Fatima liebt ihren Vater abgöttisch. Er befolgt streng die arabischen Bräuche und hat Sorge, dass die Röcke seiner Tochter zu kurz geraten. Die Mutter ist eine selbstbewusste Frau von europäischer Eleganz. Zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Dazwischen bahnt sich das kleine Mädchen seinen eigenen Weg zur jungen Frau, der manchmal schmerzhaft ist und dann wieder voller Glück. »Nirgendwo im Haus meines Vaters« ist Assia Djebars persönlichstes Buch. Mal mit kühler Prägnanz, mal in poetischen Bildern erzählt sie ihre eigene Geschichte, die zugleich die Algeriens ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.01.2010Mit Baudelaire gegen die eigenen Väter
Spaltung oder zweite Chance: Assia Djebars Roman "Nirgendwo im Haus meines Vaters" erzählt von einer Jugend in zwei Kulturen.
Es ist ein unerhörter Klang, der sich entfaltet, weich und dabei bestimmt. Ein sanftes Raunen, das sich durch den Klassenraum zieht, Großes verkündet, vor allem aber durch sich selbst wirkt, durch die in Rhythmus gebrachten Konsonanten und natürlich den Reim, mit dem die beiden Verse schließen. Acht Worte nur, aber unendlich verheißungsvoll: "Mon enfant, ma soeur, Songe à la douceur". Charles Baudelaire, "Einladung zur Reise", das 53. Gedicht der "Blumen des Bösen". Als reiner Klang schwebt es durch den Klassenraum im kolonialen Algerien, irgendwann in den späten vierziger Jahren, frühen fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als es noch ruhig ist in dem nordafrikanischen Land. Ungeduld und Zorn der von Paris aus regierten Araber sind zwar unterschwellig zu spüren, haben sich aber noch nicht offen Bahn gebrochen.
Die Zeichen weisen in Richtung Aufstand. Aber noch schweben die Zeilen durch den Raum, und sie sind geeignet, die junge Schülerin auf immer zu verzaubern, ihr klarzumachen, dass die Franzosen zwar auch Schöpfer einer effizienten Kriegstechnik sind, mit deren Hilfe sie das Land bereits hundertzwanzig Jahre im Griff halten; aber ebenso Schöpfer großer Dichtkunst sind, einer Poesie, die geeignet ist, den algerischen Untertanen die andere, hellere Seite der Kolonialmacht zu zeigen; eine Seite, die sich mit dem Zynismus der Militärs und Verwaltungsbeamten nur schwer in Zusammenhang bringen lässt.
Baudelaires Einladung hat die junge Assia Djebar, deren bürgerlicher Name Fatima-Zohra Imalayène lautet, auf immer an das französische Mutterland gebunden und ihr den Weg zu jener zunächst unbekannten Sprache eröffnet, in der sie später ihre Romane schreiben würde. Motive dafür, dass maghrebinische Schriftsteller auf Französisch schreiben, mag es viele geben, etwa die des leichteren Marktzugangs oder dass die Maghrebiner Romane ohnehin auf Französisch lesen. Aber auch die ästhetischen Gründe wiegen schwer, allen voran hat das Französische einen wunderbaren Klang. Nicht schöner als das Arabische, aber eben anders. Wie aufregend die Sprache der ehemaligen Kolonisten ist, dafür bietet Djebars jüngstes Buch "Nulle part dans la maison de mon père", unter dem Titel "Nirgendwo im Haus meines Vaters" von Marlene Frucht adäquat übertragen, selbst den besten Beweis.
Und doch sind Baudelaires Verse nur ein erster Hinweis auf all das, was die junge Assia Djebar der französischen Kolonialmacht sonst noch verdankt. Im Haus des Vaters, der Titel deutet es an, wird irgendwann kein Platz mehr für sie sein. Räumlich vielleicht, weltanschaulich aber nicht mehr. Ein umso willkommeneres Rückzugsgebiet ist das französische Internat, und das gegen alle Wahrscheinlichkeit. Denn was bewirkt sie eigentlich, die Herrschaft der Franzosen? "Die Kolonie", notiert die 1936 geborene Djebar zu Anfang ihres Buches, "bringt die Spaltung in die Welt. Die Spaltung ist ihren Körpern eingeschrieben, die Geschlechter sind gespalten, jeder aus der Nachwelt wird zerrissen, jede ihrer Leichen wird zerrissen, oder jeder ihrer Vorfahren wird verleugnet!" Die Kolonie ist Entwurzelung, aber nicht nur: Ebenso erscheint sie "als eine zweite Chance, als eine Zukunft, als ein Land der Abenteuer" - und dieses Abenteuer beginnt, wo so viele Abenteuer ihren Anfang nehmen: in der Schule. Denn die bietet jene Sicherheit, die am Anfang aller Abenteuer stehen muss. Sie bietet Sicherheit vor den eigenen Vätern vor allem, die von Ehre und Anstand eigene, sehr strikt gefasste Vorstellungen haben. Und die sehr darauf bedacht sind, dass ihre Töchter sich ihnen fügen. Unter diesen Vorstellungen verwandelt sich alles, werden sogar die ersten Versuche der Fünfjährigen auf dem Fahrrad zur Sünde. Denn wenn die Kleine über den Rahmen steigt, blitzt das Bein unangemessen weit unter dem Kleid hervor. Die Verkommenheit der Welt ist allgegenwärtig, man muss sie nur sehen wollen. Umso befreiender darum das Internat, das für viele junge Algerierinnen nicht zuletzt eine Umkleidekabine ist: Die Pforte durchqueren sie noch mit Kopftuch und Überhang, aber hinter den blickdichten Mauern legen sie diese dann umgehend ab. Das nähert sie den Französinnen an, die schon allein aufgrund des politischen Machtgefälles auch die ästhetischen Standards setzen. Dass diese teils auch sachlich begründet sind, nehmen die jungen Algerierinnen hin. Auch Djebars Mutter zeigt sich vom fremden Kleidungsstil unverkennbar angetan: Kaum ist die Familie vom Land in die große Stadt, nach Algier, gezogen, kleidet sie sich nach Art der Europäerinnen.
Djebars Buch - dass die Bezeichnung "Roman" angemessen ist, daran kann man mit guten Gründen zweifeln - schildert sehr anschaulich eine Kindheit und Jugend in zwei Sprachen und Kulturen, oder anders gesagt: Es beschreibt das Geschenk, das es bedeutet, unter solchen Umständen groß zu werden. Natürlich: Die Franzosen betrieben in Algerien eine oft zynische und brutale Politik. Aber sie boten auch Gelegenheiten, die man nur zu ergreifen brauchte. Wunderbar die Passagen, in denen Djebar ihre Lektüreabenteuer beschreibt, die Erregung, die sie in den Werken der großen Autoren ergreift: Claudel, Rimbaud, Rivière, Péguy, Gide und andere. Ihnen zur Seite stehen die großen Werke der arabischen Literatur, die Mu'allakat, die großen Oden aus vorislamischer Zeit, oder das "Kitab al Aghani", "Das Buch der Lieder".
Doch Djebars jüngstes Buch ist alles andere als eine jubelnde Programmschrift des Multikulturalismus. Es erzählt von den jungen Jahren dieser nun nicht mehr jungen Schriftstellerin, von einem Leben, das sehr früh hätte enden können, aus Gründen, die mit jenem im Titel angedeuteten Raummangel im väterlichen Haus zu tun haben. Doch Djebar hatte Glück: Ihr Leben durfte weitergehen. So dass sie Jahrzehnte später ein Buch schrieb, das nicht zuletzt auch eines will: "Sich selbst Lebewohl sagen".
KERSTEN KNIPP
Assia Djebar: "Nirgendwo im Haus meines Vaters". Roman. Aus dem Französischen von Marlene Frucht. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 442 S., geb., 21,95 [Euro].
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Spaltung oder zweite Chance: Assia Djebars Roman "Nirgendwo im Haus meines Vaters" erzählt von einer Jugend in zwei Kulturen.
Es ist ein unerhörter Klang, der sich entfaltet, weich und dabei bestimmt. Ein sanftes Raunen, das sich durch den Klassenraum zieht, Großes verkündet, vor allem aber durch sich selbst wirkt, durch die in Rhythmus gebrachten Konsonanten und natürlich den Reim, mit dem die beiden Verse schließen. Acht Worte nur, aber unendlich verheißungsvoll: "Mon enfant, ma soeur, Songe à la douceur". Charles Baudelaire, "Einladung zur Reise", das 53. Gedicht der "Blumen des Bösen". Als reiner Klang schwebt es durch den Klassenraum im kolonialen Algerien, irgendwann in den späten vierziger Jahren, frühen fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als es noch ruhig ist in dem nordafrikanischen Land. Ungeduld und Zorn der von Paris aus regierten Araber sind zwar unterschwellig zu spüren, haben sich aber noch nicht offen Bahn gebrochen.
Die Zeichen weisen in Richtung Aufstand. Aber noch schweben die Zeilen durch den Raum, und sie sind geeignet, die junge Schülerin auf immer zu verzaubern, ihr klarzumachen, dass die Franzosen zwar auch Schöpfer einer effizienten Kriegstechnik sind, mit deren Hilfe sie das Land bereits hundertzwanzig Jahre im Griff halten; aber ebenso Schöpfer großer Dichtkunst sind, einer Poesie, die geeignet ist, den algerischen Untertanen die andere, hellere Seite der Kolonialmacht zu zeigen; eine Seite, die sich mit dem Zynismus der Militärs und Verwaltungsbeamten nur schwer in Zusammenhang bringen lässt.
Baudelaires Einladung hat die junge Assia Djebar, deren bürgerlicher Name Fatima-Zohra Imalayène lautet, auf immer an das französische Mutterland gebunden und ihr den Weg zu jener zunächst unbekannten Sprache eröffnet, in der sie später ihre Romane schreiben würde. Motive dafür, dass maghrebinische Schriftsteller auf Französisch schreiben, mag es viele geben, etwa die des leichteren Marktzugangs oder dass die Maghrebiner Romane ohnehin auf Französisch lesen. Aber auch die ästhetischen Gründe wiegen schwer, allen voran hat das Französische einen wunderbaren Klang. Nicht schöner als das Arabische, aber eben anders. Wie aufregend die Sprache der ehemaligen Kolonisten ist, dafür bietet Djebars jüngstes Buch "Nulle part dans la maison de mon père", unter dem Titel "Nirgendwo im Haus meines Vaters" von Marlene Frucht adäquat übertragen, selbst den besten Beweis.
Und doch sind Baudelaires Verse nur ein erster Hinweis auf all das, was die junge Assia Djebar der französischen Kolonialmacht sonst noch verdankt. Im Haus des Vaters, der Titel deutet es an, wird irgendwann kein Platz mehr für sie sein. Räumlich vielleicht, weltanschaulich aber nicht mehr. Ein umso willkommeneres Rückzugsgebiet ist das französische Internat, und das gegen alle Wahrscheinlichkeit. Denn was bewirkt sie eigentlich, die Herrschaft der Franzosen? "Die Kolonie", notiert die 1936 geborene Djebar zu Anfang ihres Buches, "bringt die Spaltung in die Welt. Die Spaltung ist ihren Körpern eingeschrieben, die Geschlechter sind gespalten, jeder aus der Nachwelt wird zerrissen, jede ihrer Leichen wird zerrissen, oder jeder ihrer Vorfahren wird verleugnet!" Die Kolonie ist Entwurzelung, aber nicht nur: Ebenso erscheint sie "als eine zweite Chance, als eine Zukunft, als ein Land der Abenteuer" - und dieses Abenteuer beginnt, wo so viele Abenteuer ihren Anfang nehmen: in der Schule. Denn die bietet jene Sicherheit, die am Anfang aller Abenteuer stehen muss. Sie bietet Sicherheit vor den eigenen Vätern vor allem, die von Ehre und Anstand eigene, sehr strikt gefasste Vorstellungen haben. Und die sehr darauf bedacht sind, dass ihre Töchter sich ihnen fügen. Unter diesen Vorstellungen verwandelt sich alles, werden sogar die ersten Versuche der Fünfjährigen auf dem Fahrrad zur Sünde. Denn wenn die Kleine über den Rahmen steigt, blitzt das Bein unangemessen weit unter dem Kleid hervor. Die Verkommenheit der Welt ist allgegenwärtig, man muss sie nur sehen wollen. Umso befreiender darum das Internat, das für viele junge Algerierinnen nicht zuletzt eine Umkleidekabine ist: Die Pforte durchqueren sie noch mit Kopftuch und Überhang, aber hinter den blickdichten Mauern legen sie diese dann umgehend ab. Das nähert sie den Französinnen an, die schon allein aufgrund des politischen Machtgefälles auch die ästhetischen Standards setzen. Dass diese teils auch sachlich begründet sind, nehmen die jungen Algerierinnen hin. Auch Djebars Mutter zeigt sich vom fremden Kleidungsstil unverkennbar angetan: Kaum ist die Familie vom Land in die große Stadt, nach Algier, gezogen, kleidet sie sich nach Art der Europäerinnen.
Djebars Buch - dass die Bezeichnung "Roman" angemessen ist, daran kann man mit guten Gründen zweifeln - schildert sehr anschaulich eine Kindheit und Jugend in zwei Sprachen und Kulturen, oder anders gesagt: Es beschreibt das Geschenk, das es bedeutet, unter solchen Umständen groß zu werden. Natürlich: Die Franzosen betrieben in Algerien eine oft zynische und brutale Politik. Aber sie boten auch Gelegenheiten, die man nur zu ergreifen brauchte. Wunderbar die Passagen, in denen Djebar ihre Lektüreabenteuer beschreibt, die Erregung, die sie in den Werken der großen Autoren ergreift: Claudel, Rimbaud, Rivière, Péguy, Gide und andere. Ihnen zur Seite stehen die großen Werke der arabischen Literatur, die Mu'allakat, die großen Oden aus vorislamischer Zeit, oder das "Kitab al Aghani", "Das Buch der Lieder".
Doch Djebars jüngstes Buch ist alles andere als eine jubelnde Programmschrift des Multikulturalismus. Es erzählt von den jungen Jahren dieser nun nicht mehr jungen Schriftstellerin, von einem Leben, das sehr früh hätte enden können, aus Gründen, die mit jenem im Titel angedeuteten Raummangel im väterlichen Haus zu tun haben. Doch Djebar hatte Glück: Ihr Leben durfte weitergehen. So dass sie Jahrzehnte später ein Buch schrieb, das nicht zuletzt auch eines will: "Sich selbst Lebewohl sagen".
KERSTEN KNIPP
Assia Djebar: "Nirgendwo im Haus meines Vaters". Roman. Aus dem Französischen von Marlene Frucht. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 442 S., geb., 21,95 [Euro].
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