Auf der Grundlage des Faust-Stoffes hat Thomas Mann in seinem 1947 erschienenen Musiker-Roman eine Parabel für die Verstrickung des Künstlertums in die politische Katastrophe des Nationalsozialismus geschaffen.
Textgrundlage für diesen Band ist die sogenannte Wiener Ausgabe von 1948, die zahlreiche Detailfehler der bisherigen Drucke korrigiert.
In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA), mit Daten zu Leben und Werk.
Textgrundlage für diesen Band ist die sogenannte Wiener Ausgabe von 1948, die zahlreiche Detailfehler der bisherigen Drucke korrigiert.
In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA), mit Daten zu Leben und Werk.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2007Endwerk
Mehr als ein Roman: Was uns der "Doktor Faustus" sagt
Soll man Zahlen Bedeutung beimessen? Den Segen des Autors, um den es in diesem Sommer (wieder einmal) gehen wird, hätte man jedenfalls. Also: War es Zufall, dass an diesem 17. Juni, dem alten und manche sagen: immer noch eigentlichen Tag der Deutschen Einheit, im Lübecker Rathaus die Neuausgabe des "Doktor Faustus" vorgestellt wurde? Es war dieses gewaltige Buch, das vor bald sechzig Jahren die Nation und deren beste Köpfe herausforderte wie zuvor und auch danach kein anderer deutschsprachiger Roman. Dieser hier kam - von einem vorgeblichen Langsamschreiber - überpünktlich zu den Aufräumarbeiten, an die sich Deutschland damals in jeder Hinsicht zu machen begann - und er war doch wie nicht bestellt. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, der "Doktor Faustus" habe, zusätzlich zur bereits sich abzeichnenden territorialen Teilung, das Land noch einmal geteilt - zwar nur geistig, aber dafür steht diese Mauer zwischen den Köpfen auch länger als die zwischen Ost und West.
Bis heute gibt es, neben den vielen Bewunderern und Skeptikern, Leser, die von einer Fehlkonstruktion oder Schlimmerem sprechen. Jenseits des Literarästhetischen bleibt das Faktum, dass dieser Künstler-, Nietzsche-, Deutschland- und insgesamt Epochenroman das politische Nachdenken sofort und mit einer Heftigkeit in Gang gesetzt hat, die alles Bisherige übertraf und die, mit den rezeptionstechnisch üblichen Konjunkturen, so lange vorhielt und vermutlich auch noch vorhalten wird, dass man die Debatten um den "Doktor Faustus" als die Mutter aller politischen Schlachten auf dem Felde der Literatur bezeichnen kann. Thomas Mann selbst sah in ihm, angeregt und zugleich verunsichert durch die damalige Joyce-Rezeption, eine "novel to end all novels". Ästhetisch trifft die Rede vom "Endwerk", das freilich auch nicht sein letztes blieb, zu; politisch aber war es ein Fass ohne Boden, das damit aufgemacht war.
Deswegen erübrigt es sich auch, bei jeder Gelegenheit zu behaupten, das Buch sei "aktueller denn je", wie dies bei runden oder halbwegs runden Jahrestagen üblich ist. Wann immer wir von epochalen nationalpolitischen Ereignissen und Debatten der vergangenen Jahrzehnte sprechen, können oder sollten wir dies tun im Hinblick auf den "Doktor Faustus". An ihm entzündete sich der Streit um die sogenannte innere Emigration: Durfte über Deutschland nach 1945 mitreden, wer zur schlimmen Zeit gar nicht im Land gewesen war? (Dies ließ sich - auch da blieb der Roman "aktuell" - auf die Debatte um die untergegangene DDR übertragen.) Er lieferte hochexplosives Material zur Kollektivschuldthese: Waren alle Nationalsozialisten? Er fragte nach der politisch-historisch-kulturellen Kontinuität: Waren die zwölf Jahre ein Betriebsunfall oder sozusagen von langer Hand angelegt? Er auch regte in ganz grundsätzlicher Weise dazu an, über das Wesen des (politischen) Irrationalismus nachzudenken: War Deutschland einen Pakt mit dem Teufel eingegangen und der Einzelne infolgedessen gar nicht weiter zur Rechenschaft zu ziehen? Und schließlich stellte er die Frage nach der Einzigartigkeit der deutschen Schuld: Verdankte sich die beispiellose Verirrung einer spezifisch nationalen Veranlagung?
Die Geschichtswissenschaft hat auf alle diese Fragen Antworten erbracht, deren Differenziertheit wohl auch Thomas Mann Respekt abgenötigt hätte - ganz zu Rande gekommen ist sie damit nicht, das liegt im Wesen der Sache. Die, wenn man es so nennen darf, Unabschließbarkeit der Akte Deutschland, die Unendlichkeit der damit verbundenen Fragen hat Thomas Mann damals wahrscheinlich auch nicht geahnt; aber er hat sie ästhetisch umgesetzt, auf die ihm eigene Weise: mit der Ambivalenz des Ja-und-Nein, des Teils-teils. Diese Strategie, die für ihn eine Notwendigkeit war, sichert dem Werk Haltbarkeit.
Welche Wucht der "Doktor Faustus" damals entfaltete und bald vielleicht aufs Neue entfalten wird, lässt sich daran ablesen, dass die Streitpunkte, die einem literarischen Werk heute Aufmerksamkeit sichern, vor dem skizzierten Hintergrund doch ziemlich verblassen: Plagiat, Bloßstellung lebender Personen und Antisemitismus. Den Streit mit Schönberg/Adorno und den abgekupferten Bekannten sowie die Frage, in welchem Licht jüdisches Romanpersonal erscheine, haben Autor und Werk unbeschadet überstanden. Man muss das Buch nicht mögen - die Gründlichkeit der Selbst- und Deutschlandkritik, die hier nahezu unentwirrbar ineinander verflochten ist, lassen es als das Urmuster des politischen Romans erscheinen, hinter das man nicht zurückkann.
Nicht zurück kann man auch hinter Marketingstrategien. Die vom Buddenbrook-Haus und S. Fischer veranstaltete feierliche Präsentation war gewissermaßen erst das Richtfest und diente wohl auch zur Beruhigung des Buchhandels - nach dem Motto "Land in Sicht": Denn der von Ruprecht Wimmer, dem langjährigen Präsidenten der Thomas-Mann-Gesellschaft, zu verantwortende Kommentarband, der innerhalb der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe sicherlich einen Meilenstein darstellt, ist noch gar nicht ganz fertig; der Verlag stellte sein Erscheinen, nun wohl endgültig, für August in feste Aussicht. Der Text aber ist jetzt da. Fangen wir also schon mal an, den "Doktor Faustus" zu lesen. Es ist nur ein Roman - aber was für einer!
EDO REENTS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mehr als ein Roman: Was uns der "Doktor Faustus" sagt
Soll man Zahlen Bedeutung beimessen? Den Segen des Autors, um den es in diesem Sommer (wieder einmal) gehen wird, hätte man jedenfalls. Also: War es Zufall, dass an diesem 17. Juni, dem alten und manche sagen: immer noch eigentlichen Tag der Deutschen Einheit, im Lübecker Rathaus die Neuausgabe des "Doktor Faustus" vorgestellt wurde? Es war dieses gewaltige Buch, das vor bald sechzig Jahren die Nation und deren beste Köpfe herausforderte wie zuvor und auch danach kein anderer deutschsprachiger Roman. Dieser hier kam - von einem vorgeblichen Langsamschreiber - überpünktlich zu den Aufräumarbeiten, an die sich Deutschland damals in jeder Hinsicht zu machen begann - und er war doch wie nicht bestellt. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, der "Doktor Faustus" habe, zusätzlich zur bereits sich abzeichnenden territorialen Teilung, das Land noch einmal geteilt - zwar nur geistig, aber dafür steht diese Mauer zwischen den Köpfen auch länger als die zwischen Ost und West.
Bis heute gibt es, neben den vielen Bewunderern und Skeptikern, Leser, die von einer Fehlkonstruktion oder Schlimmerem sprechen. Jenseits des Literarästhetischen bleibt das Faktum, dass dieser Künstler-, Nietzsche-, Deutschland- und insgesamt Epochenroman das politische Nachdenken sofort und mit einer Heftigkeit in Gang gesetzt hat, die alles Bisherige übertraf und die, mit den rezeptionstechnisch üblichen Konjunkturen, so lange vorhielt und vermutlich auch noch vorhalten wird, dass man die Debatten um den "Doktor Faustus" als die Mutter aller politischen Schlachten auf dem Felde der Literatur bezeichnen kann. Thomas Mann selbst sah in ihm, angeregt und zugleich verunsichert durch die damalige Joyce-Rezeption, eine "novel to end all novels". Ästhetisch trifft die Rede vom "Endwerk", das freilich auch nicht sein letztes blieb, zu; politisch aber war es ein Fass ohne Boden, das damit aufgemacht war.
Deswegen erübrigt es sich auch, bei jeder Gelegenheit zu behaupten, das Buch sei "aktueller denn je", wie dies bei runden oder halbwegs runden Jahrestagen üblich ist. Wann immer wir von epochalen nationalpolitischen Ereignissen und Debatten der vergangenen Jahrzehnte sprechen, können oder sollten wir dies tun im Hinblick auf den "Doktor Faustus". An ihm entzündete sich der Streit um die sogenannte innere Emigration: Durfte über Deutschland nach 1945 mitreden, wer zur schlimmen Zeit gar nicht im Land gewesen war? (Dies ließ sich - auch da blieb der Roman "aktuell" - auf die Debatte um die untergegangene DDR übertragen.) Er lieferte hochexplosives Material zur Kollektivschuldthese: Waren alle Nationalsozialisten? Er fragte nach der politisch-historisch-kulturellen Kontinuität: Waren die zwölf Jahre ein Betriebsunfall oder sozusagen von langer Hand angelegt? Er auch regte in ganz grundsätzlicher Weise dazu an, über das Wesen des (politischen) Irrationalismus nachzudenken: War Deutschland einen Pakt mit dem Teufel eingegangen und der Einzelne infolgedessen gar nicht weiter zur Rechenschaft zu ziehen? Und schließlich stellte er die Frage nach der Einzigartigkeit der deutschen Schuld: Verdankte sich die beispiellose Verirrung einer spezifisch nationalen Veranlagung?
Die Geschichtswissenschaft hat auf alle diese Fragen Antworten erbracht, deren Differenziertheit wohl auch Thomas Mann Respekt abgenötigt hätte - ganz zu Rande gekommen ist sie damit nicht, das liegt im Wesen der Sache. Die, wenn man es so nennen darf, Unabschließbarkeit der Akte Deutschland, die Unendlichkeit der damit verbundenen Fragen hat Thomas Mann damals wahrscheinlich auch nicht geahnt; aber er hat sie ästhetisch umgesetzt, auf die ihm eigene Weise: mit der Ambivalenz des Ja-und-Nein, des Teils-teils. Diese Strategie, die für ihn eine Notwendigkeit war, sichert dem Werk Haltbarkeit.
Welche Wucht der "Doktor Faustus" damals entfaltete und bald vielleicht aufs Neue entfalten wird, lässt sich daran ablesen, dass die Streitpunkte, die einem literarischen Werk heute Aufmerksamkeit sichern, vor dem skizzierten Hintergrund doch ziemlich verblassen: Plagiat, Bloßstellung lebender Personen und Antisemitismus. Den Streit mit Schönberg/Adorno und den abgekupferten Bekannten sowie die Frage, in welchem Licht jüdisches Romanpersonal erscheine, haben Autor und Werk unbeschadet überstanden. Man muss das Buch nicht mögen - die Gründlichkeit der Selbst- und Deutschlandkritik, die hier nahezu unentwirrbar ineinander verflochten ist, lassen es als das Urmuster des politischen Romans erscheinen, hinter das man nicht zurückkann.
Nicht zurück kann man auch hinter Marketingstrategien. Die vom Buddenbrook-Haus und S. Fischer veranstaltete feierliche Präsentation war gewissermaßen erst das Richtfest und diente wohl auch zur Beruhigung des Buchhandels - nach dem Motto "Land in Sicht": Denn der von Ruprecht Wimmer, dem langjährigen Präsidenten der Thomas-Mann-Gesellschaft, zu verantwortende Kommentarband, der innerhalb der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe sicherlich einen Meilenstein darstellt, ist noch gar nicht ganz fertig; der Verlag stellte sein Erscheinen, nun wohl endgültig, für August in feste Aussicht. Der Text aber ist jetzt da. Fangen wir also schon mal an, den "Doktor Faustus" zu lesen. Es ist nur ein Roman - aber was für einer!
EDO REENTS
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"Das Hörspiel von Thomas Mann "Doktor Faustus" setzt den Maßstab der Kongenialität."