen ermitteln soll, nennt Zwierlein "discorso". Er wartet mit zwei gewichtigen wortgeschichtlichen Befunden auf.
Zum einen beginnt die Weltkarriere des Diskursbegriffs mit den Livius-Kommentaren und hängt der Export des Wortes mit der Machiavelli-Lektüre zusammen. Die spezielle, methodische Bedeutung von "discorso", "discours" und "discourse" schwingt in der allgemeinen Bedeutung (Rede, Abhandlung) mehr oder weniger mit, wie auch nicht jede Verwendung des Wortes in Buchtiteln oder auf Aktendeckeln als Anspielung auf den indizierten Autor zu verstehen ist. Zwierlein geht es um einen "Denkrahmen", um die intellektuell-logistischen Voraussetzungen moderner Staatlichkeit, und seine Geschichte dieser Revolution der Denkungsart geht in der Wirkungsgeschichte des Verfassers der "Discorsi" nicht auf. Zum anderen nämlich gibt es Vorstufen des technischen Begriffs von "discorso" als Algorithmus der Entscheidungsfindung in der aristotelischen Logik der Scholastiker, was Antimachiavellisten den unverfänglichen Anschluss an die terminologische Innovation ermöglichte.
Wenn Zwierlein, um die Immanenz der Ideengeschichte ebenso zu vermeiden wie die Basis-Überbau-Mechanik üblicher politischer Sozialgeschichte, eine Kausalerklärung des von ihm freigelegten Denkrahmens als nötig postuliert, den Begriff eines vorbegrifflichen "Gegenwartshorizonts" einführt und für seine Epoche mit der Masse der handgeschriebenen Zeitungen füllt, dann treibt er die machiavellistische Rückführung des Diskurses auf Prinzipien vielleicht zu weit. Genügt es nicht, dass die "avvisi" zu den Bedingungen autonomer, tendenziell an Fakten orientierter politischer Entscheidungsfindung gehörten? Muss man sie zur Ursache promovieren? Dass die Überschwemmung mit Nachrichten, die sich gegenseitig relativierten und ständig neue Chancen andeuteten, den Okkasionalismus und die Projektemacherei in der italienischen Politik begünstigte, ist zwar "in universali", um mit einer Unterscheidung des Buches zu arbeiten, plausibel. Zwierleins Analyse der Neutralitätspolitik des Herzogs von Savoyen gegenüber den französischen Religionskriegen bietet "in particulari" allerdings keine schlagenden Belege für die Kopplung des herzoglichen Kalküls an die Irritation durch mitlaufende Nachrichten.
Erst die Gegenprobe im zweiten Teil zeigt die Stärke des medienhistorischen Ansatzes. Die calvinistischen Fürsten in Deutschland, die keine Botschafter hatten, mit deren Berichten sie die Zeitungen hätten vergleichen können, die auch sie aus Italien bezogen, fanden am Nachrichtenhimmel überall Bestätigungen ihrer schlimmsten Befürchtungen. Es musste, wenn in Frankreich ein Mord geschah, am Rhein eine Burg belagert wurde und in Rom ein Kardinal zuviel Geld hatte, ein Zusammenhang bestehen, der Zusammenhang einer Weltverschwörung. Wo die Objektivität der Abschreiberblätter paradoxerweise gerade darin lag, dass niemand sich für die Wahrheit der Nachrichten verbürgte, dass die Meldungen kein System bildeten und deshalb vielerlei Gebrauchsmöglichkeiten eröffneten, da entnahmen die deutschen Leser ihre Urteilsmaßstäbe den gedruckten Flugschriften, die das Publikum in die moralische Pflicht nahmen wie noch heute die Leitartikel. Cornel Zwierleins in jeder Hinsicht imposante Studie geht auf eine Doktorarbeit zurück, die gemeinsam von den Universitäten München und Grenoble angenommen worden ist.
PATRICK BAHNERS
Cornel Zwierlein: "Discorso und Lex Dei". Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 74. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006. 900 S., br., 129,- [Euro].
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Was ist der moderne Staat? Ein Verfahren wohlkalkulierter, verschriftlichter Entscheidungen. Das ist die These des Buches von Cornel Zwierlein zum Diskurs des Machiavellismus.
Am 1. September 1572 richtete Papst Gregor XIII. eine Bulle gegen eine Sekte, also gegen ein spalterisches Konkurrenzunternehmen zur katholischen Kirche: die "secta hominum improbe curiosorum", der "unzulässig neugierigen Menschen". Damit waren nicht die Anhänger Luthers und Calvins gemeint, deren Bildungsvorsprung erst viel später durch eine kulturprotestantische Bildungsforschung zertifiziert werden sollte, und auch nicht die Naturphilosophen und Fernrohrbastler. Es handelt sich laut der Bulle bei den Angehörigen dieser Sekte vielmehr um Leute, die alles, was sie über öffentliche und private Geschäfte aufschnappen, zu Papier und in Umlauf bringen, wobei sie keinen Unterschied zwischen Wahrem und Falschem machen - Journalisten.
Vom Nachrichtenhandel im Rom des sechzehnten Jahrhunderts gibt Cornel Zwierlein ein reich belegtes Bild, das an die Bloggerszene unserer Tage denken lässt. Die Verbreitung von Neuigkeiten bestand im Abschreiben. Wer über das Geschehen in der Kurie, in den Stadtrepubliken und Fürstenstädten Italiens und an den Höfen der großen Mächte auf dem Laufenden sein wollte, kaufte auf der Straße mit der Hand beschriebene Blätter, die regelmäßig und in Standardumfängen zu bekommen waren, so dass man diese "avvisi" Zeitungen nennen kann.
Von Bloggern trennt die Schreiber, dass sie sich keinen Autorenehrgeiz leisten durften. Dass der Produzent der Blätter die Nachricht Wort für Wort so abschrieb, wie er sie aus Venedig oder Florenz erhalten hatte, machte den Wert des Produkts für den Käufer aus. Die Unterscheidung des Wahren und Falschen, auch die Selektion des Wichtigen behielten sich die Abnehmer selber vor. Unter ihnen waren Botschafter und Spione, die ihren regelmäßigen Berichten an ihre Herren die Zeitungen beilegten. Man wird sich diese "Menantes", die mit dem Schreiben ein karges Brot verdienten, als verkrachte Existenzen vorstellen: das Prekariat des Humanismus. Der eine oder andere war selbst einmal Sekretär eines Gesandten oder Kardinals gewesen und hatte die Straßenseite gewechselt. Eine "Bande voller unverschämtester Gauner" nannte der römische Agent des Marchese Filippo d'Este 1584 die Schreiberlinge, nachdem er auf einen Nachrichtenverkäufer hereingefallen war, der Exklusives gegen einen fürstlichen Vorschuss versprochen und nie geliefert hatte. Der Betrüger hatte auf Anonymität bestanden, doch darin hatte kein Grund zum Misstrauen gelegen, weil das Inkognito wegen der Berufsrisiken des Geheimnishandels zu den Spielregeln gehörte. Die Abonnenten hatten das Schattenhafte des Gewerbes hinzunehmen. Am Neujahrstag traten die Zeitungsschreiber aus der Grauzone der Asozialität, um ein Trinkgeld zu verlangen, weshalb ein Botschafter der Gonzaga sie als Harpyien beschimpfte.
Es ist keine feuilletonistische Assoziation, wenn man bei der Lektüre von Zwierleins Beschreibungen des Marktes der "avvisi" an die elektronische Medienwelt denkt. Der Autor selbst hatte eingestandenermaßen CNN vor Augen, als er die Metapher des "Nachrichtenhimmels" prägte, um den Effekt der kontinuierlichen Versorgung der politischen Akteure mit professionell vertriebenen weltpolitischen Neuigkeiten zu charakterisieren. Als Verdopplung der Welt umschreibt er diesen Effekt weiter: Die Fürsten waren mit einem Bild der politischen Welt konfrontiert, das eine Realität eigenen Rechts darstellte. Sie setzten dieses Bild nicht aus Informationen zusammen, die von ihren Vertrauensleuten gemäß ihren Präferenzen arrangiert worden waren, sondern fanden es vor - und sie fanden sich darin vor. Sie mussten damit rechnen, dass die Figur, die sie in diesen Texten machten, auf ihr Ansehen zurückwirkte, ob sie sich nun wiedererkannten oder nicht.
Zwierlein hatte einen genialen Einfall: Er sah, dass diese Objektivierung des Selbstverhältnisses, wie sie mutmaßlich durch den fortgesetzten Konsum eines neutral und faktenpositivistisch daherkommenden politischen Journalismus bewirkt wirkt, dem Theoriedesign des berühmtesten politischen Denkers der Neuzeit ähnelt. Machiavelli sieht den Fürsten wie die Freistaaten in einer Welt permanenter wechselseitiger Beobachtung agieren. Die Unterschiede zwischen Schein und Sein, Absicht und Wirkung müssen bei jeder Entscheidung bedacht werden. Machiavelli lehrte also, so lässt sich Zwierleins These zuspitzen, was die Zeitungsleser in den Staatskanzleien schon gelernt hatten.
Zur Verteidigung des verteufelten Autors brachten vor etwa zweihundert Jahren Historiker und Philosophen an vielen Ecken Europas mit verblüffender Gleichzeitigkeit, als hätten sie's in der Zeitung gelesen, das Argument ins Spiel, mit den anstößigen Maximen des Buches vom Fürsten habe Machiavelli lediglich den im damaligen Italien herrschenden moralischen Zeitgeist ausgedrückt. Gegen den Trend der rezeptionshistorischen Forschung kehrt Zwierlein nun zur ursprünglichen Vermutung des romantischen Historismus zurück, dass Machiavellis Argumentation für seine ersten Leser Evidenz besessen habe. Er begründet die Vermutung mit dem spekulativen Scharfsinn einer methodenbewussten Geschichtswissenschaft, die ihre eigene Selbstreflexion in die Tradition Machiavellis stellt und zu einem Konstruktivismus neigt, in dem sie den wahren Realismus zu fassen meint.
Zwierlein tilgt den Unterschied von Machiavellismus und Antimachiavellismus, indem er als Essenz von Machiavellis Schriften ein Verfahren herauspräpariert: den systematischen Vergleich von Handlungsoptionen auf der Grundlage einer empirischen Analyse der Situation. Der notorische moralische Relativismus ist in dieser Sicht zunächst einmal methodischer Natur: In einer durch Schriftform versachlichten Bestandsaufnahme von Kräften und Gegenkräften sind auch die Tugend und der Schein der Tugend Größen, die verrechnet werden müssen.
Machiavelli schrieb "Discorsi" über die ersten zehn Bücher des Livius, ein Handbuch der Regierungskunst anhand von Beispielen aus der römischen Republik, die mit der klassischen wie der modernen Geschichte abgeglichen werden. Das in diesem Werk ebenso wie im schmaleren "Principe" angewandte Verfahren der Zergliederung einer Entscheidungssituation in einem historischen Vergleich, der die Gesetzmäßigkeiten wiederkehrender Lagen ermitteln soll, nennt Zwierlein "discorso". Er wartet mit zwei gewichtigen wortgeschichtlichen Befunden auf.
Zum einen beginnt die Weltkarriere des Diskursbegriffs mit den Livius-Kommentaren und hängt der Export des Wortes mit der Machiavelli-Lektüre zusammen. Die spezielle, methodische Bedeutung von "discorso", "discours" und "discourse" schwingt in der allgemeinen Bedeutung (Rede, Abhandlung) mehr oder weniger mit, wie auch nicht jede Verwendung des Wortes in Buchtiteln oder auf Aktendeckeln als Anspielung auf den indizierten Autor zu verstehen ist. Zwierlein geht es um einen "Denkrahmen", um die intellektuell-logistischen Voraussetzungen moderner Staatlichkeit, und seine Geschichte dieser Revolution der Denkungsart geht in der Wirkungsgeschichte des Verfassers der "Discorsi" nicht auf. Zum anderen nämlich gibt es Vorstufen des technischen Begriffs von "discorso" als Algorithmus der Entscheidungsfindung in der aristotelischen Logik der Scholastiker, was Antimachiavellisten den unverfänglichen Anschluss an die terminologische Innovation ermöglichte.
Wenn Zwierlein, um die Immanenz der Ideengeschichte ebenso zu vermeiden wie die Basis-Überbau-Mechanik üblicher politischer Sozialgeschichte, eine Kausalerklärung des von ihm freigelegten Denkrahmens als nötig postuliert, den Begriff eines vorbegrifflichen "Gegenwartshorizonts" einführt und für seine Epoche mit der Masse der handgeschriebenen Zeitungen füllt, dann treibt er die machiavellistische Rückführung des Diskurses auf Prinzipien vielleicht zu weit. Genügt es nicht, dass die "avvisi" zu den Bedingungen autonomer, tendenziell an Fakten orientierter politischer Entscheidungsfindung gehörten? Muss man sie zur Ursache promovieren? Dass die Überschwemmung mit Nachrichten, die sich gegenseitig relativierten und ständig neue Chancen andeuteten, den Okkasionalismus und die Projektemacherei in der italienischen Politik begünstigte, ist zwar "in universali", um mit einer Unterscheidung des Buches zu arbeiten, plausibel. Zwierleins Analyse der Neutralitätspolitik des Herzogs von Savoyen gegenüber den französischen Religionskriegen bietet "in particulari" allerdings keine schlagenden Belege für die Kopplung des herzoglichen Kalküls an die Irritation durch mitlaufende Nachrichten.
Erst die Gegenprobe im zweiten Teil zeigt die Stärke des medienhistorischen Ansatzes. Die calvinistischen Fürsten in Deutschland, die keine Botschafter hatten, mit deren Berichten sie die Zeitungen hätten vergleichen können, die auch sie aus Italien bezogen, fanden am Nachrichtenhimmel überall Bestätigungen ihrer schlimmsten Befürchtungen. Es musste, wenn in Frankreich ein Mord geschah, am Rhein eine Burg belagert wurde und in Rom ein Kardinal zuviel Geld hatte, ein Zusammenhang bestehen, der Zusammenhang einer Weltverschwörung. Wo die Objektivität der Abschreiberblätter paradoxerweise gerade darin lag, dass niemand sich für die Wahrheit der Nachrichten verbürgte, dass die Meldungen kein System bildeten und deshalb vielerlei Gebrauchsmöglichkeiten eröffneten, da entnahmen die deutschen Leser ihre Urteilsmaßstäbe den gedruckten Flugschriften, die das Publikum in die moralische Pflicht nahmen wie noch heute die Leitartikel. Cornel Zwierleins in jeder Hinsicht imposante Studie geht auf eine Doktorarbeit zurück, die gemeinsam von den Universitäten München und Grenoble angenommen worden ist.
PATRICK BAHNERS
Cornel Zwierlein: "Discorso und Lex Dei". Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 74. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006. 900 S., br., 129,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Patrick Bahners ist begeistert. Cornel Zwierleins Studie zur Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert findet er "in jeder Hinsicht imposant". Der vom Autor illustrierte Nachrichtenhandel im Rom jener Zeit erinnert Bahners an die heutige Bloggerszene. Ein weiteres Licht geht dem Rezensenten auf, wenn Zwierlein die "Objektivierung des Selbstverhältnisses" durch den Journalismus im Rom des 16. Jahrhunderts "gegen den Trend der rezeptionshistorischen Forschung" mit dem "Theoriedesign" Machiavellis vergleicht. Vor dem geistigen Auge des Rezensenten entstehen so die "intellektuell-logistischen" Bedingungen des modernen Staates. Ein medienhistorischer Ansatz, den Bahners zu schätzen weiß.
© Perlentaucher Medien GmbH
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