Als sie Doktor Josef zum ersten Mal gegenüberstand, war die kleine Czechna gerade mal zwölf Jahre alt. Und noch heute als Greisin betont sie, wie sehr der Lagerarzt von ihrer Schönheit fasziniert war: »Wissen Sie denn nicht, wen Sie vor sich haben?« entgegnet sie empört einem Verehrer im Altersheim, »vor Ihnen sitzt Miss Auschwitz.« Jetzt teilt Frau Czechna ihr Schicksal mit Herrn Henoch, Frau Benia und Herrn Leon, sie alle sind dreifach gefangen: im Heim, in ihren gebrechlichen Körpern und in ihren Lebensgeschichten. Im trostlosen Alltag der Seniorenresidenz werden ihre Erinnerungen an die Kindheit immer greifbarer. Schon einmal haben sie alles hinter sich gelassen, schon einmal waren sie als namenlose Kreaturen der Gnade Stärkerer ausgeliefert. Inzwischen ist es die Arroganz des Pflegepersonals, gegen die sich Frau Czechna und ihre Freunde zu behaupten haben. Sie kämpfen um ihre Würde, die ihnen an diesem Ort aufs Neue entzogen wird. Ob sarkastisch, larmoyant, übermütig oder eitel die Schönheit dieser Alten liegt in ihrem Eigensinn. Doktor Josefs Schönste ist ein bewegendes Buch über Alter und Erinnerung, Leben und Überleben, Mutterwitz und Menschenwürde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2010Doktor Josefs Schönste und die Schrecken von Auschwitz
Die polnische Autorin und Psychotherapeutin Zyta Rudzka erfindet eine Heldin, die zu Mengeles Auserwählten gehörte: ein mehr als riskantes Erzählexperiment.
Frau Czechna ist anders. Anders als die sabbernden Greisinnen und mit Prostatitis kämpfenden Alten, mit denen sie im Heim ihre letzten Tage verbringen muss und von denen sich niemand für ihre Geschichte interessiert. "Solange ich hübsch aussehe, lebe ich. Das habe ich schon als Kind begriffen", sagt sie und erinnert sich mit ihren blutrot geschminkten Lippen an die Zeit, als sie "Doktor Josefs Schönste" war, die kleine "Miss Auschwitz", wie sie heute jedem erzählt.
Fiktive Schoa-Literatur steht stets unter einem besonderen Legitimationsdruck. "Der Holocaust eignet sich hervorragend für Kitsch und Pornographie", schrieb Ruth Klüger einmal. Braucht es nach all den erschütternden biographischen Zeugnissen wirklich noch Schoa-Geschichten, die von Nachgeborenen erfunden wurden? Die Frage scheint längst positiv beantwortet - von Jorge Semprún, der sich 2003 vor Soazig Aarons großem Roman "Klaras Nein" verbeugte. Und dennoch stellt sie sich mit jedem weiteren Literarisierungsversuch wieder neu.
Die polnische Autorin Zyta Rudzka, Jahrgang 1964, erzählt von einer Frau, die einmal zu Josef Mengeles Auserwählten gehörte. Frau Czechna und ihre Schwester Leokadia verdanken ihr Überleben einzig der Lüge, Zwillinge zu sein; schon auf der Rampe wurden die beiden ihrer Mutter weggerissen. Man weiß von überlebenden Opfern Mengeles, welch komplizierte, prägende Gefühlsbeziehung mitunter zwischen ihnen und ihrem Peiniger entstand.
Die Zwillinge und Zwergwüchsigen, mit denen Mengele seine Versuche anstellte, besaßen in Auschwitz eine Sonderstellung. Einige von ihnen durften sich relativ frei bewegen, bekamen besseres Essen, durften sogar ihr Haar behalten. Sie wussten, dass sie für diesen liebenswürdigen, gutaussehenden, in all dem Gestank stets wohlriechenden Arzt wertvoll waren. Dass er es war, der sie weiter leben ließ; sie wollten und mussten ihm daher gefallen.
Insofern ist eine traumatisierte Überlebende wie Frau Czechna, die im Alter davon träumt, wie sie sich einst als Zwölfjährige nackt unter Mengeles begehrendem Blick drehte und stoisch-stolz die Schmerzen ertrug, die er ihr zufügte, psychologisch glaubwürdiger, als es der Leser zunächst wahrhaben möchte. Selbst ein so ungeheuerlicher Satz wie "Ich hätte das nie gedacht . . . aber ich sehne mich nach dem Lager" mag von daher einen perversen Sinn ergeben.
Eindringlich, von schmerzlicher Intensität ist auch die Beschreibung der Essstörungen von Czechnas Schwester. Noch Jahre nach der Folter im Konzentrationslager weigert sich ihre Speiseröhre, Fremdkörper durchzulassen; dennoch sind in jedem Winkel ihres Zimmers Essensreste versteckt.
Schlaglichtartig setzt sich aus Gesprächen der Heimbewohner und aus eingestreuten Rückblenden das Nachkriegsleben der ungleichen Schwestern zusammen: Frau Leokadia holte ihrem alkoholkranken, sadistischen Mann zuliebe ihren Sträflingsanzug aus dem Schrank und stand vor ihm Appell. Frau Czechna, der später als Spätfolge der Experimente ein Unterarm amputiert werden musste, tingelte als Zeitzeugin von Schule zu Schule. Bis man sie nicht mehr einlud, weil sie Schüler gezwungen hatte, verschimmeltes Brot zu essen.
Die Problematik des Romans liegt nicht in seinen um ihre Erinnerungen und um Gehör kämpfenden Protagonistinnen. Sondern in seiner Obsession für Krankheit und körperlichen Verfall. Immer wieder schwelgt Rudzkas lyrische Prosa im Aufzählen all der Gebrechen der Heimbewohner, listet penibel abstoßende Details auf: "Wangen mit blauen Flecken, Wunden, eiternden Kratzern. Löschpapierlider. Krankhaft aufgedunsene Bäuche. Zerfurchte Hände. Knotige Finger. Verkrümmte Zehen. Auswüchse. Geschwülste. Wasserablagerungen."
Soll so gegen die perversen Selektionskriterien Mengeles angeschrieben werden, für den schon eine Hautunreinheit ein Grund war, mit seiner Reitgerte Richtung Gaskammern zu deuten? Oder ist es nicht gerade dieser zwanghaft böse Blick der Erzählerin, der die Figuren ihrer Würde beraubt und sie regelrecht vorführt? Es ist eine skurrile Gesellschaft, die Zyta Rudzka hier einen endlosen Sommer lang im Speisesaal oder auf der Terrasse beieinandersitzen und vor sich hin schwatzen lässt: Die ehemaligen Hausfrauen, Diplomaten, Physiker und Muttersöhnchen vertreiben sich die Zeit damit, sich beim Essen wegen ausbleibenden Besuchs aufzuziehen, sich gegenseitig in exotischen Krankheiten zu übertrumpfen, den Betreuerinnen beim Windelwechseln schadenfroh auf die Hände zu pinkeln oder auf den Gängen Kothaufen zu hinterlassen.
Mindestens Unbehagen löst nicht zuletzt die Parallelisierung zwischen Leben im Heim und Leben im KZ aus: Die Alten müssen Armbinden tragen, um außerhalb des Geländes erkennbar zu sein. Sie müssen die perfiden Witze ihres Direktors ertragen und leben ständig in der Angst, so schwach zu werden, dass sie in das rätselhafte "Haus am See" verlegt werden, also, im Nazi-Jargon, "ausselektiert" werden. Dies alles bleibt jedoch zu diffus und in seinen erzählerischen Mitteln zu holzschnitthaft, als dass es zu überzeugen vermöchte.
OLIVER PFOHLMANN.
Zyta Rudzka: "Doktor Josefs Schönste". Roman.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Ammann Verlag, Zürich 2009. 320 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die polnische Autorin und Psychotherapeutin Zyta Rudzka erfindet eine Heldin, die zu Mengeles Auserwählten gehörte: ein mehr als riskantes Erzählexperiment.
Frau Czechna ist anders. Anders als die sabbernden Greisinnen und mit Prostatitis kämpfenden Alten, mit denen sie im Heim ihre letzten Tage verbringen muss und von denen sich niemand für ihre Geschichte interessiert. "Solange ich hübsch aussehe, lebe ich. Das habe ich schon als Kind begriffen", sagt sie und erinnert sich mit ihren blutrot geschminkten Lippen an die Zeit, als sie "Doktor Josefs Schönste" war, die kleine "Miss Auschwitz", wie sie heute jedem erzählt.
Fiktive Schoa-Literatur steht stets unter einem besonderen Legitimationsdruck. "Der Holocaust eignet sich hervorragend für Kitsch und Pornographie", schrieb Ruth Klüger einmal. Braucht es nach all den erschütternden biographischen Zeugnissen wirklich noch Schoa-Geschichten, die von Nachgeborenen erfunden wurden? Die Frage scheint längst positiv beantwortet - von Jorge Semprún, der sich 2003 vor Soazig Aarons großem Roman "Klaras Nein" verbeugte. Und dennoch stellt sie sich mit jedem weiteren Literarisierungsversuch wieder neu.
Die polnische Autorin Zyta Rudzka, Jahrgang 1964, erzählt von einer Frau, die einmal zu Josef Mengeles Auserwählten gehörte. Frau Czechna und ihre Schwester Leokadia verdanken ihr Überleben einzig der Lüge, Zwillinge zu sein; schon auf der Rampe wurden die beiden ihrer Mutter weggerissen. Man weiß von überlebenden Opfern Mengeles, welch komplizierte, prägende Gefühlsbeziehung mitunter zwischen ihnen und ihrem Peiniger entstand.
Die Zwillinge und Zwergwüchsigen, mit denen Mengele seine Versuche anstellte, besaßen in Auschwitz eine Sonderstellung. Einige von ihnen durften sich relativ frei bewegen, bekamen besseres Essen, durften sogar ihr Haar behalten. Sie wussten, dass sie für diesen liebenswürdigen, gutaussehenden, in all dem Gestank stets wohlriechenden Arzt wertvoll waren. Dass er es war, der sie weiter leben ließ; sie wollten und mussten ihm daher gefallen.
Insofern ist eine traumatisierte Überlebende wie Frau Czechna, die im Alter davon träumt, wie sie sich einst als Zwölfjährige nackt unter Mengeles begehrendem Blick drehte und stoisch-stolz die Schmerzen ertrug, die er ihr zufügte, psychologisch glaubwürdiger, als es der Leser zunächst wahrhaben möchte. Selbst ein so ungeheuerlicher Satz wie "Ich hätte das nie gedacht . . . aber ich sehne mich nach dem Lager" mag von daher einen perversen Sinn ergeben.
Eindringlich, von schmerzlicher Intensität ist auch die Beschreibung der Essstörungen von Czechnas Schwester. Noch Jahre nach der Folter im Konzentrationslager weigert sich ihre Speiseröhre, Fremdkörper durchzulassen; dennoch sind in jedem Winkel ihres Zimmers Essensreste versteckt.
Schlaglichtartig setzt sich aus Gesprächen der Heimbewohner und aus eingestreuten Rückblenden das Nachkriegsleben der ungleichen Schwestern zusammen: Frau Leokadia holte ihrem alkoholkranken, sadistischen Mann zuliebe ihren Sträflingsanzug aus dem Schrank und stand vor ihm Appell. Frau Czechna, der später als Spätfolge der Experimente ein Unterarm amputiert werden musste, tingelte als Zeitzeugin von Schule zu Schule. Bis man sie nicht mehr einlud, weil sie Schüler gezwungen hatte, verschimmeltes Brot zu essen.
Die Problematik des Romans liegt nicht in seinen um ihre Erinnerungen und um Gehör kämpfenden Protagonistinnen. Sondern in seiner Obsession für Krankheit und körperlichen Verfall. Immer wieder schwelgt Rudzkas lyrische Prosa im Aufzählen all der Gebrechen der Heimbewohner, listet penibel abstoßende Details auf: "Wangen mit blauen Flecken, Wunden, eiternden Kratzern. Löschpapierlider. Krankhaft aufgedunsene Bäuche. Zerfurchte Hände. Knotige Finger. Verkrümmte Zehen. Auswüchse. Geschwülste. Wasserablagerungen."
Soll so gegen die perversen Selektionskriterien Mengeles angeschrieben werden, für den schon eine Hautunreinheit ein Grund war, mit seiner Reitgerte Richtung Gaskammern zu deuten? Oder ist es nicht gerade dieser zwanghaft böse Blick der Erzählerin, der die Figuren ihrer Würde beraubt und sie regelrecht vorführt? Es ist eine skurrile Gesellschaft, die Zyta Rudzka hier einen endlosen Sommer lang im Speisesaal oder auf der Terrasse beieinandersitzen und vor sich hin schwatzen lässt: Die ehemaligen Hausfrauen, Diplomaten, Physiker und Muttersöhnchen vertreiben sich die Zeit damit, sich beim Essen wegen ausbleibenden Besuchs aufzuziehen, sich gegenseitig in exotischen Krankheiten zu übertrumpfen, den Betreuerinnen beim Windelwechseln schadenfroh auf die Hände zu pinkeln oder auf den Gängen Kothaufen zu hinterlassen.
Mindestens Unbehagen löst nicht zuletzt die Parallelisierung zwischen Leben im Heim und Leben im KZ aus: Die Alten müssen Armbinden tragen, um außerhalb des Geländes erkennbar zu sein. Sie müssen die perfiden Witze ihres Direktors ertragen und leben ständig in der Angst, so schwach zu werden, dass sie in das rätselhafte "Haus am See" verlegt werden, also, im Nazi-Jargon, "ausselektiert" werden. Dies alles bleibt jedoch zu diffus und in seinen erzählerischen Mitteln zu holzschnitthaft, als dass es zu überzeugen vermöchte.
OLIVER PFOHLMANN.
Zyta Rudzka: "Doktor Josefs Schönste". Roman.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Ammann Verlag, Zürich 2009. 320 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Verstörend, schockierend und faszinierend zugleich findet Rezensent Uwe Stolzmann dieses Buch der 1964 geborenen polnischen Schriftstellerin und Psychotherapeutin Zyta Rudzka über eine alte Frau, die als Kind in die Hände des KZ-Arztes Josef Mengele fiel und glaubt, auf Grund ihrer Schönheit überlebt zu haben. Und weil sie nach jedem von Mengeles furchtbaren Versuchen in die Kamera gelächelt habe. Schockierend ist das Buch für den Rezensenten, weil er darin "die Grenzen der Ethik" verschwimmen sieht. Rudzka gelinge es in ihrem Roman psychologisch glaubhaft, das Lager Auschwitz zum "Attribut einer Kindheit" umzudeuten, zum Sehnsuchtsort einer alten Frau in einem Altersheim, das von der Autorin mit seinem sadistischen Personal und dem zynischen, autoritären Chef wie das Spiegelbild eines KZs entworfen wurde und aus dem sich die Protagonistin zurück nach Auschwitz sehne. Es sei, so der Rezensent, ein Buch ohne Happy End, ein Buch auch, das seine Leser depressiv zurücklassen könne - wäre da nicht der seltsame Eigensinn seiner Protagonistin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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