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Der Band spannt einen Bogen vom ausgehenden 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Gefragt wird nicht nur, wie man Soldaten macht, sondern auch, gegen welche Formen des Ungehorsams und der Verweigerung die Disziplinierungspraktiken sich - vorbeugend, bestrafend, -therapierend- oder aussondernd - richten. Die vergleichende Gegenüberstellung auf acht historischen -Plateaus- macht die Konstellationen sichtbar in denen jeweils bestimmte Strategien des staatlichen Zugriffs, bestimmte Muster von Widerständen und bestimmte Formen, über beides zu sprechen, aufeinandertrafen. Schließlich werden politische,…mehr

Produktbeschreibung
Der Band spannt einen Bogen vom ausgehenden 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Gefragt wird nicht nur, wie man Soldaten macht, sondern auch, gegen welche Formen des Ungehorsams und der Verweigerung die Disziplinierungspraktiken sich - vorbeugend, bestrafend, -therapierend- oder aussondernd - richten. Die vergleichende Gegenüberstellung auf acht historischen -Plateaus- macht die Konstellationen sichtbar in denen jeweils bestimmte Strategien des staatlichen Zugriffs, bestimmte Muster von Widerständen und bestimmte Formen, über beides zu sprechen, aufeinandertrafen. Schließlich werden politische, philosophische und literarische Diskurse analysiert, die im gleichen Zeitraum um das Verhältnis von Heeres- und Staatsverfassung, von Gehorsamspflicht und Widerstandsrecht kreisten.
Autorenporträt
Ulrich Bröckling lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Der Gehorsam eilt immer voraus
Die Wissenschaft marschiert hintendrein: Ulrich Bröckling erklärt, warum Soldaten parieren / Von Wolfgang Sofsky

Die Geburtsurkunde der modernen Disziplin läßt sich auf den Tag genau datieren. Am 8. Dezember 1594 schrieb Wilhelm Ludwig von Nassau, der Befehlshaber der holländischen Armee, seinem Cousin Moritz einen Brief, in dem er die neue Methode des Salvenfeuers skizzierte. Die Idee verdankte der Graf der gewissenhaften Lektüre von Aelians klassischem Lehrbuch über die Taktik der Legionen. Was die Römer einst mit Wurfspießen erzielt hatten, das sollte, so das Modell, nun mit rotierenden Reihen von Musketieren erreicht werden: ein stetiger Geschoßhagel, der jeden Feind in Schach hielte. Für die praktische Anwendung benötigten die Grafen von Nassau allerdings einen neuen Typus von Soldaten. Sie mußten gedrillt werden, gemeinsam zu feuern, zurückzumarschieren, nachzuladen und erneut vorzurücken. Und sie mußten lernen, Grabensysteme anzulegen, um die Stellungen zu befestigen. Disziplin: Das hieß zuallererst Waffendrill und Körperdressur, Exerzieren im Gleichtakt, prompter Gehorsam - und regelmäßiges Schanzen. Ihre Instrumente waren das Kommando, die Muskete, die Schaufel.

Zu Recht beginnt Ulrich Bröcklings materialreiche Studie zur deutschen Geschichte der Disziplinarmacht mit einer Erinnerung an die Heeresreform der Oranier. Zwar dauerte es noch Jahrzehnte, bis in den verstaatlichten Armeen des Absolutismus die Drillmeister endgültig das Regiment übernommen hatten. Aber der Ort der Disziplin war bereits markiert. Nicht Kloster oder Hof, nicht Manufaktur, Schule oder Gefängnis, die Kaserne sollte sich zum Zentrallabor der gesellschaftlichen Disziplinierung entwickeln. Im Militär wurde die Zurichtung des gehorsamen Menschen vorexerziert, hier konzentrierte der neue Staat die Destruktionskräfte, hier verwandelte er seine Untertanen in Soldaten, die jederzeit zum Töten und Sterben bereit waren.

Daß die Armee der "Mutterschoß der Disziplin" (Max Weber) sei, ist gewiß keine neue Erkenntnis. Ohne die Verfahren der Disziplinarmacht sind moderne Herrschaftsstrukturen schwerlich zu begreifen, eine Einsicht, der sich lediglich jene verweigern, die weiterhin an die Friedfertigkeit des Projekts der Moderne glauben möchten. Bröcklings Freiburger Dissertation läßt sich daher auch als entschiedener Einspruch gegen die konzeptionellen Arglosigkeiten des soziologischen Normalbetriebs lesen. Wer von der Moderne spricht, der darf vom Militär nicht schweigen. Über die bekannten Arbeiten von Max Weber, Norbert Elias, Gerhard Oestreich oder Michel Foucault weist Bröcklings historische Soziologie insoweit hinaus, als sie die programmatischen Diskurse mit den wirklichen Zwangspraktiken und Resistenzformen zu verknüpfen sucht. Die Geschichte der Disziplin ist auch eine Geschichte des Widerstands. Daher die Aufmerksamkeit, die der Autor den Sozialfiguren des militärischen Ungehorsams schenkt: den Deserteuren und Meuterern, den Überläufern und Simulanten.

In acht Kapiteln untersucht Bröckling die historischen Stationen der Militärdisziplin, die Methoden der Rekrutierung und Mobilisierung, die Reglements des Exerzierens und Strafens, den Wandel der Armee- und Staatsverfassungen, die Art und Weise, wie über Gehorsam gesprochen wurde. Jede Epoche der deutschen Politikgeschichte: ein Etappensieg der Disziplinarmacht. Im preußischen Heer der Kabinettskriege besetzte sie die Körper, im Zeitalter Napoleons entfachte sie patriotische Leidenschaften. Während der Restauration und des Kaiserreichs unterwarf sie die militärisch und politisch unzuverlässigen Massenbewegungen. Die Militärpsychiatrie des Ersten Weltkriegs eroberte das Unbewußte. Und der Nationalsozialismus kombinierte alle bisherigen Techniken der physischen, ideologischen und emotionalen Zurichtung. Erst in der technisierten Armee der befriedeten Bundesrepublik wurde, so des Verfassers etwas zweifelhafter Befund, der Gehorsam von einer Funktionsdisziplin überformt, welche den Krieger zum Anhängsel technischer Geräte degradierte.

Obwohl der historische Formwandel des Gehorsams keineswegs geradlinig verlief, ist die Tendenz unverkennbar. Nach und nach bezwang die Disziplin alle Aspekte der Existenz: den Körper, den Geist, die Seele, den Willen, das Soziale, bis endlich die Soldaten in organische Maschinen transformiert waren, die durch technische Destruktionsmaschinen ersetzt werden konnten. Zwar sucht der Soziologe Bröckling die Fallstricke des historischen Finalismus zu umgehen, aber zuletzt erzählt er vom Siegeszug einer kumulativen, totalisierenden Macht.

Seinen Befund stützt der Autor auf eine solide Basis historiographischer Forschung, auf programmatische und autobiographische Originaltexte. Auf eigene Archivrecherchen hat er verzichtet. Für das historische Repetitorium wird der Leser indes mit provokanten Thesen und vielen Einzelgeschichten entschädigt. Sie lassen manch eigenwillige Überzeichnung und unbedachte Formulierung vergessen. So erinnert Bröckling an die "Desertionsseuche" im friderizianischen Heer, die zu taktischen Manövern geschlossener Formationen zwang und den Lauf der Kriegsmaschine massiv abbremste. Er berichtet von den Militäreinsätzen des Vormärz, einer Kriegsführung im eigenen Land, von der Soldatenmeuterei in Baden und ihrer Niederschlagung im Mai 1849. Nicht ohne Kritik schildert er, wie der Ungeist des Subordination noch die ärgsten Antimilitaristen ergriff und wie gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Disziplin zum höchsten Wert der etatistischen Arbeiterbewegung avancierte. Überzeugend kennzeichnet der Autor schließlich die Transformation des Kadavergehorsams im Terrorsystem des Nationalsozialismus und während des Ausrottungsfeldzugs der Wehrmacht. Nicht blinder Fügsamkeit verdankte das nationalsozialistische Regime seine terroristische Effektivität, sondern einem Loyalitätswettbewerb, einem Wettlauf in vorauseilendem Gehorsam, der bis in die niedersten Ränge hinabreichte. So wurden nicht selten Befehle ausgeführt, die gar nicht erteilt worden waren.

Das letzte Kapitel über den aktuellen Zustand der Militärdisziplin fällt dagegen wesentlich ab. Die vermeintliche "Antiquiertheit" des Soldatischen und das Ausmaß des technischen Dienstes werden von Bröckling maßlos überschätzt. Jeden Rekruten einer Ausbildungskompanie, jeden Feldwebel eines Fallschirmjägerzuges, jeden Piloten eines Gefechtshubschraubers dürfte es aufs höchste verwundern zu erfahren, daß es auf Unterordnung, auf Autorität, Selbstkontrolle, Feuerdisziplin und Kampfmoral nicht mehr ankomme.

Bröcklings lesenswerte Studie provoziert einige systematische Bedenken. Sie operiert mit einem derart weit gefaßten Begriff des Gehorsams, daß nahezu alles darunterfällt, was Soldaten zum Handeln und Unterlassen veranlaßt. Gewiß ist der Soldat der Prototyp des Menschen, der in ständiger Befehlserwartung lebt. Er ist von so vielen Geboten und Verboten umstellt, daß sich im Augenblick des Befehls der vegetative Aktionsstau in eilfertiges Tun umsetzt. Darauf beruht die Doppelfunktion des Befehls, die Bröckling nicht entgangen ist. Der Befehl ist keineswegs purer Zwang, er ist auch ein Freibrief, eine Lizenz zum Handeln, zum Töten. Aber indem der Krieger den Befehl exekutiert, wird er zugleich die Lasten des Gehorsams los. Das ist es, was alle Offiziere fürchten: Wenn der Kampf eskaliert oder in Verfolgung umschlägt, ist die Truppe losgelassen und die Disziplin der Meute dahin.

Bröckling vernachlässigt nicht nur die Abstufungen des Gehorsams, die freiwillige und habituelle Unterwerfung, die mürrische, widerwillige oder stumm protestierende Fügsamkeit. Vor allem verwischt er die Differenzen zu anderen Motivlagen und Machtformen. Loyalität oder Autorität sind keine Frage der Disziplin, sondern sozialer Bindung. Dienstbereitschaft kann mannigfache Gründe haben, und die Mobilisierung von Leidenschaften ist das exakte Gegenteil jeglichen Gehorsams. Menschen ziehen in den Krieg, um zu töten. Die Stunde der Disziplin schlägt erst, wenn sie dem Feuer standhalten müssen.

Obwohl Bröckling den Wandel der Gefechtsformen erwähnt, bleibt der Zusammenhang von Kampf, Gewalt und Gehorsam merkwürdig unterbelichtet. Die Perspektive des Autors richtet sich primär auf den Diskurs, die Militärorganisation und Innenpolitik. Von den Tatsachen des Krieges ist weit weniger die Rede. Was aber geschieht mit der Disziplin des Kasernenlebens, wenn das Gefecht beginnt? Wirken da nicht ganz andere Gesetze, Erfahrungen, Triebkräfte, Affekte? Bröckling erinnert an die "Kriegsneurosen" und Meutereien im Ersten Weltkrieg. Weshalb aber harrten die Überlebenden in den Gräben der Westfront mehr als drei Jahre aus, bevor sich beiderseits der Front Widerstand regte: aus Gehorsam, aus Patriotismus, aus purer Ausweglosigkeit? Weshalb focht die Wehrmacht noch die sinnlosesten Endschlachten durch, im Osten, im Süden und Westen: aus Gruppendisziplin, Gefolgschaftstreue oder ideologischer Verblendung, aus Angst vor Rache oder Strafe oder weil die Kriegsmaschine mittlerweile in eine Art Selbstlauf geraten war? Was beim praktischen Handwerk des Soldaten, beim Kämpfen und Töten wirklich vor sich geht, darauf bleibt auch Bröckling letztlich die Antwort schuldig.

Ulrich Bröckling: "Disziplin". Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion. Wilhelm Fink Verlag, München 1997. 364 S., br., 68,- DM.

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