So fing das Erzählen an: Ulrike Draesner macht die Steinzeit hörbar und zeigt, wie nahe sie uns ist
Doggerland: ein Delta von der Größe Deutschlands, Herz Europas am Zusammenfluss von Themse und Rhein, Zentrum der steinzeitlichen Welt. Vor rund 8500 Jahren in einem Tsunami untergegangen, wird dieses Grenz- und Verbindungsland für Ulrike Draesner zum Ausgangspunkt wesentlicher Fragen des Menschseins: Wie bildete sich Gemeinschaft, wer hatte die Idee, Tiere zu zähmen, was machte man mit dem »fremden« Neandertaler? Auch Kunst, Liebe und Sprache mussten erfunden werden. Oszillierend zwischen Deutsch und Englisch, zwischen gebundener und freier Rede, wirft Draesners bereits vor der Veröffentlichung preisgekröntes Gedicht einen Blick zurück: vom immer wahrscheinlicheren Ende des Holozäns zu unseren Anfängen. Eine bewegende, von jahrhundertealten, meist männlichen Vorstellungen befreite lyrische Suche nach unseren Wurzeln.
Doggerland: ein Delta von der Größe Deutschlands, Herz Europas am Zusammenfluss von Themse und Rhein, Zentrum der steinzeitlichen Welt. Vor rund 8500 Jahren in einem Tsunami untergegangen, wird dieses Grenz- und Verbindungsland für Ulrike Draesner zum Ausgangspunkt wesentlicher Fragen des Menschseins: Wie bildete sich Gemeinschaft, wer hatte die Idee, Tiere zu zähmen, was machte man mit dem »fremden« Neandertaler? Auch Kunst, Liebe und Sprache mussten erfunden werden. Oszillierend zwischen Deutsch und Englisch, zwischen gebundener und freier Rede, wirft Draesners bereits vor der Veröffentlichung preisgekröntes Gedicht einen Blick zurück: vom immer wahrscheinlicheren Ende des Holozäns zu unseren Anfängen. Eine bewegende, von jahrhundertealten, meist männlichen Vorstellungen befreite lyrische Suche nach unseren Wurzeln.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Frank Schäfer müht sich ab mit Ulrike Draesners Experiment, das den Leser ins Nowhereland zwischen Kontinentaleuropa und England führt, wo sich vor 10.000 Jahren Neandertaler und Homo Sapiens ein Stelldichein gaben und ein "archaisches Idiom" aus Deutsch und Englisch entwickelten. Eben das versucht die Autorin laut Schäfer nachzuempfinden, indem sie dreispaltig und mit historischem Sprachmaterial einen Assoziationsraum eröffnet. Der Leser kann da nicht immer folgen, meint Schäfer, manches wirkt etymologisch fragwürdig oder gar kryptisch. Anderes wieder beschert dem "mitspielenden" Leser Aha-Erlebnisse und eine rührende Einfühlung in unsere Ahnen, räumt Schäfer ein. Der steinzeitliche Alltag, das Kommunizieren, Fallenstellen, Wölfezähmen und der ständige Kampf mit dem Klima werden offenbar, so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Als die Geierknochenflöte erfunden wurde
Neandertaler trifft Homo sapiens: Ulrike Draesners "Doggerland" bringt eine im Meer versunkene Welt als Langgedicht zurück.
Von Tilman Spreckelsen
Was soll das sein, dieses Doggerland? In Daniel Bleckmanns gleichnamigen Jugendbuch von 2020 ist das eine vor achttausend Jahren versunkene Welt, in die zwei heutige Kinder auf einer Zeitreise gelangen und lernen, "was wirklich zählt", nämlich ökologisches Bewusstsein. Oder ist es jener Archipel mit den Inseln Heimö, Frisel und Noorö zwischen Dänemark und der englischen Ostküste, das in Maria Adolfssons jüngst abgeschlossener Krimi-Trilogie gerade nicht untergegangen ist und heute die Heimat einer von den Nachbarn beeinflussten und doch ganz eigenständigen anglo-friesisch-skandinavischen Bevölkerung ist? Oder - so wird es in Carla und Vilhelm Hansens "Petzi"-Alben dargestellt - ein Land voller Saurier, Riesenpflanzen und wunderlicher Wesen, die den Kopf zwischen den Beinen tragen oder mit ihren eigenen Werkzeugen verwachsen sind und fliegend von Wolken aus Kuchenteig naschen, was sich aber alles am Ende des Abenteuers als gemeinsamer Drogentraum herausstellt? Oder entspricht das Land dem Bild, das die Fachwelt in einer Flut von Publikationen gezeichnet hat, ausgehend von den archäologischen Funden im Umkreis der Doggerbank, einer heutigen Untiefe in der Nordsee?
In Ulrike Draesners Buch "Doggerland" gibt die Autorin zu Beginn gleich zwei Antworten auf die Frage, was es damit auf sich hat: Einmal die nüchtern-erdgeschichtliche, wonach es sich um "ein Delta von der Größe Deutschlands" handelt, das in der Steinzeit immer weiter überflutet worden ist, "heute eine langgestreckte Untiefe zwischen der östlichsten Küste Englands und dem westlichen Meer vor Dänemark". Und außerdem, so die zweite Antwort, "Jagdgrund, Zuhause, jahrtausendelang" des mittelsteinzeitlichen Menschen: Woran erinnerte er sich, schaute worauf? Tundra und Steppe, Birke und Haselnuss, die sich erwärmende Zeit."
Dass es der Autorin um mehr geht als um eine mögliche Rekonstruktion der Lebensumstände jener, die in den über die Jahrtausende offenbar recht wechselhaften Bedingungen Doggerlands dort zu Hause waren, zeigen die unmittelbar folgenden Zeilen: "Die Vokale zerdehnte man im Mund, in der Unzerteiltheit eines matschigen, von riesigen Farnen, Kiefern, ersten Ulmen bestandenen Waldes", und in einer weiteren kurzen Vorrede (es folgen am Ende noch ein Text "Zum Verfahren", ein Glossar und ein Register) heißt es zu der geschilderten versunkenen Welt: "Es ist nicht möglich, sie zu erfinden, ohne auch ihre Sprache zu erfinden."
Was das heißt, zeigt sich von der ersten Seite dieses in jeder Hinsicht ambitionierten Werks, das entschlossen seinen Weg verfolgt. Wer da mitgehen will, muss als Erstes das aufgeschlagene Buch um neunzig Grad drehen. Der Text ist in drei Spalten unterteilt: in der Mitte das Langgedicht, das in sieben Kapiteln vom Doggerland erzählt und in einem achten aus einiger Entfernung auf die versunkene Welt ebenso zurückblickt wie auf die heute lebenden Menschen. Zwei Spalten, überschrieben mit "D" und "E", rahmen es mit einzelnen deutschen und englischen Worten ein, die das innere Gedicht kommentieren, mit einem Echo versehen oder fortführen, manchmal auch über die mittl ere Spalte hinweg einen Kontakt untereinander herstellen, vom deutschen "backen" zum englischen "back" durch Klang oder von "Geschenk" zu "gift" durch Übersetzung, was sich in der Mitte dann zu dem Wort "gifu" verbindet.
Die Sprache, die hier verwendet wird, scheint gerade zu entstehen, so wie sie sich auch in der Menschengruppe - unterteilt in Anwohner des großen doggerländischen Binnensees und in diejenigen, die im Wald und auf der Ebene wohnen - über einen langen Zeitraum entwickelt und uns so naturgemäß vertrauter wird, je länger wir lesen. Das Verfahren bewährt sich dort am schönsten, wo Draesner diese Sprachentstehung als behutsam tastenden Prozess darstellt, der auf die umgebende physische Welt ebenso reagiert wie auf den anderen in der Gemeinschaft und schließlich auf das entstehende Bewusstsein des eigenen Ich.
Seine Stationen sind nicht nur an den Einzelnen geknüpft, auch an die Gruppe und damit stellvertretend an die Menschheit: "Was ist das, wenn man so etwas wieder weiß?", heißt es einmal mit Blick auf verändert wiederkehrende Vegetationserscheinungen - mit einer solchen Frage ist für die Doggerlandbewohner das Konzept der Erinnerung in greifbarer Nähe. Oder eine Gans schlüpft in der Gegenwart von Menschen aus einem gesammelten Ei, "zahm von selbst". Die gemeinsame Jagd wird abgehalten, mit Unterstützung - auch das eine Revolution - durch andere Tiere. Hier sind es Frauen, die jagen und sich von den Männern absondern, um anschließend ihre Erlebnisse als Höhlenmalerei zu bannen. Andere Stationen der kulturellen Entwicklung sind die Bestattung, die Draesner mit der Erschaffung der Flöte aus einem Geierknochen verbindet, und auch den entstehenden Gesprächen untereinander widmet sie ihre Aufmerksamkeit: "So fing lauschig (nahezu) / - das plaudern an (catch it) flog als chat durch / die luft".
Die Autorin widmet sich diesem Miteinander, das oft von Sprache und ebenso oft von Sprachlosigkeit bestimmt ist, in unterschiedlichen Facetten, sie schildert männliche Aggression und die Folgen, das Zusammentreffen von Neandertalern mit den neu eingewanderten modernen Menschen samt zärtlichen Interaktionen und der Erfahrung, dass die Begegnung mit Fremden alles verändern kann, auch die eigene Sprache: "nichts bleibt was / es war. ihr ist als fiele stein Pflanze tier über sie her verlange nach / form."
Wo alles Anfang ist, alles zum ersten Mal geschieht, ist die Aufgabe, den Phänomenen sprachliche Form zu verleihen, ebenso reizvoll wie riskant. Draesner nutzt diese Chance beeindruckend. Sie gibt ihrem Doggerland mit großer Virtuosität eine Frische, die im versunkenen Gebiet überraschenderweise sogar Züge eines Sehnsuchtsorts erkennen lässt. Dass sie es zugleich als lebendig wie als völlig artifiziell zeichnet, macht den eigentümlichen Reiz dieses Langgedichts aus.
Ulrike Draesner: "Doggerland".
Penguin Verlag, München 2021. 184 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neandertaler trifft Homo sapiens: Ulrike Draesners "Doggerland" bringt eine im Meer versunkene Welt als Langgedicht zurück.
Von Tilman Spreckelsen
Was soll das sein, dieses Doggerland? In Daniel Bleckmanns gleichnamigen Jugendbuch von 2020 ist das eine vor achttausend Jahren versunkene Welt, in die zwei heutige Kinder auf einer Zeitreise gelangen und lernen, "was wirklich zählt", nämlich ökologisches Bewusstsein. Oder ist es jener Archipel mit den Inseln Heimö, Frisel und Noorö zwischen Dänemark und der englischen Ostküste, das in Maria Adolfssons jüngst abgeschlossener Krimi-Trilogie gerade nicht untergegangen ist und heute die Heimat einer von den Nachbarn beeinflussten und doch ganz eigenständigen anglo-friesisch-skandinavischen Bevölkerung ist? Oder - so wird es in Carla und Vilhelm Hansens "Petzi"-Alben dargestellt - ein Land voller Saurier, Riesenpflanzen und wunderlicher Wesen, die den Kopf zwischen den Beinen tragen oder mit ihren eigenen Werkzeugen verwachsen sind und fliegend von Wolken aus Kuchenteig naschen, was sich aber alles am Ende des Abenteuers als gemeinsamer Drogentraum herausstellt? Oder entspricht das Land dem Bild, das die Fachwelt in einer Flut von Publikationen gezeichnet hat, ausgehend von den archäologischen Funden im Umkreis der Doggerbank, einer heutigen Untiefe in der Nordsee?
In Ulrike Draesners Buch "Doggerland" gibt die Autorin zu Beginn gleich zwei Antworten auf die Frage, was es damit auf sich hat: Einmal die nüchtern-erdgeschichtliche, wonach es sich um "ein Delta von der Größe Deutschlands" handelt, das in der Steinzeit immer weiter überflutet worden ist, "heute eine langgestreckte Untiefe zwischen der östlichsten Küste Englands und dem westlichen Meer vor Dänemark". Und außerdem, so die zweite Antwort, "Jagdgrund, Zuhause, jahrtausendelang" des mittelsteinzeitlichen Menschen: Woran erinnerte er sich, schaute worauf? Tundra und Steppe, Birke und Haselnuss, die sich erwärmende Zeit."
Dass es der Autorin um mehr geht als um eine mögliche Rekonstruktion der Lebensumstände jener, die in den über die Jahrtausende offenbar recht wechselhaften Bedingungen Doggerlands dort zu Hause waren, zeigen die unmittelbar folgenden Zeilen: "Die Vokale zerdehnte man im Mund, in der Unzerteiltheit eines matschigen, von riesigen Farnen, Kiefern, ersten Ulmen bestandenen Waldes", und in einer weiteren kurzen Vorrede (es folgen am Ende noch ein Text "Zum Verfahren", ein Glossar und ein Register) heißt es zu der geschilderten versunkenen Welt: "Es ist nicht möglich, sie zu erfinden, ohne auch ihre Sprache zu erfinden."
Was das heißt, zeigt sich von der ersten Seite dieses in jeder Hinsicht ambitionierten Werks, das entschlossen seinen Weg verfolgt. Wer da mitgehen will, muss als Erstes das aufgeschlagene Buch um neunzig Grad drehen. Der Text ist in drei Spalten unterteilt: in der Mitte das Langgedicht, das in sieben Kapiteln vom Doggerland erzählt und in einem achten aus einiger Entfernung auf die versunkene Welt ebenso zurückblickt wie auf die heute lebenden Menschen. Zwei Spalten, überschrieben mit "D" und "E", rahmen es mit einzelnen deutschen und englischen Worten ein, die das innere Gedicht kommentieren, mit einem Echo versehen oder fortführen, manchmal auch über die mittl ere Spalte hinweg einen Kontakt untereinander herstellen, vom deutschen "backen" zum englischen "back" durch Klang oder von "Geschenk" zu "gift" durch Übersetzung, was sich in der Mitte dann zu dem Wort "gifu" verbindet.
Die Sprache, die hier verwendet wird, scheint gerade zu entstehen, so wie sie sich auch in der Menschengruppe - unterteilt in Anwohner des großen doggerländischen Binnensees und in diejenigen, die im Wald und auf der Ebene wohnen - über einen langen Zeitraum entwickelt und uns so naturgemäß vertrauter wird, je länger wir lesen. Das Verfahren bewährt sich dort am schönsten, wo Draesner diese Sprachentstehung als behutsam tastenden Prozess darstellt, der auf die umgebende physische Welt ebenso reagiert wie auf den anderen in der Gemeinschaft und schließlich auf das entstehende Bewusstsein des eigenen Ich.
Seine Stationen sind nicht nur an den Einzelnen geknüpft, auch an die Gruppe und damit stellvertretend an die Menschheit: "Was ist das, wenn man so etwas wieder weiß?", heißt es einmal mit Blick auf verändert wiederkehrende Vegetationserscheinungen - mit einer solchen Frage ist für die Doggerlandbewohner das Konzept der Erinnerung in greifbarer Nähe. Oder eine Gans schlüpft in der Gegenwart von Menschen aus einem gesammelten Ei, "zahm von selbst". Die gemeinsame Jagd wird abgehalten, mit Unterstützung - auch das eine Revolution - durch andere Tiere. Hier sind es Frauen, die jagen und sich von den Männern absondern, um anschließend ihre Erlebnisse als Höhlenmalerei zu bannen. Andere Stationen der kulturellen Entwicklung sind die Bestattung, die Draesner mit der Erschaffung der Flöte aus einem Geierknochen verbindet, und auch den entstehenden Gesprächen untereinander widmet sie ihre Aufmerksamkeit: "So fing lauschig (nahezu) / - das plaudern an (catch it) flog als chat durch / die luft".
Die Autorin widmet sich diesem Miteinander, das oft von Sprache und ebenso oft von Sprachlosigkeit bestimmt ist, in unterschiedlichen Facetten, sie schildert männliche Aggression und die Folgen, das Zusammentreffen von Neandertalern mit den neu eingewanderten modernen Menschen samt zärtlichen Interaktionen und der Erfahrung, dass die Begegnung mit Fremden alles verändern kann, auch die eigene Sprache: "nichts bleibt was / es war. ihr ist als fiele stein Pflanze tier über sie her verlange nach / form."
Wo alles Anfang ist, alles zum ersten Mal geschieht, ist die Aufgabe, den Phänomenen sprachliche Form zu verleihen, ebenso reizvoll wie riskant. Draesner nutzt diese Chance beeindruckend. Sie gibt ihrem Doggerland mit großer Virtuosität eine Frische, die im versunkenen Gebiet überraschenderweise sogar Züge eines Sehnsuchtsorts erkennen lässt. Dass sie es zugleich als lebendig wie als völlig artifiziell zeichnet, macht den eigentümlichen Reiz dieses Langgedichts aus.
Ulrike Draesner: "Doggerland".
Penguin Verlag, München 2021. 184 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Doggerbank ist eine Untiefe in der Nordsee, östlich der britischen, westlich der dänischen Küste. In ihrem dreigliedrigen Textkörper lässt Ulrike Draesner mit großer Kunstfertigkeit das untergegangene Land, das hier einst lag, wieder auferstehen. Alles ist im Fluss, alles ist in Bewegung. So öffnet sich ein riesiger Raum.« SWR Bestenliste Dezember 2021, Platz 7, Begründung der Jury