Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.11.2018Freies Denken
Der Fußballer Sócrates starb 2011, seitdem fehlt er seinem Land
Im Fußballbusiness erwirbt man den Beinamen „Legende“ ziemlich billig, manchmal reicht es, eine besonders beschissene Frisur gehabt zu haben, schon wird man später zur Legende erklärt. Der brasilianische Mittelfeldmann Sócrates allerdings trägt den Titel mit allem Recht. Schon sein Name klingt wie ein Monument: Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira. Dünn wie eine Stange, ewig lange Beine, Schuhgröße 41. Er schoss die Elfmeter aus dem Stand und trug einen Vollbart schon zu Zeiten, als noch nicht jeder Hipster einen trug.
Der Mann mit dem längsten Namen unter allen offiziell registrierten WM-Teilnehmern führte als Kapitän das brasilianische Team bei der Weltmeisterschaft 1982 an, seine Mitspieler waren Falcão, Zico, Junior, und dass die Brasilianer in der zweiten Finalrunde den zähen, nüchternen Italienern um Paolo Rossi unterlagen, schmälert nicht ihren Nachruhm. Die Welt respektiert Sieger, sie verehrt Verlierer.
Die Biografie „Doctor Sócrates: Footballer, Philosopher, Legend“ des Reuters-Journalisten Andrew Downie beschreibt den Spieler, der nebenbei ein Medizinstudium abgeschlossen hatte, Schwerpunkt Kinderheilkunde. Und sie porträtiert den Revolutionär Sócrates, Sohn einer Mittelschichtsfamilie, seine jüngeren Brüder hießen Sosthenes und Sophokles. Sócrates trank und rauchte, so viel er wollte, und er liebte, wen er wollte. Der hedonistisch ausgerichtete Mann war allerdings zugleich ein ernst zu nehmender Kämpfer für freies Denken in einem noch unfreien Land. Brasilien war eine Militärdiktatur, als Sócrates 1982 mit ein paar anderen bei seinem Club Corinthians São Paulo ein System der Mitbestimmung entwickelte. Keeper, Platzwart, Manager: Jeder konnte mitentscheiden, was auf den Speiseplan kam, wann am Tag vorm Spiel trainiert würde und welche Transfers sinnvoll sein könnten. Die Entschlossenheit, sich nichts vorschreiben zu lassen, war ein Signal auch an das Publikum, und so gesehen war die Democracia Corinthiana eine der seltenen Bewegungen im sonst so realitätsblinden Fußball, die tatsächlich eine politische Botschaft hatten. Statt Werbung trugen die Spieler Wahlaufrufe auf den Trikots, „Dia 15 vote!“ Am 15. November 1982 fanden die ersten halbwegs freien Wahlen in Brasilien statt.
Sócrates ist 2011 gestorben, mit 57. Die Sauferei. Er hatte sich die Freiheit genommen, seinen Körper früh zu ruinieren. Seitdem fehlt er seinem Land. Die Biografie erzählt von einem Fußballer, der die Kraft hatte, die Militärdiktatur zu destabilisieren. Es war ganz anders als heute, wo der Ultrarechte Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt geworden ist, ein Antidemokrat, der straffe, militärische Führung an die Stelle von Freiheit und Gedanken setzt – und unterstützt wird von den Fußballhelden Ronaldinho, Rivaldo und anderen. Der Fußball, die WM in Russland hat es ebenfalls gezeigt, läuft Gefahr, zum Instrument des Totalitarismus zu werden. Und so liest sich die Biografie des wunderbaren Sócrates – seit Sommer auf Englisch als überarbeitetes Paperback zu haben – inzwischen wie eine Nachrede auf eine andere Zeit, einen furchtloseren Fußball und ein glücklicheres Brasilien.
HOLGER GERTZ
Andrew Downie: Doctor Sócrates: Footballer, Philosopher, Legend. Simon & Schuster UK. (Englische Ausgabe)
Bei den Corinthians São Paulo
trugen die Spieler statt Werbung
Wahlaufrufe auf den Trikots
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Fußballer Sócrates starb 2011, seitdem fehlt er seinem Land
Im Fußballbusiness erwirbt man den Beinamen „Legende“ ziemlich billig, manchmal reicht es, eine besonders beschissene Frisur gehabt zu haben, schon wird man später zur Legende erklärt. Der brasilianische Mittelfeldmann Sócrates allerdings trägt den Titel mit allem Recht. Schon sein Name klingt wie ein Monument: Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira. Dünn wie eine Stange, ewig lange Beine, Schuhgröße 41. Er schoss die Elfmeter aus dem Stand und trug einen Vollbart schon zu Zeiten, als noch nicht jeder Hipster einen trug.
Der Mann mit dem längsten Namen unter allen offiziell registrierten WM-Teilnehmern führte als Kapitän das brasilianische Team bei der Weltmeisterschaft 1982 an, seine Mitspieler waren Falcão, Zico, Junior, und dass die Brasilianer in der zweiten Finalrunde den zähen, nüchternen Italienern um Paolo Rossi unterlagen, schmälert nicht ihren Nachruhm. Die Welt respektiert Sieger, sie verehrt Verlierer.
Die Biografie „Doctor Sócrates: Footballer, Philosopher, Legend“ des Reuters-Journalisten Andrew Downie beschreibt den Spieler, der nebenbei ein Medizinstudium abgeschlossen hatte, Schwerpunkt Kinderheilkunde. Und sie porträtiert den Revolutionär Sócrates, Sohn einer Mittelschichtsfamilie, seine jüngeren Brüder hießen Sosthenes und Sophokles. Sócrates trank und rauchte, so viel er wollte, und er liebte, wen er wollte. Der hedonistisch ausgerichtete Mann war allerdings zugleich ein ernst zu nehmender Kämpfer für freies Denken in einem noch unfreien Land. Brasilien war eine Militärdiktatur, als Sócrates 1982 mit ein paar anderen bei seinem Club Corinthians São Paulo ein System der Mitbestimmung entwickelte. Keeper, Platzwart, Manager: Jeder konnte mitentscheiden, was auf den Speiseplan kam, wann am Tag vorm Spiel trainiert würde und welche Transfers sinnvoll sein könnten. Die Entschlossenheit, sich nichts vorschreiben zu lassen, war ein Signal auch an das Publikum, und so gesehen war die Democracia Corinthiana eine der seltenen Bewegungen im sonst so realitätsblinden Fußball, die tatsächlich eine politische Botschaft hatten. Statt Werbung trugen die Spieler Wahlaufrufe auf den Trikots, „Dia 15 vote!“ Am 15. November 1982 fanden die ersten halbwegs freien Wahlen in Brasilien statt.
Sócrates ist 2011 gestorben, mit 57. Die Sauferei. Er hatte sich die Freiheit genommen, seinen Körper früh zu ruinieren. Seitdem fehlt er seinem Land. Die Biografie erzählt von einem Fußballer, der die Kraft hatte, die Militärdiktatur zu destabilisieren. Es war ganz anders als heute, wo der Ultrarechte Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt geworden ist, ein Antidemokrat, der straffe, militärische Führung an die Stelle von Freiheit und Gedanken setzt – und unterstützt wird von den Fußballhelden Ronaldinho, Rivaldo und anderen. Der Fußball, die WM in Russland hat es ebenfalls gezeigt, läuft Gefahr, zum Instrument des Totalitarismus zu werden. Und so liest sich die Biografie des wunderbaren Sócrates – seit Sommer auf Englisch als überarbeitetes Paperback zu haben – inzwischen wie eine Nachrede auf eine andere Zeit, einen furchtloseren Fußball und ein glücklicheres Brasilien.
HOLGER GERTZ
Andrew Downie: Doctor Sócrates: Footballer, Philosopher, Legend. Simon & Schuster UK. (Englische Ausgabe)
Bei den Corinthians São Paulo
trugen die Spieler statt Werbung
Wahlaufrufe auf den Trikots
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de