Wer über Weltliteratur sprechen und globale Literaturgeschichte ernst nehmen will, kommt längst um Franco Moretti nicht mehr herum. Die mit seinem Namen verbundenen quantitativen und empirischen Verfahren versprechen nicht nur, die Beschränkungen individueller Lektürehorizonte zu überschreiten, sondern auch den eurozentrischen Zugang zur Literatur endgültig zu verabschieden. Die Schlüsseltexte seines Programms liegen nun auch in deutscher Sprache vor.Franco Moretti hat sich mit dem Schlagwort des distant reading weltweit einen Namen gemacht als Vorreiter einer quantitativen und statistischen Erforschung von Literatur. Dabei werden im Gegensatz zum herkömmlichen close reading, das wenige Texte detailliert und unter qualitativen Gesichtspunkten betrachtet, riesige Textmengen herangezogen. Insbesondere in den Digital Humanities erwartet man sich durch diese Methode neue Erkenntnisse. Überdies bleibt die herkömmliche Literaturwissenschaft nicht nur an die individuelle Leseleistung, sondern auch an die begrenzten Sprachkenntnisse einzelner Forscher gebunden. Für Moretti ist es an der Zeit, analog etwa zur Globalgeschichte auch zu einer Weltliteraturforschung vorzudringen, die er unter Zuhilfenahme von big data-Verfahren plausibel macht. Morettis Vorschläge werden kontrovers diskutiert - nicht zuletzt von ihm selbst. Es bleibt offen, ob sich durch quantitative Analysen tatsächlich nichttriviale und interpretationsrelevante Befunde erheben lassen und inwiefern damit der Einzigartigkeit von Kunstwerken Gewalt angetan wird. Es macht aber die besondere Qualität Morettis aus, dass er eine entsprechende Skepsis artikuliert und seine Forschungen eher experimentell als dogmatisch betreibt. Das hier vorgelegte Buch gibt dazu reiches Anschauungsmaterial. Ein weiterer Band mit Pamphleten des von ihm geleiteten Stanford Literary Lab wird ebenfalls bald bei Konstanz University Press erscheinen.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungDer Gewinner der Digitalisierung
"Distant Reading" von Franco Moretti ist das interessanteste literaturtheoretische Buch, das seit vielen Jahren erschienen ist
In der Literaturwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte ist der Abstand zwischen Leser und Text immer wieder als zentrale Kategorie betrachtet worden. Der Begriff des "close reading", im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an amerikanischen Universitäten aufgekommen und dann in den dekonstruktivistischen Lektüren Derridas und seiner Schüler angewandt, hat diesen Abstand immer mehr verringert. Einzelne Romane oder Erzählungen wurden mit einer Konzentration und Sorgfalt auf ihre sprachlichen Eigenheiten und erzählerischen Strategien hin untersucht, dass der Umfang der Abhandlungen die Länge der interpretierten Texte manchmal um ein Vielfaches überstieg. Je näher das Verhältnis zum Text, so die unhintergehbare Voraussetzung dieser Lehre, desto größer die Erkenntnis.
Vor diesem Hintergrund ist ein Buch namens "Distant Reading" als Provokation einer ganzen Disziplin zu verstehen, und die ungeheure Aufmerksamkeit, die diese 2013 in Amerika erschienene und bereits in knapp zwanzig Sprachen übersetzte Essaysammlung von Franco Moretti gerade erhält, ist vielleicht nicht zuletzt dem großartigen Titel zu verdanken. Die Ausgangsthese des italienischen Komparatisten (Bruder des Filmregisseurs Nanni Moretti), der bis vor kurzem in Stanford gelehrt hat, besteht darin, dass die "Erörterung grundlegender Strukturen" und die Ermittlung "abstrakter Modelle" in der Literaturwissenschaft inzwischen von höherer Relevanz seien als die "Interpretation einzelner Texte". Wer in germanistischen Festschriften die neueste, noch sensibler auf narrative Paradoxien und metonymische Verschiebungen achtende Analyse einer Kleist- oder Kafka-Erzählung zu lesen versucht, wird ihm gerne recht geben.
Zweifellos hat es im Lauf des 20. Jahrhunderts immer wieder Schulen der Literaturtheorie gegeben, die sich, wie die russischen Formalisten oder später der französische Strukturalismus, eher für wiederkehrende Formen und Geflechte in der Literatur interessiert haben als für das hermeneutische Aufspüren tiefster Schichten des Sinns. Aber auch diese Lektüren haben sich dem einzelnen Text in aller Genauigkeit gewidmet (Roland Barthes schrieb in "S/Z" 300 Seiten über eine kurze Erzählung von Balzac).
Franco Morettis neuartige Methode, von der Digitalisierung der Bibliotheken und der Schnelligkeit der Suchmaschinen begünstigt, ist dagegen die Literaturwissenschaft der großen Zahl. Er hat in seinem Stanforder "Literary Lab" komparatistische Big-Data-Analysen entwickelt und arbeitet in seinen jüngsten Untersuchungen mit Tausenden Romantiteln: ein Umfang von Studienmaterial, den ein Literaturwissenschaftler bislang rein aus Kapazitätsgründen nicht bewältigen konnte. Solche Literaturmassen lassen sich nicht lesen, sondern nur ablesen, und genau das tut Moretti heute buchstäblich mit Hilfe digitalisierter Archive ("distant reading" lautet im englischen Sprachgebrauch die Bezeichnung für die "Fernablesung" von Heizungen).
In seiner Essaysammlung, die bei Konstanz University Press nun auf Deutsch erscheint, versammelt Moretti Aufsätze, die bis ins Jahr 1991 zurückreichen, in eine Zeit also, in der es das Internet noch nicht gab. Doch auch in diesen Jahren interessiert er sich bereits für das Ordnen und Kartographieren größerer Textbestände, und zwar vor allem im Hinblick auf eine Kritik des literarischen Kanons. Mit Bezug auf Hegels Wort von der Geschichte als "Schlachtbank", die nur den geringsten Teil des Weltgeschehens bewahrt, erkennt Moretti auch in der Geschichte der Literatur "eine gigantische Schlachtbank der verworfenen Möglichkeiten; was sie ausgeschlossen hat, enthüllt ihre Gesetzmäßigkeiten genauso deutlich wie das, was sie aufgenommen hat". Von rund 50 000 britischen Romanen, die etwa im 19. Jahrhundert erschienen sind, kennt die Literaturwissenschaft heute nur noch höchstens 200; und wo die Schule des "close reading" auf dem wiederholten Lesen der immergleichen Meisterwerke beruht, geht es ihm eher um die Mechanismen, die in der Geschichte der Literatur zu solchen Verdichtungen und Aussonderungen führen. Warum wird der eine Autor, der eine Text kanonisch? Warum geraten Dutzende andere, die als Rivalen gleichzeitig um die Gunst der Leser kämpfen, in Vergessenheit?
Franco Moretti versucht diese Frage am Beispiel der englischen Detektivgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts zu klären. Heute sind nur Conan Doyles "Sherlock Holmes"-Erzählungen allgemein bekannt, doch in den Jahren, in denen dieser Detektiv zum ersten Mal auftrat, erschienen in England auch zahlreiche andere, ganz ähnlich konzipierte Geschichten. Warum sind sie verschwunden? Morettis Überzeugung lautet, dass am Anfang dieser Selektion der Publikumsgeschmack stehe. Es müsse also eine Analyseeinheit in den kanonischen und vergessenen Texten gefunden werden, die dieses Geschmacksurteil, dieses Erfolgsgeheimnis in der Schreibweise Doyles verifizieren würde. Er stöbert mit seinen Mitarbeitern über hundert Detektivgeschichten dieser Jahre in den Archiven auf, in den 1990er Jahren noch eine aufwendige Philologenarbeit, und sucht nach dem spezifischen Kunstgriff in den "Sherlock Holmes"-Geschichten, der erst zu ihrem Erfolg bei den zeitgenössischen Lesern und dann zu ihrer Kanonisierung führte. Zu finden glaubt er ihn in Doyles einzigartigem Gebrauch von "Indizien" als formalem Element bei der Lösung des Falles.
Moretti hat für diese frühen Versuche eines "quantitativen Formalismus" in der Literaturwissenschaft viel Kritik erhalten, und tatsächlich weist die von ihm angewandte Methode, Verfahren der Kanonisierung zu erklären, einige Probleme auf. Zum einen ist die Wahl der "Analyseeinheit" nicht frei von Kontingenz: Beruht der dauerhafte Erfolg der "Sherlock Holmes"-Erzählungen tatsächlich auf einer inneren Notwendigkeit, die mit dem Gebrauch eines einzelnen formalen Elements zu erklären ist? Und können textexterne Faktoren wie Marketing, Werbung, persönliche Beziehungen des Autors so kategorisch vernachlässigt werden, wie Moretti das zumindest für die erste Genese des Leserurteils reklamiert?
Zum anderen irritieren die ständigen Analogien von literarischer Kanonisierung und Evolutionstheorie, die bis vor einigen Jahren zu Morettis Theorieensemble gehörten. Die Frage, warum sich bestimmte Gattungen, Schreibweisen oder Autoren in der Literaturgeschichte durchgesetzt haben, beschreibt er immer wieder mit dem Vokabular Darwins. Er spricht von "literarischer Evolution", von der "morphologischen Sackgasse", in die heute vergessene Gattungen gerieten, oder er erklärt den Siegeszug der Prosa gegenüber dem Vers in der Epik damit, dass jene "anpassungsfähiger" gewesen sei. Der Kanon der Literatur als survival of the fittest. Der Literaturwissenschaftler Christopher Prendergast hat ihm daher vorgeworfen, die Funktion des "Marktes" in der Literaturgeschichte mit der unerbittlichen Funktion der "Natur" in der Evolutionstheorie gleichzusetzen. Morettis Replik auf diesen Vorwurf des Literaturdarwinismus kann die Kritik nicht völlig entkräften. Seine quantitativen Analysen drohen eher jenen Kanon zu zementieren, den sie eigentlich auflockern wollten.
In der Geschichte der Literaturwissenschaften gibt es vermutlich kaum einen Fall, in dem eine Theorie so sehr von einem medientechnischen Wandel profitiert hat wie "Distant Reading" von der Digitalisierung. Bis vor gut zehn Jahren war für Morettis Ambition, "Analyseeinheiten" in großen Textmengen zu bestimmen und darin wiederkehrende "Muster" aufzuspüren, eigenständiges Suchen und Lesen erforderlich. Das 2004 begonnene "Google Books"-Projekt und die Entwicklung schnellerer und präziser auszurichtender Suchprogramme haben dazu geführt, dass zumindest der Gebrauch einzelner Sprach- und Stilelemente inzwischen in riesigen Quantitäten untersucht werden kann: "In einigen Jahren", so Morettis euphorische Prognose, "werden wir in der Lage sein, Recherchen über einfach alle jemals erschienenen Romane anzustellen."
Franco Moretti ist gewissermaßen der Digitalisierungsgewinnler unter den Literaturtheoretikern, und die chronologische Ordnung der Essays verdeutlicht, dass die technischen Entwicklungen seine Verfahren plausibler gemacht haben. Mussten die früheren Analysen zu kanonischen und apokryphen Rivalen, wie im Falle Doyles, noch auf angreifbare methodische Grundentscheidungen vertrauen, geht von den letzten Essays in "Distant Reading" eine unwiderlegbare Faszination aus. Moretti und seine Literaturlaboranten prüfen etwa die Länge und Sprachstruktur von 7000 Romantiteln zwischen 1740 und 1850 und sind in der Lage, deren drastische Verkürzung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts oder den Siegeszug von bloßen Eigennamen im Titel präzise zu messen. Zur Begründung dieser Entwicklungen (die dann weiterhin der Arbeit qualifizierter Literaturwissenschaftler bedarf) führt Moretti etwa das aufkommende Rezensionswesen an, das die Zusammenfassung der Romanhandlung im Titel überflüssig macht, oder das neue Identifikationspotential mit der Hauptfigur in der Epoche der Empfindsamkeit.
"Distant Reading" ist, ungeachtet mancher blinden Stellen im methodischen Vorgehen, das interessanteste literaturtheoretische Buch, das seit vielen Jahren erschienen ist. Gleichzeitig stellt es die übergeordnete erkenntnistheoretische Frage, was "Big Data", die wissenschaftliche Behandlung riesiger Datenmengen, für den Status von "Theorie" insgesamt bedeutet. Wenn Moretti schreibt, dass die computergestützte Literaturwissenschaft in Kürze über "alle jemals erschienenen Romane" forschen könne, ist ja ein Kriterium, ein Vermögen eliminiert, das literatur-, sozial- oder kulturwissenschaftliche Theorie konstituiert hat: die Auswahl des analysierten Stoffes, jenes Korpus des Untersuchten, das stellvertretend für das Gesamte stehen soll.
"Big Data", in der Literaturwissenschaft und anderswo, ist gleichbedeutend mit einer Krise der Repräsentation. Mit Hilfe vollständiger Archive und totaler Erfassungsverfahren soll die Wirklichkeit selbst abbildbar werden. Diese Ambition scheint die Komprimierungstechniken von "Theorie" überflüssig zu machen. In Franco Morettis faszinierendem Buch wird die Überzeugungskraft dieser Verfahren genauso sichtbar wie ihre Grenzen.
ANDREAS BERNARD
Franco Moretti: "Distant Reading". Konstanz University Press, 220 Seiten, 19,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Distant Reading" von Franco Moretti ist das interessanteste literaturtheoretische Buch, das seit vielen Jahren erschienen ist
In der Literaturwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte ist der Abstand zwischen Leser und Text immer wieder als zentrale Kategorie betrachtet worden. Der Begriff des "close reading", im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an amerikanischen Universitäten aufgekommen und dann in den dekonstruktivistischen Lektüren Derridas und seiner Schüler angewandt, hat diesen Abstand immer mehr verringert. Einzelne Romane oder Erzählungen wurden mit einer Konzentration und Sorgfalt auf ihre sprachlichen Eigenheiten und erzählerischen Strategien hin untersucht, dass der Umfang der Abhandlungen die Länge der interpretierten Texte manchmal um ein Vielfaches überstieg. Je näher das Verhältnis zum Text, so die unhintergehbare Voraussetzung dieser Lehre, desto größer die Erkenntnis.
Vor diesem Hintergrund ist ein Buch namens "Distant Reading" als Provokation einer ganzen Disziplin zu verstehen, und die ungeheure Aufmerksamkeit, die diese 2013 in Amerika erschienene und bereits in knapp zwanzig Sprachen übersetzte Essaysammlung von Franco Moretti gerade erhält, ist vielleicht nicht zuletzt dem großartigen Titel zu verdanken. Die Ausgangsthese des italienischen Komparatisten (Bruder des Filmregisseurs Nanni Moretti), der bis vor kurzem in Stanford gelehrt hat, besteht darin, dass die "Erörterung grundlegender Strukturen" und die Ermittlung "abstrakter Modelle" in der Literaturwissenschaft inzwischen von höherer Relevanz seien als die "Interpretation einzelner Texte". Wer in germanistischen Festschriften die neueste, noch sensibler auf narrative Paradoxien und metonymische Verschiebungen achtende Analyse einer Kleist- oder Kafka-Erzählung zu lesen versucht, wird ihm gerne recht geben.
Zweifellos hat es im Lauf des 20. Jahrhunderts immer wieder Schulen der Literaturtheorie gegeben, die sich, wie die russischen Formalisten oder später der französische Strukturalismus, eher für wiederkehrende Formen und Geflechte in der Literatur interessiert haben als für das hermeneutische Aufspüren tiefster Schichten des Sinns. Aber auch diese Lektüren haben sich dem einzelnen Text in aller Genauigkeit gewidmet (Roland Barthes schrieb in "S/Z" 300 Seiten über eine kurze Erzählung von Balzac).
Franco Morettis neuartige Methode, von der Digitalisierung der Bibliotheken und der Schnelligkeit der Suchmaschinen begünstigt, ist dagegen die Literaturwissenschaft der großen Zahl. Er hat in seinem Stanforder "Literary Lab" komparatistische Big-Data-Analysen entwickelt und arbeitet in seinen jüngsten Untersuchungen mit Tausenden Romantiteln: ein Umfang von Studienmaterial, den ein Literaturwissenschaftler bislang rein aus Kapazitätsgründen nicht bewältigen konnte. Solche Literaturmassen lassen sich nicht lesen, sondern nur ablesen, und genau das tut Moretti heute buchstäblich mit Hilfe digitalisierter Archive ("distant reading" lautet im englischen Sprachgebrauch die Bezeichnung für die "Fernablesung" von Heizungen).
In seiner Essaysammlung, die bei Konstanz University Press nun auf Deutsch erscheint, versammelt Moretti Aufsätze, die bis ins Jahr 1991 zurückreichen, in eine Zeit also, in der es das Internet noch nicht gab. Doch auch in diesen Jahren interessiert er sich bereits für das Ordnen und Kartographieren größerer Textbestände, und zwar vor allem im Hinblick auf eine Kritik des literarischen Kanons. Mit Bezug auf Hegels Wort von der Geschichte als "Schlachtbank", die nur den geringsten Teil des Weltgeschehens bewahrt, erkennt Moretti auch in der Geschichte der Literatur "eine gigantische Schlachtbank der verworfenen Möglichkeiten; was sie ausgeschlossen hat, enthüllt ihre Gesetzmäßigkeiten genauso deutlich wie das, was sie aufgenommen hat". Von rund 50 000 britischen Romanen, die etwa im 19. Jahrhundert erschienen sind, kennt die Literaturwissenschaft heute nur noch höchstens 200; und wo die Schule des "close reading" auf dem wiederholten Lesen der immergleichen Meisterwerke beruht, geht es ihm eher um die Mechanismen, die in der Geschichte der Literatur zu solchen Verdichtungen und Aussonderungen führen. Warum wird der eine Autor, der eine Text kanonisch? Warum geraten Dutzende andere, die als Rivalen gleichzeitig um die Gunst der Leser kämpfen, in Vergessenheit?
Franco Moretti versucht diese Frage am Beispiel der englischen Detektivgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts zu klären. Heute sind nur Conan Doyles "Sherlock Holmes"-Erzählungen allgemein bekannt, doch in den Jahren, in denen dieser Detektiv zum ersten Mal auftrat, erschienen in England auch zahlreiche andere, ganz ähnlich konzipierte Geschichten. Warum sind sie verschwunden? Morettis Überzeugung lautet, dass am Anfang dieser Selektion der Publikumsgeschmack stehe. Es müsse also eine Analyseeinheit in den kanonischen und vergessenen Texten gefunden werden, die dieses Geschmacksurteil, dieses Erfolgsgeheimnis in der Schreibweise Doyles verifizieren würde. Er stöbert mit seinen Mitarbeitern über hundert Detektivgeschichten dieser Jahre in den Archiven auf, in den 1990er Jahren noch eine aufwendige Philologenarbeit, und sucht nach dem spezifischen Kunstgriff in den "Sherlock Holmes"-Geschichten, der erst zu ihrem Erfolg bei den zeitgenössischen Lesern und dann zu ihrer Kanonisierung führte. Zu finden glaubt er ihn in Doyles einzigartigem Gebrauch von "Indizien" als formalem Element bei der Lösung des Falles.
Moretti hat für diese frühen Versuche eines "quantitativen Formalismus" in der Literaturwissenschaft viel Kritik erhalten, und tatsächlich weist die von ihm angewandte Methode, Verfahren der Kanonisierung zu erklären, einige Probleme auf. Zum einen ist die Wahl der "Analyseeinheit" nicht frei von Kontingenz: Beruht der dauerhafte Erfolg der "Sherlock Holmes"-Erzählungen tatsächlich auf einer inneren Notwendigkeit, die mit dem Gebrauch eines einzelnen formalen Elements zu erklären ist? Und können textexterne Faktoren wie Marketing, Werbung, persönliche Beziehungen des Autors so kategorisch vernachlässigt werden, wie Moretti das zumindest für die erste Genese des Leserurteils reklamiert?
Zum anderen irritieren die ständigen Analogien von literarischer Kanonisierung und Evolutionstheorie, die bis vor einigen Jahren zu Morettis Theorieensemble gehörten. Die Frage, warum sich bestimmte Gattungen, Schreibweisen oder Autoren in der Literaturgeschichte durchgesetzt haben, beschreibt er immer wieder mit dem Vokabular Darwins. Er spricht von "literarischer Evolution", von der "morphologischen Sackgasse", in die heute vergessene Gattungen gerieten, oder er erklärt den Siegeszug der Prosa gegenüber dem Vers in der Epik damit, dass jene "anpassungsfähiger" gewesen sei. Der Kanon der Literatur als survival of the fittest. Der Literaturwissenschaftler Christopher Prendergast hat ihm daher vorgeworfen, die Funktion des "Marktes" in der Literaturgeschichte mit der unerbittlichen Funktion der "Natur" in der Evolutionstheorie gleichzusetzen. Morettis Replik auf diesen Vorwurf des Literaturdarwinismus kann die Kritik nicht völlig entkräften. Seine quantitativen Analysen drohen eher jenen Kanon zu zementieren, den sie eigentlich auflockern wollten.
In der Geschichte der Literaturwissenschaften gibt es vermutlich kaum einen Fall, in dem eine Theorie so sehr von einem medientechnischen Wandel profitiert hat wie "Distant Reading" von der Digitalisierung. Bis vor gut zehn Jahren war für Morettis Ambition, "Analyseeinheiten" in großen Textmengen zu bestimmen und darin wiederkehrende "Muster" aufzuspüren, eigenständiges Suchen und Lesen erforderlich. Das 2004 begonnene "Google Books"-Projekt und die Entwicklung schnellerer und präziser auszurichtender Suchprogramme haben dazu geführt, dass zumindest der Gebrauch einzelner Sprach- und Stilelemente inzwischen in riesigen Quantitäten untersucht werden kann: "In einigen Jahren", so Morettis euphorische Prognose, "werden wir in der Lage sein, Recherchen über einfach alle jemals erschienenen Romane anzustellen."
Franco Moretti ist gewissermaßen der Digitalisierungsgewinnler unter den Literaturtheoretikern, und die chronologische Ordnung der Essays verdeutlicht, dass die technischen Entwicklungen seine Verfahren plausibler gemacht haben. Mussten die früheren Analysen zu kanonischen und apokryphen Rivalen, wie im Falle Doyles, noch auf angreifbare methodische Grundentscheidungen vertrauen, geht von den letzten Essays in "Distant Reading" eine unwiderlegbare Faszination aus. Moretti und seine Literaturlaboranten prüfen etwa die Länge und Sprachstruktur von 7000 Romantiteln zwischen 1740 und 1850 und sind in der Lage, deren drastische Verkürzung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts oder den Siegeszug von bloßen Eigennamen im Titel präzise zu messen. Zur Begründung dieser Entwicklungen (die dann weiterhin der Arbeit qualifizierter Literaturwissenschaftler bedarf) führt Moretti etwa das aufkommende Rezensionswesen an, das die Zusammenfassung der Romanhandlung im Titel überflüssig macht, oder das neue Identifikationspotential mit der Hauptfigur in der Epoche der Empfindsamkeit.
"Distant Reading" ist, ungeachtet mancher blinden Stellen im methodischen Vorgehen, das interessanteste literaturtheoretische Buch, das seit vielen Jahren erschienen ist. Gleichzeitig stellt es die übergeordnete erkenntnistheoretische Frage, was "Big Data", die wissenschaftliche Behandlung riesiger Datenmengen, für den Status von "Theorie" insgesamt bedeutet. Wenn Moretti schreibt, dass die computergestützte Literaturwissenschaft in Kürze über "alle jemals erschienenen Romane" forschen könne, ist ja ein Kriterium, ein Vermögen eliminiert, das literatur-, sozial- oder kulturwissenschaftliche Theorie konstituiert hat: die Auswahl des analysierten Stoffes, jenes Korpus des Untersuchten, das stellvertretend für das Gesamte stehen soll.
"Big Data", in der Literaturwissenschaft und anderswo, ist gleichbedeutend mit einer Krise der Repräsentation. Mit Hilfe vollständiger Archive und totaler Erfassungsverfahren soll die Wirklichkeit selbst abbildbar werden. Diese Ambition scheint die Komprimierungstechniken von "Theorie" überflüssig zu machen. In Franco Morettis faszinierendem Buch wird die Überzeugungskraft dieser Verfahren genauso sichtbar wie ihre Grenzen.
ANDREAS BERNARD
Franco Moretti: "Distant Reading". Konstanz University Press, 220 Seiten, 19,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Selbst wenn sich Franco Moretti verrennt, wenn seine Theorien schon bei ihrem Erscheinen veraltet sind, ist Steffen Martus fasziniert von den Ausführungen des italienischen Literaturwissenschaftlers. Denn Moretti verbinde seinen rebellischen Habitus immer mit einem bürgerlichen Arbeitsethos und schlichtweg ingeniösen Ansätze. Seit mehr als zwei Jahrzehnten arbeitet Moretti daran, wie Martus darstellt, die Geschichte der Literatur nach dem Muster der Evolutionstheorie und als "Weltsystemtheorie" neu zu verfassen. Dafür empfahl er das "distant reading" als polemischen Gegenbegriff zum "close reading" und meint, man müsse nicht jedes Buch selbst gelesen haben, über das man eine Aussage treffen möchte. Was Moretti nicht abschätzen konnte, war der Quantensprung der digital studies, mit denen sich der erfasste Textkorpus und die Möglichkeiten der Recherche ins Unermessliche potenziert haben. Macht nichts, meint Martus, dadurch würde der Essay nur umso lehrreicher.
© Perlentaucher Medien GmbH
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