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David Lurie, Literaturprofessor in mittleren Jahren und zweimal geschieden, ist in Ungnade gefallen: eine Affäre mit einer seiner Studentinnen, die er ohne große Leidenschaft und ohne sonderliche Bedenken unterhielt, ist an die Öffentlichkeit gedrungen. Der peinlichen Befragung durch eine Untersuchungskommission entzieht er sich durch ein Schuldbekenntnis. Er quittiert seinen Dienst und verläßt Kapstadt, um sich für eine Weile zu seiner Tochter auf Land zurückzuziehen. Lucy, die keinerlei Ambitionen in der Welt ihres Vaters hat, versucht auf einem entlegenen Stück Land eine kleine Farm…mehr

Produktbeschreibung
David Lurie, Literaturprofessor in mittleren Jahren und zweimal geschieden, ist in Ungnade gefallen: eine Affäre mit einer seiner Studentinnen, die er ohne große Leidenschaft und ohne sonderliche Bedenken unterhielt, ist an die Öffentlichkeit gedrungen. Der peinlichen Befragung durch eine Untersuchungskommission entzieht er sich durch ein Schuldbekenntnis. Er quittiert seinen Dienst und verläßt Kapstadt, um sich für eine Weile zu seiner Tochter auf Land zurückzuziehen.
Lucy, die keinerlei Ambitionen in der Welt ihres Vaters hat, versucht auf einem entlegenen Stück Land eine kleine Farm aufzubauen. Zunächst scheint es, als könnten der Einfluß Lucys und der natürliche Rhythmus des Farmlebens Davids aus den Fugen geratenem Leben neuen Halt geben, doch dann werden Vater und Tochter Opfer eines brutalen Überfalls, in dessen Folge der grundlegende existentielle Konflikt zwischen beiden offen zutage tritt.Coetzees faszinierend kompromißloser Roman, der im Südafrika der Nach-Apartheit spi
Autorenporträt
J.M. Coetzee
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2000

Der alte Hund und das Mädchen
„Schande”: Der Südafrikaner J. M. Coetzee hat einen Roman von elementarer Wucht geschrieben

„Unsere Freundinnen und Frauen”, schrieb vor kurzem ein südafrikanischer Staatsbeamter in einer E-mail, „leben in der ständigen Gefahr, von einem aidsinfizierten Kaffer vergewaltigt zu werden. ” Die Botschaft ging versehentlich an den falschen Adressaten – nur deshalb wurde sie öffentlich. Präsident Mbeki zitierte den Satz jetzt am Ende einer wirtschaftspolitischen Grundsatzrede im Parlament, um vor dem noch immer grassierenden Rassismus zu warnen. Die Opposition aber hielt dagegen: Messe Mbeki einem durchgeknallten Extremisten nicht zu viel Bedeutung bei, wenn es gleichzeitig überall im Land friedliche Kooperationen zwischen den Hautfarben gebe?
Wer hat Recht? Ist Südafrika ein Land, wo der Rassismus zwar nicht mehr in der Verfassung, aber immer noch in den Köpfen regiert? Oder ist das Land ein aufstrebender, hoffnungsvoller junger Staat, der sich zehn Jahre nach der Apartheid und nach der Arbeit der Wahrheitskommission anschickt, seine Vergangenheit zu überwinden? Anders gesagt: Ist das südafrikanische Thema Nummer eins, die enorm hohe Kriminalitätsrate, als Resultat der Geschichte zu verstehen, oder handelt es sich schlicht um Verbrechen, für die die Täter allein verantwortlich sind?
Der 1940 geborene, südafrikanische Schriftsteller J. M. Coetzee, noch nie ein Pamphletist und trotzdem der hartnäckigste afrikanische Fragensteller an den verschlungenen Frontlinien des Postkolonialismus, hat einen Roman geschrieben, der sich genau zwischen solche Stühle setzt. Wie kann man in Südafrika zusammenleben, fragt er mit solcher Wucht, dass es einem auch im guten, alten Europa den Atem verschlägt.
„Schande”, im Original 1999 veröffentlicht und mit dem Booker-Prize ausgezeichnet, bei uns soeben erschienen, ist Coetzees bestes Buch, ein zwar schmales, aber doch monumentales und erschütterndes Werk, das ganz für sich steht. Ein Buch, das zeigt, was Literatur sein kann: eine Sprache, die mehr zu sagen vermag als alle anderen. Sie werden dieses Buch nicht vergessen, denn Sie werden hier etwas erfahren, das Sie vorher nicht erfahren haben!
Inhaltlich geht es um Missbrauch und Vergewaltigung. Der 52-jährige David Lurie, Literaturprofessor in Kapstadt (wie sein Erfinder), hat etwas Abstoßendes, Kaltes – ein Lurch. Richtig rege scheint nur der Sexualtrieb, den er regelmäßig bei einer exotischen Prostituierten abkühlt. Als sie ihn meidet, drängt er einer hübschen Studentin ein Verhältnis auf, sie lässt es geschehen, zeigt ihn dann aber an. Der Mann und das Mädchen, der Präsident und die Praktikantin, der Vater und die Tochter – das alte Thema, das seit einigen Jahren als sexueller Missbrauch neue Brisanz bekommen hat. Der Text zum Thema war David Mamets „Oleanna”. Coetzee lässt ihn von Anfang an weit hinter sich.
Vor dem universitären Untersuchungsausschuss verweigert Lurie nicht das Schuldbekenntnis, aber die Reue. Daraufhin wird er entlassen und muss ohne Bezüge weiterleben. Er zieht sich zu seiner lesbischen, unattraktiven Tochter Lucy zurück, die allein und von Ackerbau und Hundepension auf dem Land lebt. Ihr Nachbar ist Petrus, ein schwarzer Bauer. Er weiß seine gerade errungene Unabhängigkeit geschickt zu festigen.
Drei Schwarze vergewaltigen Lucy, während sie Lurie im Klo eingesperrt haben, sie fackeln ihm außerdem die Haare ab und erschießen die Hunde. Das Geschehen ist eine Umkehrung des ersten Teils, jetzt ist Luries Tochter das Opfer. Das Ergebnis ist aber ähnlich: Während er in Schande lebt, ist sie geschändet. Der Jüngste der drei, fast noch ein Kind, erweist sich als ein Verwandter von Petrus. Lucy lebt also in ständiger Gefahr. Trotzdem will sie nicht fortgehen und auch niemanden anklagen. Sie glaubt den persönlichen Hass der Täter gespürt zu haben, deshalb hält sie die Vergewaltigung für eine private Angelegenheit: „Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte das als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Aber hier und heute nicht. Es ist meine Sache, ganz allein meine”, sagt sie. „Und dieser Ort wäre?”, fragt Lurie. „Dieser Ort ist Südafrika. ” Sind staatliche Institutionen für Kategorien wie Sühne tatsächlich nicht zuständig?
Lucy geht noch weiter: Sie unterstellt sich Petrus’ Schutz, nachdem sich herausstellt, dass sie schwanger geworden ist. Wie Lurie lebt Lucy (wenn auch schuldlos) jetzt also offiziell „in Schande”. Und sie rechtfertigt das. Die Vergewaltigung sieht sie als „den Preis, den man zahlen muss, um bleiben zu dürfen”. Lucy ist also bereit, das Verbrechen an ihr als Ergebnis der Geschichte ihres Landes zu begreifen.
Sie schickt sich in ein Leben „ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde”. „Wie ein Hund”, sagt Lurie. Er kämpft gegen diese Haltung und entfremdet sich darüber immer mehr von seiner Tochter, wobei auch unausgesprochene, sexuelle Komponenten der Beziehung eine Rolle spielen.
Aber auch Lurie erniedrigt sich. Der Liebhaber schöner Frauen findet eine Aufgabe im Einschläfern und Entsorgen herrenloser Hunde – er geht ihr mit fast religiöser Hingabe nach – und beginnt ein Verhältnis zur extrem unattraktiven Tierheimmutter. Doch hier bei den Hunden, in den Armen einer Frau, die er nicht begehrt, findet Lurie erstmals so etwas wie eine Antwort.
Soweit das Geschehen. Die bebende Wucht von „Schande” vermittelt sich über den Inhalt allerdings nur bedingt, die – auch politische – Bedeutung des Buches liegt auf einer anderen Ebene. Coetzee entfaltet seine Geschichte in einem einfachen, harten Idiom, das ist nackte, höchst reduzierte Prosa. Vor allem durch diese Sprache wirkt das Buch über weite Teile wie ein realistischer Roman aus einem Guss, der mit seltener Intensität sein Thema behandelt.
In früheren Romanen dagegen hat Coetzee durch postmoderne Schreibverfahren auf ein Dilemma reagiert, auf das er sich als Schriftsteller durch den Staat „gepfählt” sah: „entweder ignoriert er dessen Obszönitäten, oder er reproduziert sie”. Ist das nur die alte Gegenüberstellung von l’art pour l’art und literature engagée? Nein, denn eine Gesellschaft, die jenseits des Kolonialismus sein will, muss auch dessen Formensprache hinter sich lassen, so Coetzees Überzeugung. Die Aufsplitterung in verschiedene Metafiktionen gab für ihn in dieser Situation einerseits der Literatur ihre Eigenständigkeit, andererseits setzte er sich so von der westlichen, am Paradigma des Realismus entlangschreibenden Literatur ab. Auf diesem Weg hat Coetzee die autoritäre Position des Autors – und damit auch dessen Definitionsmacht über die Wirklichkeit, die umgekehrt immer den Reflex erzeugt, die Literatur an der Wirklichkeit zu messen – aufgegeben und ist damit einer der wichtigsten postkolonialen Romanciers geworden.
Nun aber schreibt er eine geradlinige Geschichte mit auktorialem Erzähler. Vereinfachung ist damit allerdings nur scheinbar verbunden. Denn Coetzee schafft das Kunststück, eine Geschichte einfach zu erzählen, ohne gegenüber früheren Romanen den Bedeutungsraum einzugrenzen. Und das macht den Rang seines Buches aus.
Ein einfaches Beispiel: „Vorsicht, es ist heiß”, sagt beim Abendessen die Mutter des von Lurie verführten Mädchens zu ihm. Sie meint den Teller mit Eintopf. Coetzee fährt fort: „Das sind ihre einzigen Worte an ihn. ” Damit ist nicht nur die Beziehung Luries zu der Mutter, sondern auch zu dem Mädchen definiert, der ganze Bedeutungsraum von heiß und kalt, in dem Lurie agiert, ist angesprochen.
Fast alles, was geschieht, wird in diesem Buch so zu Bruchstücken eines gigantischen Dramas, in dem alles seinen Sinn hat, den wir aber nicht kennen. Coetzee zeigt uns durch die Namen der Figuren, durch Zitate, die bis zu „König Ödipus” zurückreichen, durch Luries Plan einer Oper, durch Verdichtungen, Doppelsinn, vielfältige Anspielungen und Bezüge als Mitspieler in einer Tragödie, die seit den ersten Menschheitstagen aufgeführt wird und bis heute dauert. David Lurie verbrennt sich nicht die Finger an dem Teller, aber sein Kopf geht in Flammen auf.
Coetzee erforscht Beziehungsgesetze, die weiter zurückreichen, als wir uns träumen lassen. Der Missbrauch, die Vergewaltigung, aber auch das Verhältnis von Vater und Tochter, sind für ihn nur Extremfälle, die deutlich machen, wie wir uns verhalten. Coetzee erforscht die Gesetze von Täter und Opfer mit einer Insistenz, die an Dostojewski erinnert (über den er einen Roman geschrieben hat).
Er führt dabei nur scheinbar überkommene Kategorien wie Scham, Reue, Schuld, Sühne und eben die „Schande”, die seinem Buch den Titel gegeben hat, in den Raum der politischen Diskussion zurück. Was schändet uns, wen schänden wir? Lucy ist der Überzeugung, dass eine säkulare Gerichtsbarkeit nicht für Reue zuständig sein kann. Will Coetzee aber gerade das erreichen? Will man aus „Schande” einen Zukunftsentwurf herauslesen, dann diesen: Nur wer sich auf die Ebene von Schande und Reue, Schuld und Sühne begibt, gibt dem Zusammenleben eine Chance. Wahrscheinlicher aber ist er der Meinung, dass wir für immer aus dem Paradies ausgeschlossen sind.
Hunde sind die heimlichen Helden des Buches. Lurie kommt nicht nur, wie seine Tochter, auf den Hund, er nähert sich den Hunden auch als deren Sterbehelfer an, fast wird er am Ende einer von ihnen. „Wie ein Hund”, fragt Lurie seine Tochter. „Ja”, sagt sie, „wie ein Hund. ” Zu Anfang hatte Lurie ihr von einem Golden Retriever erzählt, der immer dann geschlagen wurde, wenn er sexuell erregt war. „Das Schändliche an dem Schauspiel war, dass der Hund anfing, seine Natur zu hassen. An diesem Punkt wäre es besser gewesen, ihn zu erschießen. ” Die neue Welt erfordert den Tod der alten, könnte man das übersetzen. „Schande” ist ein Alterswerk, weise und souverän, aber auch voller Angst vor Einsamkeit und Sterben.
PETER MICHALZIK
J. M. COETZEE: Schande. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000. 288 S. , 38 Mark. (Erscheint am 21. 2. )
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