Im Gedenkjahr an die Wende(n) des Jahres 1989: die geistigen Vorarbeiter, dissidentischen Denker und Wortführer der Kritik an den Regimen und Ideologien Marko Martins essayistisch-erzählerische Spurensuche nimmt uns mit auf eine europäische (mitunter auch außereuropäische) Reise zu Orten, zu Büchern und vor allem zu Menschen, deren Denken uns gegen die Erinnerungslosigkeit helfen kann: Die meisten sind Überlebende einer Zeit, die wir bereits hinter uns glaubten und die totalitär oder nationalistisch gerade heute wieder beunruhigende Schatten wirft. Die Autoren, die Marko Martin trifft oder erinnert, mit denen er spricht oder die er porträtiert, mehr oder weniger berühmt oder vergessen, und deren Schicksale eigentümlich miteinander verflochten sind, haben uns allen etwas voraus: die existenzielle Erfahrung geschichtlicher Brüche, die das Individuum bedrohen. Es sind dissidentische Jahrhundertzeugen in Ost und West. 2019, im Jahr des Erinnerns an die Epochenzäsur von 1989, ist es sinnvoll, uns zu vergegenwärtigen, dass diese Umwälzungen eine Vorgeschichte haben, die die Geschichte erst zu einer ganzen Geschichte werden lässt. Czeslaw Milosz, aus Polen geflüchtet, wird zum Freund von Albert Camus, Max Brod rettet sich aus Prag nach Tel Aviv, wo er Edgar Hilsenrath erste literarische Impulse gibt, Jean Améry traf in Auschwitz auf Primo Levi. Vom Charta-77-Mitbegründer Jan Patocka führt eine Spur zu Meisterdenker André Glucksmann in Paris, vom Brecht-Schüler Horst Bienek zum Romancier und Menschenkenner Julien Green. In Prag trifft Marko Martin den 68er-Romancier Pavel Kohout, der sich wieder illusionslos gegen die autoritäre Politik engagiert. Aus Besuchen, Reisen und Porträts entsteht ein dichtes geistiges Gewebe, in dem neben anderen Václav Havel und Milan Kundera, André Gorz oder Josef Skovrecky, Ahron Appelfeld oder Jürgen Fuchs in der DDR mitwirken.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2019Unbestechliche Beobachter
Marko Martin porträtiert europäische Dissidenten
Vielleicht ist es nur ein Glück, wahrscheinlich aber entscheidend, wenn man wie Marko Martin schon als Kind entdeckt, warum "verbotene Bücher" die Wahrheit enthalten und es besser ist, sich an sie zu halten, auch wenn es nicht gerade karrierefördernd sein wird. Vorerst zumindest. Er habe damals zwar nicht immer begriffen, schreibt Martin, was er zu Hause hörte oder zu lesen versuchte. Aber es hat seinen Lebenslauf geprägt. Er konnte deshalb nicht vom Kommunismus enttäuscht werden, niemand im Hause - schon die Urgroßeltern verstanden sich als Anarchosyndikalisten - glaubte etwa an Lenin als Heilsbringer, im Gegenteil.
Und so war Martins frühe Ausreise aus der DDR folgerichtig. Das Ungewöhnliche seiner Ankunft im Westen: die sofort beginnende Suche nach jenen, deren verbotene Bücher er gelesen hatte, deren "dissidentisches Denken" er seit jeher bewunderte. Jahrhundertzeugen sind darunter, die vor 1989 im Westen nicht selten ignoriert wurden, während ihre Kritik am Menschenexperiment im Osten Europas als "Feindbildproduktion Kalter Krieger" denunziert wurde, so Martin. Sie hätten, anders als zum Beispiel die Friedensbewegung und viele Politiker, in der von Stalin "durchgedrückten Nachkriegsordnung" eben keinen Garanten für Stabilität gesehen, sondern Regimes, die "mit spätstalinistischer Rigidität über wirtschaftlich marode Staaten herrschten und neurotisch geduckte Gesellschaften zu verantworten hatten".
Das vorliegende Buch porträtiert diese Einsamen, die Toten und die Lebenden, die zeitlebens aufbegehrt hatten gegen Vergessen und Unterwerfung und darum nicht aus persönlicher Enttäuschung darüber schrieben, wie totalitäre Machtstrukturen wirken, welche Verheerungen sie anrichten und wie hoch der Preis ist, wenn man sich die Freiheit im Denken trotz Repression - in friedlichen Zeiten gegen den Mainstream - bewahrt.
Es ist eine ungewöhnliche Reise zu Dissidenten des zwanzigsten Jahrhunderts, keinem Berühmtheitsranking folgend, sondern Martins Neugier und Bewunderung für Eigensinn und großartige Literatur. Es wird ein feines Netz sichtbar, das die zu unterschiedlichsten Zeiten Geborenen verband. Es verknüpft den Osten mit dem Westen, die Überlebenden der NS-Zeit mit den Dissidenten der DDR und Osteuropas in der Nachkriegszeit. Trotz fundamentaler Unterschiede der Regimes, so Martin, habe es bei den Dissidenten immer "ein feines Sensorium gegenseitigen Verständnisses gegeben. Es war die Erfahrung des Bruchs ..." Das sofortige Begreifen, was der Hitler-Stalin-Pakt tatsächlich bedeutete, die frühen und die späteren Schauprozesse gegen Kommunisten, die sowjetischen Panzer in Budapest oder Prag oder die "Charta 77" und "Solidarnosc". Immer existierte so etwas wie "die Solidarität der Erschütterten" (Jan Patocka) bei gleichzeitiger Unterwerfung vieler Intellektueller unter das Diktat eigener Verblendung. So lernt der Leser den Wert der Vernunft und der Skepsis kennen, von Arthur Koestler, Manès Sperber, Hans Sahl, Melvin J. Lasky bis Jürgen Fuchs, Horst Bienek, Czeslaw Milosz, Aharon Appelfeld, Pavel Kohout und anderen.
Marko Martin hat viele noch selbst besucht; nicht immer halten seine liebenswerten, zuweilen mit allzu vielen Adjektiven angereicherten Beschreibungen der Personen mit seinen scharfsichtigen Analysen ihres Denkens die Balance, aber das sollte nicht stören. Diese Porträts europäischer Dissidenten fügen sich zu einem anderen Bild des zwanzigsten Jahrhunderts, als es mit schnell angebrachten Hinweisen auf die Schrecken der Kriege und Massenmorde gegeben wird: Hier wird das Jahrhundert der mutigen, hellsichtigen Zweifler, der Andersdenkenden und unbestechlichen Beobachter ihrer Zeit vorgestellt. Der Autor räumt mit hartnäckigen Vorurteilen gegen jene auf, die nicht einfach mal so vom Glauben abfielen und auch nicht, wie oft behauptet, "sprunghaft" im Geiste waren, sondern die Grenze der Zumutungen vermeintlich gut gemeinter Utopien dort zogen, wo dafür Humanismus und Freiheit geopfert wurden.
REGINA MÖNCH
Marko Martin:
"Dissidentisches Denken". Reisen zu den Zeugen
eines Zeitalters.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 540 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marko Martin porträtiert europäische Dissidenten
Vielleicht ist es nur ein Glück, wahrscheinlich aber entscheidend, wenn man wie Marko Martin schon als Kind entdeckt, warum "verbotene Bücher" die Wahrheit enthalten und es besser ist, sich an sie zu halten, auch wenn es nicht gerade karrierefördernd sein wird. Vorerst zumindest. Er habe damals zwar nicht immer begriffen, schreibt Martin, was er zu Hause hörte oder zu lesen versuchte. Aber es hat seinen Lebenslauf geprägt. Er konnte deshalb nicht vom Kommunismus enttäuscht werden, niemand im Hause - schon die Urgroßeltern verstanden sich als Anarchosyndikalisten - glaubte etwa an Lenin als Heilsbringer, im Gegenteil.
Und so war Martins frühe Ausreise aus der DDR folgerichtig. Das Ungewöhnliche seiner Ankunft im Westen: die sofort beginnende Suche nach jenen, deren verbotene Bücher er gelesen hatte, deren "dissidentisches Denken" er seit jeher bewunderte. Jahrhundertzeugen sind darunter, die vor 1989 im Westen nicht selten ignoriert wurden, während ihre Kritik am Menschenexperiment im Osten Europas als "Feindbildproduktion Kalter Krieger" denunziert wurde, so Martin. Sie hätten, anders als zum Beispiel die Friedensbewegung und viele Politiker, in der von Stalin "durchgedrückten Nachkriegsordnung" eben keinen Garanten für Stabilität gesehen, sondern Regimes, die "mit spätstalinistischer Rigidität über wirtschaftlich marode Staaten herrschten und neurotisch geduckte Gesellschaften zu verantworten hatten".
Das vorliegende Buch porträtiert diese Einsamen, die Toten und die Lebenden, die zeitlebens aufbegehrt hatten gegen Vergessen und Unterwerfung und darum nicht aus persönlicher Enttäuschung darüber schrieben, wie totalitäre Machtstrukturen wirken, welche Verheerungen sie anrichten und wie hoch der Preis ist, wenn man sich die Freiheit im Denken trotz Repression - in friedlichen Zeiten gegen den Mainstream - bewahrt.
Es ist eine ungewöhnliche Reise zu Dissidenten des zwanzigsten Jahrhunderts, keinem Berühmtheitsranking folgend, sondern Martins Neugier und Bewunderung für Eigensinn und großartige Literatur. Es wird ein feines Netz sichtbar, das die zu unterschiedlichsten Zeiten Geborenen verband. Es verknüpft den Osten mit dem Westen, die Überlebenden der NS-Zeit mit den Dissidenten der DDR und Osteuropas in der Nachkriegszeit. Trotz fundamentaler Unterschiede der Regimes, so Martin, habe es bei den Dissidenten immer "ein feines Sensorium gegenseitigen Verständnisses gegeben. Es war die Erfahrung des Bruchs ..." Das sofortige Begreifen, was der Hitler-Stalin-Pakt tatsächlich bedeutete, die frühen und die späteren Schauprozesse gegen Kommunisten, die sowjetischen Panzer in Budapest oder Prag oder die "Charta 77" und "Solidarnosc". Immer existierte so etwas wie "die Solidarität der Erschütterten" (Jan Patocka) bei gleichzeitiger Unterwerfung vieler Intellektueller unter das Diktat eigener Verblendung. So lernt der Leser den Wert der Vernunft und der Skepsis kennen, von Arthur Koestler, Manès Sperber, Hans Sahl, Melvin J. Lasky bis Jürgen Fuchs, Horst Bienek, Czeslaw Milosz, Aharon Appelfeld, Pavel Kohout und anderen.
Marko Martin hat viele noch selbst besucht; nicht immer halten seine liebenswerten, zuweilen mit allzu vielen Adjektiven angereicherten Beschreibungen der Personen mit seinen scharfsichtigen Analysen ihres Denkens die Balance, aber das sollte nicht stören. Diese Porträts europäischer Dissidenten fügen sich zu einem anderen Bild des zwanzigsten Jahrhunderts, als es mit schnell angebrachten Hinweisen auf die Schrecken der Kriege und Massenmorde gegeben wird: Hier wird das Jahrhundert der mutigen, hellsichtigen Zweifler, der Andersdenkenden und unbestechlichen Beobachter ihrer Zeit vorgestellt. Der Autor räumt mit hartnäckigen Vorurteilen gegen jene auf, die nicht einfach mal so vom Glauben abfielen und auch nicht, wie oft behauptet, "sprunghaft" im Geiste waren, sondern die Grenze der Zumutungen vermeintlich gut gemeinter Utopien dort zogen, wo dafür Humanismus und Freiheit geopfert wurden.
REGINA MÖNCH
Marko Martin:
"Dissidentisches Denken". Reisen zu den Zeugen
eines Zeitalters.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 540 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.10.2019Die Einsicht, nicht
länger mitzumachen
Marko Martin porträtiert europäische Dissidenten
Das zwanzigste Jahrhundert war vom Kampf zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Freiheit und Unfreiheit geprägt. „1989“ stand einige Jahre als Chiffre für die zuversichtliche Annahme, dieser Kampf sei entschieden zugunsten von Demokratie und Freiheit. Immer mehr Staaten schlugen sich auf die freiheitlich-demokratische Seite der Welt. Dieser Trend ist längst gestoppt. Auch wenn der polnische Widerstandsaktivist Dawid Warszawski lakonisch meinte, wer das Jahr 1989 erlebt habe, besitze nicht das moralische Recht, Pessimist zu sein, hat sich Pessimismus längst auch unter jenen breitgemacht, die 1989 zu den Akteuren zählten, die eine als unerschütterlich gehaltene Diktatur im Osten abschüttelten. In diesen Zeiten, da Demokratie und Freiheit weltweit als fragil und bedroht gelten, ist ein Rückblick auf jene, die in der Unfreiheit für Freiheit mit dem Wort, also der Tat eintraten, umso erbaulicher für unsere mögliche Zukunft.
„Dissidentisches Denken“, wie Marko Martin sein beeindruckendes, bedrückendes und beglückendes Buch nennt, ist die bewusste Abweichung vom herrschenden Dogma. Dissidenz ist kein Lebens- oder gar Lustprinzip, sondern die in der Not geborene Einsicht, nicht mehr mitzumachen, die Humanität auch dort zu verteidigen, wo Stacheldraht, Bajonette und Karabiner die Regierenden stützen und schützen. Dissidenten stellen etwas Besonderes dar, weil sie der menschlichen Norm als Abweichung von der Normalität ihrer Gegenwart zur Geltung verhelfen wollen. Sie weichen von der herrschenden Linie ab, weil sie die Herrschenden als Abweichler von der Humanität kennzeichnen und ihnen nicht durchgehen lassen wollen, woran sich die Mehrheit unter Druck angepasst hat.
Marko Martin reiste im Mai 1989 aus der DDR, gerade neunzehnjährig, aus. Er flüchtete aus der verhassten Diktatur, suchte die Freiheit und ließ sich seither von vollen Schaufenstern und Hochglanzkatalogen jenes Systems, das Freiheit institutionell zu schützen sucht, auch nicht beirren: Freiheit ist ein Lebensprojekt, kein Ding, das sich, hat man es einmal, irgendwie festhalten ließe. Sie ist immer und überall bedroht und muss daher immer und überall verteidigt werden, individuell wie gesellschaftlich. Der junge Mann studierte Geschichte, Politik und Germanistik, um besser zu begreifen, worum es geht in Sachen Freiheit. Und er lernte Sprache um Sprache, um vor Ort genau verstehen, um genau hinhören zu können. Martin schrieb Romane, Essays, Erzählungen, Reportagen, wissenschaftliche Studien.
In all seinen Büchern und Aufsätzen wird immer wieder deutlich, wie sehr er sich bewusst ist, auf den Schultern anderer zu stehen, zu hocken, zu springen. Diese Bescheidenheit macht seine Bücher groß. Marko Martin ist eigentlich nicht bescheiden, ihm geht es immer ums Ganze. Freiheit ist kein Verhandlungsgegenstand, nichts, was man abwägen, nichts was man teilen könnte, nichts, was sich bescheiden teilen ließe.
Sein neuestes Buch „Dissidentisches Denken“ trägt dem Rechnung. Es steht thematisch in einer Reihe mit Meisterwerken wie Karl Raimund Poppers „Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945), André Glucksmanns „Die Meisterdenker“ (1977), Ralf Dahrendorfs „Versuchungen der Unfreiheit“ (2006) oder Tony Judts „Das vergessene 20. Jahrhundert“ (2010). Es geht um Intellektuelle, die Sein und Bewusstsein gleichermaßen prägten. Die einen, wie bei Popper und Glucksmann, als Vordenker des Totalitären, die anderen, wie bei Dahrendorf, Judt oder nun eben auch Martin, als Kämpfer gegen das Totalitäre, das Unfreie.
Der Untertitel von Martins Buch „Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“ ist wörtlich zu nehmen. In 22 biografischen Reportagen stellt Martin 23 europäische Dissidenten vor. Niemand starb in dem Land, in dem der Geburtsort lag. Sie alle waren Exilierte, außer Landes gezwungene, Abweichler, Verfolgte, aber keine Unterdrückten, weil sie Kraft und Mut besaßen. Sie konnten davon künden, was geschah, weil sie das Glück hatten, zu überleben.
Marko Martin reist viel und so reist er nicht nur zu den Büchern, sondern oft auch zu ihren Autoren. Er macht sich auf den Weg zu Berühmtheiten wie Manès Sperber, Arthur Koestler oder Czesław Miłosz, von denen er nur noch Werk und Wirkung nachspüren konnte, weil sie bereits verstorben waren. Die Auswahl seiner Porträts aber ist maßgeblich davon geprägt, wen Martin persönlich traf. Der Jüngste unter ihnen war der 1999 in Berlin verstorbene, nicht einmal fünfzig Jahre alt gewordene Jürgen Fuchs. Die älteste war Mariana Frenk-Westheim, die im Jahr 2004 fast 106-jährig in Mexiko-Stadt verstarb.
Die Liste der Abweichler und Verfolgten ist beeindruckend. Und sie ergibt sich fast wie von selbst. Hans Sahl, einer der Gesprächspartner Martins, steht dafür exemplarisch. Verfolgt und von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen, bleibt er auch dort am Rande stehend, bleibt auch im Exil ein Abweichler von der Exilnorm etwa eines Bertolt Brecht. Das eigene Schicksal wird zur Blaupause einer Wahrnehmung, die immer die anderen Dissidenten, die anderen Verfemten, die anderen am Rand stehenden Zentralfiguren kenntlich macht. So kommen von jedem Besuch viele neue Impulse für weitere, es spinnt sich ein Netz, ein Netzwerk, das so nie existierte, aber wirkmächtig war und noch immer ist. Nicht zuletzt durch dieses Buch.
Die Essays stehen nicht zufällig nebeneinander, sondern ergeben sich auseinander. Marko Martins Reise zu den Autoren, Widerständlern, Humanisten ist eine Reise in das Europa des 20. Jahrhunderts, dorthin, wo es um Sein oder Nichtsein, um Leben und Tod, um Freiheit und Unfreiheit geht. Allen ist als aufgezwungene Lebensfrage gemeinsam, Freiheit in der Unfreiheit, Demokratie in der Diktatur behaupten zu müssen, ja, und hier beginnt der Unterschied zu vielen anderen, auch behaupten zu wollen. Uns treten in Martins Miniaturen keine Helden gegenüber, nur Menschen, aber nicht Menschen von Nebenan, sondern von Gegenüber. Sie stehen dort exemplarisch, auch für jene beispielhaft, die bei Marko Martin nicht mit einem eigenen Porträt bedacht werden, obwohl sie im Buch dauerpräsent sind: Wolf Biermann, Václav Havel, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam, Joseph Brodsky, Gustaw Herling, Adam Michnik, Leszek Kołakowski oder Karl Raimund Popper.
Die Wucht des Buches liegt in seiner Schnörkellosigkeit: Martins „Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“ kreisen immer und immer wieder um die Frage, wie wir als Einzelne den Zumutungen und Anmaßungen der Unfreiheit entfliehen, wie wir uns wehren, wie wir uns selbst behaupten können. Es ist ein ewiger Kampf gegen die Macht und gegen die Macht des Vergessens. Nur wer sich erinnert, so Martins Credo, hat eine Chance, nicht zu unterliegen.
Die Mächtigen, zumal die gegen Freiheit Ankämpfenden, ziehen immer und sofort gegen das Gedächtnis, gegen die Erinnerung zu Felde. Das Buch über dissidentisches Denken und Leben zeugt davon, wie lohnend der Kampf gegen das Vergessen ist. Freya Klier – auch sie ist in diesem Buch dauernd präsent – verteidigt schon seit Jahrzehnten das elfte Gebot: Du sollst Dich erinnern!
Wenn wir heute in die Welt schauen, sehen wir in Nord wie Süd, Ost wie West vor allem Geschichtsvergessenheit. Nicht aus Trauer, Scham oder Achtlosigkeit, nein, bewusste Versessenheit für allgemeine Vergessenheit. Nur so lässt sich das Zurückdrehen, das Zurückgehen, das Zurückweichen vor dem, was wir Freiheit nennen, erreichen. Und Tag für Tag lässt sich beobachten, wie erfolgreich die Geschichtsvergessenen sind.
Da hilft ein Buchdenkmal wie dieses. Die Männer und Frauen, die Dissidenten, die Abweichler verteidigten unsere Freiheit in ihrer Unfreiheit. Sie überlebten als Ausnahmen, während die meisten ihrer Mitkämpfenden nicht überlebten. Sie vor dem Vergessen zu bewahren, so wie es Marko Martin glanzvoll tut, ist ein großer Schritt, um Freiheit zu verteidigen. Wer dieses Buch gelesen und verstanden hat, der hat kein moralisches Recht mehr, pessimistisch zu sein.
ILKO-SASCHA KOWALCZUK
Mariana Frenk-Westheim (1898 - 2004) emigrierte nach Mexiko, Jürgen Fuchs (1950- 1999) wurde zur Ausreise aus der DDR gezwungen.
Foto: picture-alliance / dpa
Marko Martin: Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 541 Seiten, 42 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Marko Martin porträtiert europäische Dissidenten
Das zwanzigste Jahrhundert war vom Kampf zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Freiheit und Unfreiheit geprägt. „1989“ stand einige Jahre als Chiffre für die zuversichtliche Annahme, dieser Kampf sei entschieden zugunsten von Demokratie und Freiheit. Immer mehr Staaten schlugen sich auf die freiheitlich-demokratische Seite der Welt. Dieser Trend ist längst gestoppt. Auch wenn der polnische Widerstandsaktivist Dawid Warszawski lakonisch meinte, wer das Jahr 1989 erlebt habe, besitze nicht das moralische Recht, Pessimist zu sein, hat sich Pessimismus längst auch unter jenen breitgemacht, die 1989 zu den Akteuren zählten, die eine als unerschütterlich gehaltene Diktatur im Osten abschüttelten. In diesen Zeiten, da Demokratie und Freiheit weltweit als fragil und bedroht gelten, ist ein Rückblick auf jene, die in der Unfreiheit für Freiheit mit dem Wort, also der Tat eintraten, umso erbaulicher für unsere mögliche Zukunft.
„Dissidentisches Denken“, wie Marko Martin sein beeindruckendes, bedrückendes und beglückendes Buch nennt, ist die bewusste Abweichung vom herrschenden Dogma. Dissidenz ist kein Lebens- oder gar Lustprinzip, sondern die in der Not geborene Einsicht, nicht mehr mitzumachen, die Humanität auch dort zu verteidigen, wo Stacheldraht, Bajonette und Karabiner die Regierenden stützen und schützen. Dissidenten stellen etwas Besonderes dar, weil sie der menschlichen Norm als Abweichung von der Normalität ihrer Gegenwart zur Geltung verhelfen wollen. Sie weichen von der herrschenden Linie ab, weil sie die Herrschenden als Abweichler von der Humanität kennzeichnen und ihnen nicht durchgehen lassen wollen, woran sich die Mehrheit unter Druck angepasst hat.
Marko Martin reiste im Mai 1989 aus der DDR, gerade neunzehnjährig, aus. Er flüchtete aus der verhassten Diktatur, suchte die Freiheit und ließ sich seither von vollen Schaufenstern und Hochglanzkatalogen jenes Systems, das Freiheit institutionell zu schützen sucht, auch nicht beirren: Freiheit ist ein Lebensprojekt, kein Ding, das sich, hat man es einmal, irgendwie festhalten ließe. Sie ist immer und überall bedroht und muss daher immer und überall verteidigt werden, individuell wie gesellschaftlich. Der junge Mann studierte Geschichte, Politik und Germanistik, um besser zu begreifen, worum es geht in Sachen Freiheit. Und er lernte Sprache um Sprache, um vor Ort genau verstehen, um genau hinhören zu können. Martin schrieb Romane, Essays, Erzählungen, Reportagen, wissenschaftliche Studien.
In all seinen Büchern und Aufsätzen wird immer wieder deutlich, wie sehr er sich bewusst ist, auf den Schultern anderer zu stehen, zu hocken, zu springen. Diese Bescheidenheit macht seine Bücher groß. Marko Martin ist eigentlich nicht bescheiden, ihm geht es immer ums Ganze. Freiheit ist kein Verhandlungsgegenstand, nichts, was man abwägen, nichts was man teilen könnte, nichts, was sich bescheiden teilen ließe.
Sein neuestes Buch „Dissidentisches Denken“ trägt dem Rechnung. Es steht thematisch in einer Reihe mit Meisterwerken wie Karl Raimund Poppers „Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945), André Glucksmanns „Die Meisterdenker“ (1977), Ralf Dahrendorfs „Versuchungen der Unfreiheit“ (2006) oder Tony Judts „Das vergessene 20. Jahrhundert“ (2010). Es geht um Intellektuelle, die Sein und Bewusstsein gleichermaßen prägten. Die einen, wie bei Popper und Glucksmann, als Vordenker des Totalitären, die anderen, wie bei Dahrendorf, Judt oder nun eben auch Martin, als Kämpfer gegen das Totalitäre, das Unfreie.
Der Untertitel von Martins Buch „Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“ ist wörtlich zu nehmen. In 22 biografischen Reportagen stellt Martin 23 europäische Dissidenten vor. Niemand starb in dem Land, in dem der Geburtsort lag. Sie alle waren Exilierte, außer Landes gezwungene, Abweichler, Verfolgte, aber keine Unterdrückten, weil sie Kraft und Mut besaßen. Sie konnten davon künden, was geschah, weil sie das Glück hatten, zu überleben.
Marko Martin reist viel und so reist er nicht nur zu den Büchern, sondern oft auch zu ihren Autoren. Er macht sich auf den Weg zu Berühmtheiten wie Manès Sperber, Arthur Koestler oder Czesław Miłosz, von denen er nur noch Werk und Wirkung nachspüren konnte, weil sie bereits verstorben waren. Die Auswahl seiner Porträts aber ist maßgeblich davon geprägt, wen Martin persönlich traf. Der Jüngste unter ihnen war der 1999 in Berlin verstorbene, nicht einmal fünfzig Jahre alt gewordene Jürgen Fuchs. Die älteste war Mariana Frenk-Westheim, die im Jahr 2004 fast 106-jährig in Mexiko-Stadt verstarb.
Die Liste der Abweichler und Verfolgten ist beeindruckend. Und sie ergibt sich fast wie von selbst. Hans Sahl, einer der Gesprächspartner Martins, steht dafür exemplarisch. Verfolgt und von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen, bleibt er auch dort am Rande stehend, bleibt auch im Exil ein Abweichler von der Exilnorm etwa eines Bertolt Brecht. Das eigene Schicksal wird zur Blaupause einer Wahrnehmung, die immer die anderen Dissidenten, die anderen Verfemten, die anderen am Rand stehenden Zentralfiguren kenntlich macht. So kommen von jedem Besuch viele neue Impulse für weitere, es spinnt sich ein Netz, ein Netzwerk, das so nie existierte, aber wirkmächtig war und noch immer ist. Nicht zuletzt durch dieses Buch.
Die Essays stehen nicht zufällig nebeneinander, sondern ergeben sich auseinander. Marko Martins Reise zu den Autoren, Widerständlern, Humanisten ist eine Reise in das Europa des 20. Jahrhunderts, dorthin, wo es um Sein oder Nichtsein, um Leben und Tod, um Freiheit und Unfreiheit geht. Allen ist als aufgezwungene Lebensfrage gemeinsam, Freiheit in der Unfreiheit, Demokratie in der Diktatur behaupten zu müssen, ja, und hier beginnt der Unterschied zu vielen anderen, auch behaupten zu wollen. Uns treten in Martins Miniaturen keine Helden gegenüber, nur Menschen, aber nicht Menschen von Nebenan, sondern von Gegenüber. Sie stehen dort exemplarisch, auch für jene beispielhaft, die bei Marko Martin nicht mit einem eigenen Porträt bedacht werden, obwohl sie im Buch dauerpräsent sind: Wolf Biermann, Václav Havel, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam, Joseph Brodsky, Gustaw Herling, Adam Michnik, Leszek Kołakowski oder Karl Raimund Popper.
Die Wucht des Buches liegt in seiner Schnörkellosigkeit: Martins „Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“ kreisen immer und immer wieder um die Frage, wie wir als Einzelne den Zumutungen und Anmaßungen der Unfreiheit entfliehen, wie wir uns wehren, wie wir uns selbst behaupten können. Es ist ein ewiger Kampf gegen die Macht und gegen die Macht des Vergessens. Nur wer sich erinnert, so Martins Credo, hat eine Chance, nicht zu unterliegen.
Die Mächtigen, zumal die gegen Freiheit Ankämpfenden, ziehen immer und sofort gegen das Gedächtnis, gegen die Erinnerung zu Felde. Das Buch über dissidentisches Denken und Leben zeugt davon, wie lohnend der Kampf gegen das Vergessen ist. Freya Klier – auch sie ist in diesem Buch dauernd präsent – verteidigt schon seit Jahrzehnten das elfte Gebot: Du sollst Dich erinnern!
Wenn wir heute in die Welt schauen, sehen wir in Nord wie Süd, Ost wie West vor allem Geschichtsvergessenheit. Nicht aus Trauer, Scham oder Achtlosigkeit, nein, bewusste Versessenheit für allgemeine Vergessenheit. Nur so lässt sich das Zurückdrehen, das Zurückgehen, das Zurückweichen vor dem, was wir Freiheit nennen, erreichen. Und Tag für Tag lässt sich beobachten, wie erfolgreich die Geschichtsvergessenen sind.
Da hilft ein Buchdenkmal wie dieses. Die Männer und Frauen, die Dissidenten, die Abweichler verteidigten unsere Freiheit in ihrer Unfreiheit. Sie überlebten als Ausnahmen, während die meisten ihrer Mitkämpfenden nicht überlebten. Sie vor dem Vergessen zu bewahren, so wie es Marko Martin glanzvoll tut, ist ein großer Schritt, um Freiheit zu verteidigen. Wer dieses Buch gelesen und verstanden hat, der hat kein moralisches Recht mehr, pessimistisch zu sein.
ILKO-SASCHA KOWALCZUK
Mariana Frenk-Westheim (1898 - 2004) emigrierte nach Mexiko, Jürgen Fuchs (1950- 1999) wurde zur Ausreise aus der DDR gezwungen.
Foto: picture-alliance / dpa
Marko Martin: Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 541 Seiten, 42 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ilko-Sascha Kowalczuk gefällt das "Buchdenkmal", das Marko Martin den großen Dissidenten von Jürgen Fuchs, Manes Sperber oder Mariana Frenk-Westheim widmet, Menschen, die der Autor zum Teil persönlich traf. Beeindruckend und beglückend findet Kowalczuk diese sich aus sich selbst ergebene Ahnenreihe in biografischen Reportagen nicht zuletzt deshalb, weil sie keine Heldengalerie darstellt, sondern die Begegnung mit Menschen im Kampf gegen das Totalitäre und für Freiheit. Das Besondere daran: Präsent sind für ihn beim Lesen immer auch diejenigen von ihnen, die im Buch nicht vorkommen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Die Wucht des Buches liegt in seiner Schnörkellosigkeit: Martins "Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters" kreisen immer und immer wieder um die Frage, wie wir als Einzelne den Zumutungen und Anmaßungen der Unfreiheit entfliehen, wie wir uns wehren, wie wir uns selbst behaupten können. Es ist ein ewiger Kampf gegen die Macht und gegen die Macht des Vergessens. Nur wer sich erinnert, so Martins Credo, hat eine Chance, nicht zu unterliegen.(...) Tag für Tag lässt sich beobachten, wie erfolgreich die Geschichtsvergessenen sind. Da hilft ein Buchdenkmal wie dieses. Die Männer und Frauen, die Dissidenten, die Abweichler verteidigten unsere Freiheit in ihrer Unfreiheit. Sie überlebten als Ausnahmen, während die meisten ihrer Mitkämpfenden nicht überlebten. Sie vor dem Vergessen zu bewahren, so wie es Marko Martin glanzvoll tut, ist ein großer Schritt, um Freiheit zu verteidigen. Wer dieses Buch gelesen und verstanden hat, der hat kein moralisches Recht mehr, pessimistisch zu sein." Süddeutsche Zeitung 20191028